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Eine pragmatische Herangehensweise an Begriffe reicht aus, um wissenschaftliche Arbeit anzuleiten. | Foto: Jan van der Wolf via Pexels

Umstrittene Begriffe pragmatisch definieren: Beispiel „Islamismus“

Extremismus, Fundamentalismus, Islamismus, Islamophobie oder Islamkritik sind allesamt umstrittene Begriffe, die in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen inhaltlich unterschiedlich ausgedeutet werden. Diskussionen über solche „Kernbegriffe“ sind unerlässlich. Um gemeinsam wissenschaftlich arbeiten zu können, muss aber ein gemeinsames Verständnis über die verwendeten Begriffe und ihre Definition gefunden werden. Dieser Blogbeitrag plädiert für einen pragmatischen Umgang mit Begriffen und Definitionen und zeigt dies exemplarisch an dem Begriff „Islamismus“.

Wie heftig Kontroversen über Begriffe sein können, zeigten Auseinandersetzungen um die begriffliche Fassung der Angriffe auf Israel am 7. Oktober 2023. So gingen bei der BBC unzählige Beschwerden ein, weil sie entschieden hatte, die beteiligten Hamas-Mitglieder nicht als „Terroristen“ zu bezeichnen und ihre Gewalttaten an diesem Tag nicht als „Terrorismus“. Aus ihrer Sicht vertrug sich die Verwendung dieser Begriffe nicht mit ihrem Verständnis von Objektivität, da sie politische Wertungen transportieren und normativ aufgeladen sind.

Delegitimierung durch negativ konnotierte Begriffe

Weitere Begriffe, die im Zusammenhang mit dem 7. Oktober verwendet wurden, waren bereits zuvor Gegenstand länger anhaltender Kontroversen auch zwischen Wissenschaftler*innen. Bei ihnen ging es etwa darum, ob der Begriff „Apartheid“ in Bezug auf die von Israel kontrollierten und besetzten Gebiete im Westjordanland zutreffend ist oder ob Israels militärisches Vorgehen im Gaza-Streifen heute und in der Vergangenheit als „Genozid“ bezeichnet werden kann. Auf der anderen Seite gibt es eine Debatte darüber, ob und wann pro-palästinensische Äußerungen und Demonstrationen „antisemitisch“ sind und es sich bei ihnen überdies um „islamistische Aufmärsche“ handelt.

Solche und andere negativ konnotierte Begriffe werden nicht zuletzt auch deshalb immer wieder gewählt, um politische Gegner oder Andersdenkende abzuwerten und ihre Handlungen zu delegitimieren. Divergenzen um die angemessene Zuschreibung sind jedoch nicht allein weltanschaulich begründet oder beruhen auf politischem Kalkül, sie hängen vielmehr zugleich mit unterschiedlichen Begriffsverständnissen und -definitionen zusammen und sind auch deshalb oft nur schwer zu überbrücken.

In der Alltagssprache und in öffentlichen Diskursen können wir uns über Dinge oder Vorgänge auch verständigen, ohne sie zuvor definiert zu haben. Wir setzen vielmehr voraus, dass unser Gegenüber versteht, was wir mit den Begriffen, die wir verwenden, meinen. Wenn sich während der Unterhaltung herausstellt, dass mit den verwendeten Begriffen unterschiedliche Inhalte verbunden sein könnten, fragen wir nach: „Was verstehst du denn genau unter ‚antisemitisch‘?“, zum Beispiel. Auch wenn sich herausstellt, dass die Gesprächspartner*innen mit dem Begriff sehr unterschiedliche Dinge meinen und dass sie sich möglicherweise auch nicht auf eine gemeinsame Begriffsbestimmung oder -verwendung einigen werden, können sie ihre Debatte (darüber) unendlich lange fortsetzen.

Für ein pragmatisches Ausschlussverfahren bei der Begriffswahl

In der Wissenschaft verhält es sich anders. Hier sind Definitionen notwendig und für den Forschungsprozess unverzichtbar. Sie schließen immer bestimmte Aspekte, die sich auf das gemeinte Phänomen beziehen, ein und andere aus und konstituieren auf diese Weise erst den Forschungsgegenstand. Auch unter Wissenschaftler*innen gibt es, wie oben gesehen, unterschiedliche Ansichten darüber, welches der angemessenste Begriff ist, um das gemeinte Phänomen zu bezeichnen und welche Phänomene und Personen(gruppen) unter den verwendeten Begriff fallen. Eine ganze Reihe von Begriffen und Definitionsangeboten steht deshalb oft nebeneinander im Raum. Grundsätzlich stellt dies kein Problem dar, es wird spätestens jedoch dann zu einem, wenn Forscher*innen zum Beispiel Disziplinen übergreifend in einem gemeinsamen Projekt eng zusammenarbeiten wollen. Dann ist Pragmatismus gefragt, um überhaupt mit der wissenschaftlichen Arbeit beginnen zu können.

