Haarscharf ist der Quasi-Exitus der Extremismusprävention in Deutschland abgewandt worden. Die Ausgabesperre, die angesichts der unsicheren Haushaltslage im Dezember 2023 verhängt wurde, hat große Befürchtungen geschürt und strukturelle Missstände von Förderlogiken sozialer Projekte in Deutschland offengelegt. Ausbleibende Zahlungen in Folge politischer Komplikationen oder aufgrund fehlender Folgeförderungen schweben permanent als Damoklesschwert über der Extremismuspräventionslandschaft in Deutschland. Dieser Zustand gefährdet die nachhaltige Zusammenarbeit von Forschung und Praxis.
In einem offenen Brief haben über 50 zivilgesellschaftliche Initiativen die vorzeitige Freigabe finanzieller Mittel gefordert und die Dringlichkeit verdeutlicht. Darunter waren Opferberatungsstellen, Antidiskriminierungsstellen und Ausstiegshilfen, vor allem vom Bundesprogramm Demokratie Leben! (BMFSFJ) geförderte Projekte. Die Einigung der Bundesregierung vom 13.12.2023 auf einen Haushaltsentwurf für 2024 ließ viele Demokratieförderprojekte aufatmen. Dennoch verdeutlicht sie die strukturellen Herausforderungen, mit denen sich die Branche konfrontiert sieht, und die Hoffnungen, die in ein neues Demokratiefördergesetz gesetzt werden.
Für wen und mit wem forschen wir?
In der Extremismusprävention/Demokratieförderung sind Forschung und Praxis eng verzahnt. Interdisziplinäre Forschung liefert Forschungsergebnisse, welche von Praktiker*innen umgesetzt werden können. Egal, ob Primär-, Sekundär- oder Tertiär-Prävention, sie alle verlassen sich auf valide Forschungsergebnisse, um ihre Arbeit adäquat und evidenzbasiert gestalten zu können. Im Gegenzug profitiert die Forschungslandschaft ungemein von der Analyse praktischer Erkenntnisse und dem Erfahrungswissen der Praktiker*innen. Ohne den Einsatz von engagierten Praktiker*innen könnte man die Bedeutung der Forschung in der Extremismusprävention möglicherweise sogar in Frage stellen, da diese ihre Wirkung vor allem dann entfalten kann, wenn sie auf praktischer Ebene implementiert wird.
Forschung und Praxis, ein „Ist-Zustand“
Dass der Bedarf an zivilgesellschaftlichen Präventions- und Demokratieförderprojekten in Forschung und Praxis hoch ist, verdeutlicht die aktuelle Studienlage (Mitte-Studie, Leipziger Autoritarismus Studie, Bertelsmann-Studie, Arendt): Fortlaufende Polarisierungen innerhalb der gesellschaftlichen Debattenkultur, als jüngstes Beispiel ist hier der Nahostkonflikt zu nennen, zeigen auf, dass in allen öffentlichen Sphären mehr Verständigung und Respekt zwischen den Lagern etabliert werden muss.
Das Programm Demokratie Leben!, welches die drei Ziele der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Prävention von extremistischen Bewegungen verfolgt, ist hier ein wesentlicher Bestandteil der Finanzierung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich auf Förderungen stützen und mit praktischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen auf Bundes-, Landes und kommunalen Ebenen agieren. Die Weiterförderung des Programms über das Jahr 2024 hinaus ist jedoch noch nicht gesichert.
Im RADIS-Forschungsnetzwerk sind zahlreiche erfolgreiche und produktive Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis zu verzeichnen. Ein beträchtlicher Teil der Praxispartner wird im Rahmen von Förderprogrammen wie Demokratie Leben! unterstützt. Somit wäre wohl auch eine große Anzahl an Praxispartner*innen der Forschungsprojekte weggebrochen, wenn der Exitus nicht im letzten Moment abgewandt worden wäre. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben hätten, wären vielfältig gewesen. Ein Ergebnis- und Erkenntnisverlust hätte sich vermutlich nicht verhindern lassen und bereits etablierte Kooperationen, die langfristig gedacht und mühsam erarbeitet wurden, hätten keine Zukunft. Insbesondere in der Tertiärprävention hätte es wohl einen starken Einfluss auf Radikalisierungsprozesse von Individuen gehabt, die sich gegenwärtig in Aussteigerprogrammen befinden, da diese nicht weiter hätten betreut werden können und die mühselig aufgebaute Beziehungsarbeit sowie das Gegenangebot, welches durch die Präventionspraktiker*innen geschaffen wurde, zerbröckelt wäre.
