Frau vor Bildschirm mit Website des Uppsala Conflict Data Program, erreichbar unter https://ucdp.uu.se/
Die Daten des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) werden von Forschenden weltweit genutzt. | Foto: PRIF

Wie verlässlich sind Daten zu Todesopfern in bewaffneten Konflikten?

Viele vergleichende Studien untersuchen die Effekte von Vermittlung, Sanktionen oder militärischen Interventionen auf Dauer und Verlauf bewaffneter Konflikte. Sie nehmen dabei an, dass die verfügbaren Daten das Auf und Ab der tödlichen Gewalt über Zeit sowie Unterschiede je nach Ort hinreichend gut abbilden. Einige Arbeiten leiten aus ihren Befunden Empfehlungen für die Politik ab. Auch das jährliche Friedensgutachten nutzt die Daten eines führenden Anbieters. Dessen Angaben dienen des Weiteren dazu, die Eskalation von Auseinandersetzungen zu prognostizieren. Ihre breite Verwendung wirft die Frage auf, wie sehr man sich auf diese Konfliktdaten verlassen kann.

Das Uppsala Conflict Data Program (UCDP) hat zahlreiche Datensätze zusammengestellt, auf die weltweit viele Forscherinnen und Forscher, aber auch andere Interessierte gerne zurückgreifen. Es bietet Datensätze unter anderem zu verschiedenen Arten bewaffneter Konflikte, zur Unterstützung für Konfliktparteien von außen und zu Friedensabkommen. Im Folgenden geht es um das Georeferenced Event Dataset (GED), das in seiner aktuellen Version mehr als 300.000 Gewaltereignisse von 1989 bis Ende 2022 erfasst. In einem solchen Ereignis setzt ein organisierter Akteur bewaffnete Gewalt gegen einen anderen organisierten Akteur oder Zivilpersonen ein. Dabei kommt mindestens ein Mensch ums Leben. Die GED-Daten zerlegen so gut wie möglich Konfliktgewalt in zeitlich und räumlich abgegrenzte Ereignisse. Das erlaubt, die zeitliche und räumliche Varianz tödlicher Gewalt auch innerhalb des gleichen Konflikts zu studieren. Die Ereignisdaten sind insofern grundlegend für andere Datensätze, als sich aus ihnen ableitet, wann ein Konflikt beginnt und endet.

Die Güte des UCDP Georeferenced Event Dataset lässt sich nicht in seiner Breite prüfen. Dazu bräuchte man zu einer größeren Zahl von Konflikten einen verlässlichen Vergleichsmaßstab. Der Kosovo-Konflikt zählt zu den wenigen Fällen, die eine kritische Einordnung der UCDP-Daten erlauben, und das dank des Kosovo Memory Book, erstellt vom Humanitarian Law Centre in Belgrad und dem Humanitarian Law Centre Kosovo. Es umfasst eine namentliche Liste der Opfer des Kosovo-Konflikts samt Geburtstag, Wohnort sowie Datum und Ort des Todes. Fachleute loben die Qualität des Kosovo Memory Book. So gilt es als „remarkable example of a virtually complete list of every person killed in a modern war”. Mithilfe des Kosovo Memory Book skizziere ich im Folgenden, wie gut das Georeferenced Event Dataset die Gesamtzahl sowie die zeitliche und räumliche Verteilung der Todesopfer erfasst. Eine weit detailliertere Analyse dazu präsentiert ein frei zugänglicher Aufsatz, erschienen in der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft.

Viele Todesopfer nicht erfasst

Für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 30. Juni 1999 dokumentiert das Kosovo Memory Book rund 10.900 Opfer, die direkt durch Kämpfe oder gezielte Angriffe auf Zivilpersonen ums Leben kamen. Die besten Schätzungen im GED, auf die sich die meisten Studien stützen, summieren sich für den gleichen Zeitraum auf ca. 3.600 Todesopfer, während sich die hohen Schätzungen auf rund 8.800 Tote belaufen.