Welche Begriffe für ein bestimmtes Phänomen im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs verwendet werden, lässt sich nicht dekretieren. Um für ein konkretes Untersuchungsvorhaben zu einer Einigung zu gelangen, ist jedoch ein Ausschlussverfahren zweckmäßig, das Vorzüge und Nachteile unterschiedlicher Begriffe berücksichtigt und am Ende eine pragmatische Entscheidung durch die Forscher*innen ermöglicht.

Unterschiedlich belastete Beschreibungen des Islam

Für Versuche, im Namen des Islam eine Gesellschafts- und Staatsordnung herzustellen, die sich allein religiös legitimiert, ist in Deutschland der Begriff „Islam“ im politischen, sicherheitsbehördlichen und wissenschaftlichen Diskurs mit unterschiedlichen Adjektiven versehen und hierdurch problematisiert worden. Neben dem Begriff „radikaler Islam“ gibt es die Varianten „politischer Islam“ und „legalistischer Islam“ sowie „legalistischer Islamismus“. Abgesehen davon, dass diese unterschiedlichen Bezeichnungen jeweils mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten gefüllt und weiter oder enger gefasst werden, sind sie auf unterschiedliche Weise „belastet“.

Der Begriff „radikaler Islam“ wird in den letzten Jahren im angelsächsischen Raum in rechtskonservativen Diskussionszusammenhängen verwendet und dient hier häufig auch der Abwertung des Islam als Religion. Der Begriff „politischer Islam“ wiederum könnte so gedeutet werden, dass es bereits verdächtig oder unerwünscht ist, wenn Muslime sich in irgendeiner Weise politisch betätigen. Ähnliches gilt für den „legalistischen Islam“. Auch hier ist mitgedacht, dass die politischen Aktivitäten von Muslimen darauf zielen, Politik und Gesellschaft im Sinne islamischer Normen umzugestalten und den demokratischen Rechtsstaat zu untergraben, nur ohne Rückgriff auf Gewalt oder andere gesetzeswidrige Aktivitäten. „Legalistischer Islamismus“ ist eine Wortschöpfung, die der Verfassungsschutz verwendet und die dessen gesetzlichen Auftrag reflektiert. Durch ihn soll mit Blick auf staatliche Eingriffsmöglichkeiten eine Trennlinie zwischen legalen und illegalen Aktivitäten gezogen werden, er ist selbst aber unscharf.

Viele Wissenschaftler*innen und Präventionsakteure verwenden inzwischen den Begriff „Islamismus“. Anders als die anderen Begrifflichkeiten versieht er nicht das alleinstehende Wort „Islam“ mit Attributen und schafft über seine Nachsilbe eine deutlichere Unterscheidung des Islam, der von einer großen Anzahl von Menschen lediglich als Religion verstandenen und gelebt wird, von einem politischen Programm mit einer im Kern antipluralistischen und antidemokratischen Zielrichtung. Zwar ist er im Vergleich zu den anderen Begriffen weniger kontrovers und geeignet, Stigmatisierungen von Muslimen zu vermeiden. Dennoch lassen sich negative Konnotationen, mit denen der Begriff in der Alltagssprache „imprägniert“ ist, auch im wissenschaftlichen Kontext nicht vollständig abstreifen. Ein Teil der Präventionsakteure vermeidet deshalb auch diesen Begriff und bevorzugt den des „religiös begründeten Extremismus“. Gegen diesen kann jedoch eingewandt werden, dass er sehr breit ist und mehr als das gemeinte Phänomen umfasst. Nimmt man alle der hier in Erwägung gezogenen Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Begriffe zusammen, so erfasst er das gemeinte Gedankensystem und die aus ihm abgeleiteten Handlungen im Vergleich zu den anderen Begriffen noch am angemessensten. Mehr sollte nicht verlangt werden. Ihn wegen seines immer auch normativen Gehalts nicht zu gebrauchen, ist auch deshalb keine pragmatische Lösung, weil er in einem großen Forschungsfeld mittlerweile weit verbreitet ist.

Für Pragmatismus auch bei der Definition von (umstrittenen) Begriffen

Wie bei der Begriffswahl ist es auch bei dem Definitionsproblem sinnvoll, einen pragmatischen Zugang zu wählen und über Grundsatzdebatten hinauszukommen. Dazu gehört, nicht das „Wesen“ des zu definierenden Phänomens überzeitlich bestimmen zu wollen, sondern es im Sinne einer handhabbaren Arbeitsdefinition lediglich „einzukreisen“ und Raum für die Erschließung von dahinterliegenden Inhalten zu lassen.