Dass Forschung und Praxis im Feld der Extremismusprävention eine eng verwobene und kaum zu trennende Einheit darstellen, verdeutlicht die im Folgenden vorgestellte Auswahl von Forschungsprojekten.
RADIS und die Praxispartner*innen
In der Präventionslandschaft existieren bereits seit einigen Jahren Projekte, die enge Kooperationen zwischen Praxis und Forschung beinhalten.
Dabei ist es zumeist ein langer und mühseliger Prozess für Forschende, einen Zugang zu den Forschungssubjekten und Proband*innen zu erlangen. Die untersuchten Personen sind oft vulnerablen Gruppen zuzuordnen, die sich aufgrund ständiger Furcht vor öffentlichen Anfeindungen oder staatlichen Repressionen nur selten öffentlich äußern. Im Bereich der Präventionsarbeit sind Akteure, die vor Ort tätig sind und metaphorische Türen öffnen, von entscheidender Bedeutung. Insbesondere wenn die Wahrnehmungsebene der von Diskriminierung betroffenen Gruppen erforscht werden soll, sind Interview-Formate unumgänglich. Dementsprechend sind vermittelnde Personen, wie sie zum Beispiel im Forschungsprojekt ArenDt (Auswirkungen des radikalen Islam auf jüdisches Leben) des RADIS-Netzwerkes vorzufinden sind, hilfreich. ArenDt untersucht wie jüdische Menschen antisemitische Diskriminierungserfahrungen wahrnehmen, die von islamistischen Akteur*innen ausgehen. Ebenfalls können praktische Vermittler*innen bei dem Transfer von Wissen hilfreich sein, um ein Problembewusstsein in den verschiedensten Kontexten zu etablieren. Bei der Vermittlung hilft das Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerk, das Begabtenförderwerk der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, welches ein ArenDt Praxis-Partner darstellt und Zugänge zur jüdischen Gemeinschaft ermöglicht und erleichtert. Ebenfalls ist das Netzwerk für Demokratie und Zivilcourage aktiv am Forschungsprojekt beteiligt, um die gewonnenen Forschungsergebnisse in die Gestaltung neuer Programme der politischen Bildungsarbeit sowie in die Überarbeitung bestehender Formate einzubeziehen. Dabei geht es um eine zielgruppengerechte Aufarbeitung sowie einen adäquaten Wissenstransfer, der einen Grundstein für eine funktionierende Zusammenarbeit legt. Fielen die Praxispartner*innen weg, würde sich die Forschung wohl um sich selbst drehen.
Ein weiterer wichtiger Vorteil dieser Kooperationen ist, dass sie Multidisziplinarität ermöglichen. Verschiedenste Faktoren können Einfluss auf Radikalisierungsverläufe haben Insbesondere, wenn es um Radikalisierung im Hinblick auf lokale, zumeist marginalisierte Räume geht, ist für Forschende auf Praktiker*innen zurückzugreifen, welche die individuellen Gegebenheiten des Raums, in welchem geforscht wird, kennen und kontextualisieren. Die Ergebnisse werden dann wiederum von Praktiker*innen aus der Präventionsarbeit wie auch von Sozialarbeiter*innen in dem erforschten Raum umgesetzt. Das Forschungsprojekt RadiRa (Radikalisierende Räume) setzt genau hier an und erforscht die Auswirkungen urbaner Milieus und Sozialräume auf neo-salafistische Radikalisierungsprozesse und bindet Sozialarbeiter*innen, durch Wissens-Praxis-Transfers in die Forschung ein. Stellt man sich nun vor, dass eine solche Kooperation entfällt, entfallen auch die Potenziale, die sich durch die Erkenntnisse für ebenjene urbanen Milieus und Sozialräume bieten.