Jedes Opfer verdient es, gewürdigt zu werden. Eine Untererfassung der Todesopfer erlaubt jedoch belastbare Schlüsse zur Varianz von Konfliktgewalt, solange sie über Zeit und Raum konstant bleibt. Problematisch hingegen ist es, wenn die Opfer einer bestimmten Konfliktphase, -region oder Konfliktpartei stärker erfasst werden als andere. Das UCDP setzt sehr auf Medienberichterstattung, um Ereignisse zu identifizieren. Medien sind aber nicht zu jeder Zeit und in allen Orten des Konfliktgeschehens gleichermaßen zugegen oder verfolgen diese mit gleicher Aufmerksamkeit. Das lässt vermuten, dass die Untererfassung von Todesopfern über Zeit und Raum variiert.

Phasen der Eskalation zum Teil identifiziert

Wie das Kosovo Memory Book zeigt, gab es eine erste Gewaltspitze zwischen Juli und September 1998 mit insgesamt mehr als 1.200 Todesopfern. Diese Gewaltspitze machen nur die hohen Schätzungen, nicht aber die besten Schätzungen im GED sichtbar. Ihren Höhepunkt mit fast 8.900 Toten erreichte die Gewalt im Frühling 1999, als die NATO vom 24. März bis zum 10. Juni mit Luftangriffen intervenierte. Die UCDP-Daten spiegeln diese Eskalation zwar wider, zugleich nimmt hier die Untererfassung der Todesopfer die größten Ausmaße an. Für den April 1999 berichten selbst die hohen Schätzungen fast 1.700 Todesopfer weniger als das Kosovo Memory Book, und bei den besten Schätzungen steigt die Differenz auf rund 2.700 Tote.

Diese Untererfassung liegt auch darin begründet, dass der Anteil der von Medien berichteten Ereignisse mit der Gesamtzahl der Ereignisse zur gleichen Zeit sinkt. Zu viele Ereignisse am selben Tag überfordern die Medienberichterstattung. Das zeigt sich, wenn man die Angaben im Kosovo Memory Book in Ereignisdaten umwandelt, indem man die dokumentierten Todesfälle im gleichen Ort und zum gleichen Zeitpunkt als ein Ereignis auffasst. Im nächsten Schritt werden den so ermittelten Ereignissen entsprechende Einträge im GED zugeordnet.

Dabei tritt auch ein event size bias zutage: Je mehr Todesopfer ein Ereignis forderte, desto wahrscheinlicher wurde es von Medien berichtet und in den UCDP-Daten berücksichtigt. Aus dem Kosovo Memory Book abgeleitete Ereignisse mit mindestens 100 Toten finden sich zu drei Vierteln im GED wieder. Hingegen liegt dieser Anteil bei Ereignissen mit maximal vier Todesopfern unter zehn Prozent.

Örtliche Unterschiede der Gewalt gut erfasst

Die Kommunen im Kosovo waren nicht gleichermaßen vom Konflikt betroffen. Besonders litten Gemeinden im Westen und Südwesten, im Zentrum und Nordosten. Die UCDP-Daten, vor allem die hohen Schätzungen der Konfliktopfer, bilden die örtlichen Unterschiede erstaunlich gut ab. Reiht man die Gemeinden nach der Zahl der Todesopfer, entspricht die Rangfolge auf Basis des GED fast vollständig der auf Grundlage des Kosovo Memory Book. Gleichwohl gibt es zwei Gemeinden, zu denen selbst die hohen Schätzungen der UCDP-Daten jeweils mehr als 600 Todesopfer weniger erfassen als das Kosovo Memory Book.

