Jugendliche stehen in dem Ruf, besonders radikal zu sein. Medial erregt derzeit die Studie „Jugend in Deutschland“ Aufmerksamkeit, in der sich ein Rechtsruck junger Menschen ablesen lässt. Auch die Debatten um „Krawallnächte“, in denen Jugendliche sich zu Hochzeiten der COVID-19 Pandemie eskalative Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten oder Diskurse über Jugendliche, die ins Ausland reisen, um sich der Terrormiliz „Islamischer Staat“ anzuschließen, prägen das Bild einer „radikalen“ Adoleszenz. In diesem Beitrag zeichnen wir eine doppelte Belastung aus den allgemeinen Herausforderungen des Heranwachsens und den spezifischen gesellschaftlichen Spannungen für Jugendliche nach. Wir erläutern, inwieweit sich aus dieser Doppelbelastung Radikalisierungspotenziale ergeben.
Im Folgenden illustrieren wir die These, dass die Phase der Adoleszenz insbesondere unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen besonders krisenhaft und damit auch besonders anfällig für Radikalisierungsprozesse ist. Zwar beinhaltet die Adoleszenz per Definition bestimmte Entwicklungsaufgaben, die auch als persönliche Krisen erlebt werden können. Dennoch ist die Phase immer auch von den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen geprägt, wodurch sich das Krisenerleben auf Entwicklungs- und Gesellschaftsebene wechselseitig verstärken kann.
Der Begriff „Krise“ kann als eine zeitlich begrenzte und nicht intendierte Abweichung vom Normalzustand verstanden werden. Dabei wird der Begriff in diesem Beitrag sowohl für die Beschreibung gesamtgesellschaftlicher Phänomene genutzt (z.B. Coronakrise) als auch in seiner psychologischen Bedeutung als Beschreibung eines innerpsychischen Erlebens. Eine psychische Krise zeichnet sich durch ein anhaltendes Gefühl der Überforderung durch erhöhte Anforderungen aus, für welche die eigenen Bewältigungsressourcen nicht auszureichen scheinen. Aufgrund der Wahrnehmung mangelnder Bewältigungskompetenz werden Anforderungen als bedrohlich statt herausfordernd erlebt. Die Quellen dieser wahrgenommenen Überforderung können in den gesellschaftlichen Dynamiken (z.B. politische Polarisierung), dem direkten Umfeld (z.B. Veränderung der Familienbeziehung) oder auch in der Person selbst liegen (z.B. Ansprüche an die eigene Leistungsfähigkeit). Wichtig ist jedoch, dass sich diese Ebenen in ständiger Wechselwirkung befinden, da sich gesellschaftliche und individuelle Krisen überlagern.
Wir unterstreichen unsere Kerngedanken mit exemplarischen Äußerungen aus sechs Gruppendiskussionen, die wir im Zeitraum von März 2022 bis Oktober 2023 mit jungen Erwachsenen zwischen 18 und 21 Jahren geführt haben. Beispielhaft nennen wir Bewältigungsversuche der jungen Erwachsenen im Umgang mit Problemlagen und zeigen mögliche Radikalisierungspotenziale in diesen Bewältigungsversuchen auf. Diese Studie fand im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „RIRA – Radikaler Islam versus Radikaler Anti-Islam“ statt, welches die Auswirkungen gesellschaftlicher Polarisierung und wahrgenommener Bedrohungen auf Radikalisierungsprozesse untersucht.
„Radikalisierung“ beschreibt einen Prozess, in dem radikale Positionen entwickelt werden. Auch wenn innerhalb der wissenschaftlichen Debatte nach wie vor kein Konsens darüber besteht, was mit dem Begriff des „Radikalen“ genau gemeint ist, so kann doch festgehalten werden, dass es eine Gegenkategorie zum Normalen, Moderaten oder (in manchen Fällen auch) Legalen darstellt. Die Bestimmung des Radikalen bzw. der Radikalisierung ist damit eine normative Frage und setzt eine Normalitätsvorstellung als Referenzpunkt voraus, von dem aus dann der Grad der Abweichung (d.h. der Radikalität) bestimmt werden kann. Normalitätsvorstellungen sowie Vorstellungen von hinreichender Abweichung variieren und sind immer auch das Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse. In liberalen Demokratien werden etwa die Beteiligung am gewaltlosen demokratischen Prozess und Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -gläubigen als Normen gesetzt und hinreichende Abweichungen von diesen Normen folglich als „radikal“ definiert.