Hilfreich bei den Überlegungen hierzu sind Ludwig Wittgensteins Ausführungen zu „Familienähnlichkeiten“, wie sie etwa bereits auch in der Terrorismusforschung Verwendung gefunden haben. Demzufolge ist es unproblematisch, wenn wir nicht über exakte Definitionen bestimmter Begriffe verfügen, um sinnvoll miteinander kommunizieren zu können: Vielmehr sind die Dinge, die wir mit einem Begriff bezeichnen, einander ähnlich, wie auch die Mitglieder einer Familie sich ähnlich sehen, auch wenn es bei Familien – das Aussehen betreffend – kein eindeutiges Merkmal gibt, etwa das einer gleichen Augen- oder Haarfarbe. Um als Mitglied einer Familie erkannt werden zu können, muss dieses nicht alle Merkmale der anderen Mitglieder aufweisen. Keines der verschiedenen Merkmale ist damit für sich allein genommen ausschlaggebend für die Erkennung der Familienmitgliedschaft – oder in unserem Falle für die Verwendung des Begriffs.

Zur Bestimmung bzw. Definition dessen, was unter „Islamismus“ verstanden werden kann, heißt dies, sich auf eine Reihe von Merkmalen zu verständigen, die jedoch nicht alle vorfindbar oder in vollständiger Ausprägung vorhanden sein müssen, um in konkreten Fällen von „Islamismus“ bzw. „islamistischen Aktivitäten“ sprechen zu können. Die Liste der Merkmale sollte zudem nicht als unveränderlich oder abschließend betrachtet und variabel an unterschiedliche Forschungskontexte angepasst werden können.

Ein Definitionsvorschlag

Wie eine solche Bestimmung der Merkmale aussehen könnte, lässt sich anhand des folgenden Definitionsvorschlags, der weitgehend dem von Armin Pfahl-Traughber folgt, verdeutlichen. Demnach meint „Islamismus“ die (1) Verabsolutierung des Islam als Lebens- und Staatsordnung, wobei (2) nicht die Volkssouveränität, sondern eine vorgegebene göttliche Ordnung als Legitimationsgrundlage dient, ferner (3) zusätzlich eine homogene und identitäre Gesellschaftsordnung angestrebt wird sowie (4) die Durchdringung und Steuerung der Gesellschaft im Namen des Islam. Weitere Merkmale sind (5) die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates sowie (6) potenziell Fanatismus und Gewaltbereitschaft. Liegt auch das zuletzt genannte Merkmal vor und wird ihm besonderes Gewicht beigemessen, kann der Oberbegriff „Islamismus“ durch die Subkategorie „Dschihadismus“ spezifiziert werden.

Eine solche pragmatische Herangehensweise vermeidet immer wieder neue grundsätzliche Auseinandersetzungen um eine Bestimmung des „Wesens“ des gemeinten Phänomens und reicht aus, die wissenschaftliche Arbeit anzuleiten (und auch dafür, in politischen Debatten Orientierung zu bieten). Diskussionen um die historische Verortung und Bedingtheit von Begriffen und ihre Definition, Fragen um ihren möglicherweise exkludierenden oder diskriminierenden Charakter können und müssen geführt werden, aber früher oder später ist eine Verständigung nötig, um mit der Forschung beginnen zu können.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der RADIS-Blogserie: Debatten zu islamistischer Extremismus. Mehr lesen.

Martin Kahl

Martin Kahl

PD Dr. Martin Kahl ist Stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und leitet dort den Forschungsbereich „Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit“. Er koordiniert das vom BMBF finanzierte Forschungsprojekt „KURI – Konfigurationen von gesellschaftlichen und politischen Praktiken im Umgang mit dem radikalen Islam“. // PD Dr Martin Kahl is Deputy Director of the Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg (IFSH), where he leads the research area “Societal Peace and Internal Security”. He coordinates the BMBF-funded research project “Configurations of social and political practices in dealing with radical Islam (KURI)”.

Martin Kahl

PD Dr. Martin Kahl ist Stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und leitet dort den Forschungsbereich „Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit“. Er koordiniert das vom BMBF finanzierte Forschungsprojekt „KURI – Konfigurationen von gesellschaftlichen und politischen Praktiken im Umgang mit dem radikalen Islam“. // PD Dr Martin Kahl is Deputy Director of the Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg (IFSH), where he leads the research area “Societal Peace and Internal Security”. He coordinates the BMBF-funded research project “Configurations of social and political practices in dealing with radical Islam (KURI)”.

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