Der Kosovo-Konflikt forderte Opfer auch außerhalb des Kosovos, das gilt vor allem für Serbien und Montenegro während der NATO-Intervention. Die UCDP-Daten erfassen einen viel höheren Anteil der Konflikttoten außerhalb Kosovos als der innerhalb. Wie ein Blick auf die Details dieser Ereignisse zeigt, handelte es sich hier um Opfer von Luftangriffen. Ihnen kam erhöhte mediale Aufmerksamkeit zu, da sie schwieriger abzustreiten waren und von der Regierung in Belgrad genutzt wurden, um das militärische Eingreifen der NATO zu delegitimieren.

Beobachtungsmissionen bewirkten keine erhöhte Erfassung von Todesopfern

Internationale Missionen in einem Konfliktgebiet führen erwartbar zu einer erhöhten Aufmerksamkeit ausländischer Medien. Zudem berichtet das Missionspersonal selbst über das Konfliktgeschehen. Das lässt vermuten, dass für den Zeitraum seiner Präsenz weniger Todesopfer in den UCDP-Daten unerfasst bleiben. Im Juli und Oktober 1998 wurden zwei internationale Missionen im Kosovo stationiert, die zusammen bis zu 2.000 Beobachterinnen und Beobachter stellten. Im März 1999, kurz vor Beginn der NATO-Intervention, zogen sie ab. Doch erstaunlicherweise zeigt sich kein höherer Anteil erfasster Todesopfer für die Konfliktphasen mit den Beobachtungsmissionen. Auch steigt im GED der Anteil der erfassten Todesopfer nicht mit der Zahl des stationierten Beobachtungspersonals.

Fazit: In GED we trust?

Insgesamt fällt die Bilanz gemischt bis positiv aus. Die UCDP-Daten bilden die örtlichen Unterschiede im Ausmaß tödlicher Gewalt im Kosovo gut ab. Vor allem die hohen Schätzungen im Georeferenced Event Dataset geben die Konfliktphasen mit besonders vielen Todesopfern wieder. Zudem führten Beobachtungsmissionen zu keiner erhöhten Erfassung von Konflikttoten. Dem steht gegenüber, dass gerade die besten Schätzungen deutlich zu wenig Todesopfer berichten. Ereignisse mit sehr vielen Toten finden eher Eingang ins GED als kleinere Ereignisse. Auch sinkt die Erfassung der Opfer mit der Zahl der Ereignisse zur gleichen Zeit.

Scheint in diesem Licht die Forschung, meine eigene eingeschlossen, gut beraten, so stark auf die UCDP-Daten zu setzen? Das führt auch zur Frage nach verfügbaren Alternativen, die ich hier nicht diskutieren kann. An dieser Stelle soll es genügen, den Fall Kosovo ein wenig einzuordnen. Vergleicht man die Angaben zum Kosovo mit denen im gesamten GED, zeigen sich im ausgewählten Fall besonders viele und besonders große Differenzen zwischen den besten und hohen Schätzungen. Die mit Blick auf Kosovo ermittelten Nachteile der üblicherweise genutzten besten Schätzungen fallen daher anderswo geringer aus. Zudem weisen die GED-Daten zum Kosovo einen besonders hohen Anteil von Ereignissen auf, die eben nicht zeitlich und räumlich genau aufgeschlüsselt sind. Im gesamten Datensatz machen Ereignisse, die sich über mehrere Monate erstrecken oder weite Landesteile erfassen, einen deutlich geringeren Anteil aus als in den Angaben zum Kosovo. Zu anderen Konflikten verlässt sich UCDP weniger auf Medienberichterstattung und nutzt mehr Sekundärliteratur. Des Weiteren hat sich die Qualität des GED mit der Zeit immer mehr verbessert. Insgesamt gibt es daher gute Gründe, die Konfliktdaten des UCDP zu nutzen, und das erst recht, wenn man deren Grenzen im Blick behält.

Dieser Artikel fasst zentrale Ergebnisse eines englischsprachigen Aufsatzes des Autors in der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft zusammen.

Thorsten Gromes
Dr. habil. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr habil Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

Thorsten Gromes

Dr. habil. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr habil Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

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