Die Radikalisierungsspirale
Radikalisierungsprozesse gehen mit einer zunehmenden Abschottung der eigenen Position gegenüber den Normen des gesamtgesellschaftlichen Diskurses und der zunehmenden Hinwendung zu den Normen der eigenen Gruppe einher. Da Gruppen die Funktion haben, eine Ressource der Krisenbewältigung zu sein, wird die Tendenz der Gruppenbindung insbesondere dann verstärkt, wenn der wahrgenommene Druck durch Krisen ansteigt und für Einzelpersonen überwältigende Formen annimmt. In den letzten Jahren hat sich in Deutschland gesamtgesellschaftlich eine vertiefte Distanz zwischen verschiedenen sozialen Gruppen manifestiert, die sich zunehmend voneinander abgrenzen. Diese wachsende Polarisierung spiegelt sich in den Diskurslinien entlang multipler Krisen und Konflikte (z.B. Coronakrise, Klimakrise, Kriege, Inflation) wider, die oft als unversöhnlich wahrgenommen und von dem Gefühl begleitet werden, von der jeweiligen Gegengruppe bedroht zu sein. Vorurteile werden verstärkt und die Gräben vertieft. Insbesondere die (gefühlte) Bedrohung durch den „radikalen Islam“ schafft eine Plattform für einen Prozess potenzieller Radikalisierung in der deutschen Gesellschaft, der sich spiralförmig abzeichnet. Je radikaler eine Gruppe (z.B. Islamisten) zu werden scheint, desto bedrohlicher wirkt sie auf andere Gruppen, die sich in Reaktion auf die bedrohliche Gruppe ebenfalls radikalisieren können. Auf diese Weise kann ein Teufelskreis der Radikalisierung und Gegenradikalisierung („Co-Radikalisierung“) entstehen. Jugendliche sind besonders anfällig, in die Radikalisierungsspirale hineingezogen zu werden, da sie sich in einer Lebensphase befinden, die ohnehin anfällig für Krisenerleben ist.
Krise als Grundton der Jugend?
Die Jugend ist eine Phase rasanter körperlicher und mentaler Umbrüche. Der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter zeichnet sich durch verschiedene Einschnitte und Veränderungen im Leben von Jugendlichen aus. In unseren Gruppendiskussionen stehen dabei häufig Schwierigkeiten im Übergang von der Schule in die Ausbildung, das Studium und das Arbeitsleben im Fokus. Die schier unüberschaubare Menge an Optionen, die den jungen Erwachsenen zur Verfügung steht, wird einerseits als Chance, andererseits als Überforderung empfunden. Der gefühlte Druck, die möglichst optimale Wahl zur Selbstverwirklichung und Zukunftssicherung zu treffen, ist hoch. Ein Teilnehmer einer Gruppendiskussion beschreibt die damit einhergehende Gleichzeitigkeit von Freiheit und Orientierungslosigkeit folgendermaßen:
„Wo wir unseren Abschluss alle gemacht hatten, da wurde man irgendwie glücklicherweise in irgendne freie Welt reingeschmissen, wo man nicht wirklich wusste, wo vorne und hinten ist und wo man anfangen soll.“
Gleichzeitig findet in der Adoleszenz auch ein Ablösungsprozess vom Elternhaus statt. Da sich die Jugendlichen zunehmend neue und eigene Räume erschließen, erscheint es in geringerem Maße als richtungsweisende Instanz und schutzgebender Rückzugsort. In den neu erschlossenen Räumen können die Eltern auch deshalb kaum Orientierung anbieten, da die Jugendlichen durch sich rasant verändernde gesellschaftliche Bedingungen, z.B. fortschreitende Digitalisierung und die wachsende Bedeutung von sozialen Medien, eine andere Lebensweise erwartet als die der Eltern. Das kann Unsicherheitsgefühle beim Erwachsenwerden weiter verstärken.