Besondere Anforderungen bringt der für die Radikalisierungsprävention wichtige Sozialraum Schule mit sich. Logistische Zugänge zu Schulen und Bildungseinrichtungen müssen erst geschaffen werden, der Aufbau sozialer Bindungen muss ermöglicht werden. Hier sind zur Zeit die Respekt Coaches aktiv, die Angebote der Radikalisierungsprävention an die Schulen bringen und Workshops mit Schüler*innen veranstalten. Somit können sie als Mittler*innen zwischen Theorie und Praxis fungieren. Und auch die Respekt Coaches benötigen Fortbildungen, um Phänomenbereiche zu kategorisieren und gegebenenfalls selbst einschätzen zu können, ob weitere Unterstützung aus der Präventionspraxis notwendig ist. Sollte das Programm Respekt Coaches nun die Förderung im nächsten Jahr verlieren, wäre das eine erhebliche Schwächung der Präventionspraxis im Raum Schule.
Förderlogiken und nachhaltige Demokratieförderung
Doch auch wenn mit der vorläufigen Einigung der Bundesregierung ein kurzzeitiges Aufatmen durch die Landschaft ging, ist die Förderung über das Jahr 2024 hinaus für viele Projekte noch nicht gesichert. Das neue Demokratiefördergesetz, welches das Ende 2024 auslaufende Programm Demokratie Leben! absichern sollte, lässt auf sich warten. So droht vielen Demokratieprojekten eine Finanzierungslücke ab 2025. In diesem Demokratiefördergesetz müssen auch Förderlogiken überdacht werden. Kurzfristig gedachte Förderzyklen erschweren die nachhaltige Zusammenarbeit von Forschung und Praxis, da diese Zyklen in den überwiegenden Fällen nicht zusammen geplant werden. Eine repräsentative Befragung des DeZIM-Instituts verdeutlicht, dass eine überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich eine langfristig finanzierte Zivilgesellschaft wünscht, was wiederum konträr zu den jetzigen Förderlogiken steht. Ebenfalls sind die seit Wochen andauernden Protestversammlungen gegen Rechtsextremismus und für eine offene und plurale Gesellschaftsordnung Ausdruck eines gesellschaftlichen Wunsches, die demokratische Grundordnung zu stärken und antidemokratische Grundhaltungen einzudämmen.
Eine langfristig abgesicherte Demokratieförderung ist auch wichtig, da gerade Praktiker*innen der Präventionsarbeit auf Beziehungsarbeit bauen, die sich häufig erst über längere Zeiträume konstituiert. Dabei brauchen Projekte sowohl in der Praxis als auch in der praxisnahen Forschung Zeit zur (Ein-)Findung, Erprobung der erdachten und auf wissenschaftlicher Basis erarbeiteten Konzepte sowie zur nachhaltigen Implementierung in bestehende Strukturen. Gerade aufgrund der großen Verschränkung von Forschung und Praxis sind langfristig gedachte Förderperioden aus praktischer Perspektive genauso wichtig wie aus wissenschaftlicher. In der Prävention von Extremismus und Radikalisierung wie auch in der Demokratieförderung kann weder Forschung ohne Praxis noch Praxis ohne Forschung den gewünschten und geforderten gesellschaftlichen Mehrwert bieten.
Wichtig ist nun, aus der Situation vom Jahresende 2023 zu lernen und Konsequenzen zu ziehen. Der Stellenwert von Demokratieförderung und Extremismusprävention muss auch in politische Entscheidungen einbezogen werden. Langfristige Förderungen müssen die Regel und nicht die Ausnahme sein. Forschung und Praxis gehören zusammengedacht. All das sollte in einem ab 2025 greifenden Demokratiefördergesetz implementiert sein.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der RADIS-Blogserie: Debatten zu islamistischer Extremismus. Mehr lesen.