Aktuelle gesellschaftliche Krisen
Zusätzlich zu dem Krisenerleben, welches sich aus der Entwicklungsaufgabe des Erwachsenwerdens ergibt, zeigte sich in unseren Gruppendiskussionen die große Relevanz aktueller Krisenereignisse im (medial vermittelten) Weltgeschehen. Im Erhebungszeitraum wurden besonders häufig die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine thematisiert. Diese globalen Erschütterungen werden als konkrete und unmittelbar einschneidende Belastungen des eigenen Lebens benannt. Internationale Krisen scheinen ungebremst bzw. ungefiltert in die eigene Lebenswelt und die persönliche Lebensgestaltung der Jugendlichen hineinzuwirken. Dadurch wird die Planbarkeit, Vorhersehbarkeit und Gestaltbarkeit einer ohnehin herausfordernden Übergangsphase erschwert, was als Kontrollverlust erlebt werden kann:
„Es ist halt sehr viel Unsicherheit, die einem so unmittelbar bevorschwebt, also generell so’n bisschen so durchs jetzt Leben zu kommen, ohne direkt diesen Plan zu haben, weil der Plan könnte scheitern, wenn du dir vornimmst, okay, ich mach jetzt diesen Job und dann ist man darauf irgendwie vorbereitet und dann kommt zum Beispiel die Pandemie.“
Versuche der Bewältigung des Krisenerlebens
Der Druck, aus den gesellschaftlichen Freiräumen das Beste zu machen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und das eigene Leben bestmöglich zu gestalten, löst bei Adoleszenten bedrohliche Gefühle der Unsicherheit und des Kontrollverlustes aus. Dies wird durch die konkrete Krisenerfahrung weiter verstärkt. Beim Versuch, diese bedrohlichen Gefühle zu bewältigen, greifen die Teilnehmer*innen unserer Gruppendiskussionen auf unterschiedliche bewusste und unbewusste Strategien zurück, auf die wir im Folgenden kurz eingehen.
Sehnsucht nach einem Kollektiv
Ein Motiv, das sich in unserer Analyse besonders herauskristallisierte, ist der Wunsch nach Gemeinschaft und Zusammenhalt. In diesem Wunsch nach Zugehörigkeit zu positiven und stark erlebten Kollektiven drückt sich auch das Bedürfnis nach Nähe, Selbstwert, Sicherheit und Handlungsfähigkeit aus. Krisenzeiten können diese Sehnsucht noch verstärken. Deutlich wird dies etwa, wenn ein Teilnehmer die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich mit der deutschen Protestkultur vergleicht:
„Wenn du das mit Deutschland vergleichst, ich weiß nicht- das so’n Mentalitätsunterschied, so in den letzten Jahren diese Proteste, also da werden Entscheidungen getroffen und das wird irgendwie alles so runtergeschluckt, aber ich finde, dass es in Deutschland wenig Protestkultur gibt in größerem Umfang. Da [in Frankreich] vereinen sich die Leute in allen Lagern, egal ob links, rechts irgendwas und die protestieren einfach gemeinsam, weil sie ein Problem mit einer Sache ham.“
Die Sehnsucht nach einem geeinten Kollektiv, welches sich gegen ungerechte Zustände effektiv zur Wehr setzt, steht dem Eindruck von zunehmender Vereinzelung, Isolation und fehlender gegenseitiger Unterstützung entgegen.
Rückzug oder „nach innen gerichtete Bewältigung“
Eine häufig genannte Reaktionsweise im Umgang mit unangenehmen, bedrohlichen Gefühlen ist der soziale und mediale Rückzug und das Meiden von Reizen und Informationen, die diese Gefühle wieder auslösen könnten. Beispielsweise berichtet eine Teilnehmerin, dass sie sich aufgrund der vielen negativen Nachrichten mittlerweile kaum noch mit dem Ukrainekrieg beschäftige:
„Mich macht das halt extrem traurig, wenn ich sowas lese und ich denk’ mir, ich kann ja auch nicht helfen, was soll ich denn machen, also man fühlt sich halt einfach hilflos und deswegen beschäftige ich mich auch nicht mehr so viel damit.“
Rückzug und Abschottung in Folge von Ohnmachts- und Überforderungsgefühlen wird von unterschiedlichen Teilnehmer*innen im Kontext verschiedener gesellschaftlicher Krisenphänomene berichtet.
Die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Weltgeschehen wird wiederholt als unlösbare Aufgabe und Bedrohung der eigenen psychischen Gesundheit geschildert. Anstatt das innere Unbehagen proaktiv durch Handlungen und Veränderungen in der äußeren Welt zu reduzieren, entziehen sich einige Jugendliche den negativen Reizen und schotten sich von den bedrohlich erlebten Aspekten der äußeren Realität ab.
Auseinandersetzung oder „nach außen gerichtete Bewältigung“
Dem entgegengesetzt stehen „nach außen gerichtete Bewältigungsstrategien“, welche die Auseinandersetzung mit den wahrgenommenen Problemlagen intensivieren, um mögliche Lösungswege zu entwickeln. So werden in einer Gruppendiskussion politische Lösungsansätze für verschiedene Problemlagen diskutiert, darunter gesetzlich geregelte Strafen bei ausbleibender Zivilcourage oder ein Tempolimit auf Autobahnen gegen hohen Schadstoffausstoß durch Autofahrer*innen. Dabei imaginieren sich die Teilnehmer*innen in die Position von machtvollen Entscheidungsträger*innen und haben stellenweise große Freude daran, neue Regeln und dazugehörige Strafen zu diskutieren:
„Wenn man zehn über hundertdreißig ist, muss man richtig Batzen Geld zahlen, wirklich richtig viel“.
An der gegenwärtigen politischen Problembearbeitung wird dagegen häufig Kritik geäußert. So zeigt sich eine Teilnehmerin frustriert darüber, dass durch ständige Aushandlung und Kompromissbildung zwischen den Regierungsparteien zu wenig von den ursprünglichen Vorsätzen übrigbliebe. Auf diese Weise, so die Teilnehmerin, werde man Krisensituationen mit hohem Handlungsdruck, wie dem Klimawandel, nicht gerecht.
Krisen und Radikalisierungspotenziale
Wir haben beispielhaft einige Formen des Umgangs mit Ohnmacht, Unsicherheit und dem Gefühl des Kontrollverlustes in der krisenhaften Phase der gegenwärtigen Adoleszenz aufgezeigt. Inwieweit zeigt sich darin ein Radikalisierungspotenzial? Eindeutige Belege für eine beginnende Radikalisierung lassen sich in unseren Gruppendiskussionen nicht finden, wenn wir die Normen liberaler Demokratien als Maßstab anlegen. Dennoch lohnt es sich, sowohl den Wunsch nach einem starken Kollektiv, die imaginierte Bestrafung von „Regelbrechern“, die Sehnsucht nach effektiverem Regieren, aber auch die Abschottung und den Rückzug in eine eigene, überschaubare Welt als mögliche Potenziale von Radikalisierung zu diskutieren. Zwar können die zugrundeliegenden Bedürfnisse auch zu einem gewissen Grad im Rahmen wahrgenommener Normen und Normalitätsvorstellungen des gesellschaftlichen Mainstreams ausagiert werden und dann, aus Sicht dieses Mainstreams, als nicht radikalisiert gelten. Aber auch radikale Gruppen können an diese und ähnliche Bedürfnisse (z.B. nach mehr Bestätigung, mehr Gewissheit und mehr Kontrolle) andocken. Gleichzeitig sollte der Blick immer auch auf „das Normale“ gerichtet werden, das unter krisenhaften gesellschaftlichen Bedingungen einen moderaten Kurs verlassen kann und sich damit – wenn Radikalisierung nicht nur als Abweichung der Mehrheit, sondern auch als Abweichung vom Moderaten verstanden wird – radikalisiert.
Wie radikal darf oder soll Jugend sein?
Die Suche nach Bewältigungsformen für das in diesem Beitrag nachgezeichnete Krisenerleben kann mit einer Infragestellung gesellschaftlicher Normen und demokratischer Aushandlungsprozesse einhergehen, insbesondere wenn diese als nicht zielführend erscheinen und wenn aus der individuellen Ohnmacht in der Hinwendung zu Gruppen mit klaren Feindbildern ein Gefühl der Ermächtigung erwächst – ein Versprechen, das besonders durch rechte und islamistische Gruppen artikuliert wird. Insofern sehen wir in den hier aufgezeigten Bewältigungsstrategien von Jugendlichen im Umgang mit alterstypischen, aber auch gesellschaftlichen Krisen durchaus Anknüpfungspunkte für Radikalisierungsprozesse. Gleichzeitig müssen gesellschaftliche Normen immer wieder demokratisch ausgehandelt und hinterfragt werden. Demokratisierung sollte ein Prozess der offenen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten und unterschiedlichen Interessen sein. In diesem Sinne lässt sich Radikalisierung auch als ein Ausdruck der mangelhaften Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte begreifen. Sie verweist auf die Defizite der Normalität. Das führt zu der Frage, ob es nicht an manchen Stellen tatsächlich eine Bereitschaft zu radikalen Veränderungen braucht („radikal“ hier verstanden als Veränderungen der Normalität mit demokratischen Mitteln), um den Krisenlagen der Welt angemessen und aktiv zu begegnen, und welche gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen Jugendliche dafür brauchen, dass diese Bereitschaft nicht mit Abschottung und Feindbildkonstruktion einhergeht.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der RADIS-Blogserie: Debatten zu islamistischer Extremismus. Mehr lesen.