Demonstration mit Banner, auf dem steht "AfD" und Plakat, auf dem steht "Nein zur Hetze gegen Muslime"

Islamistische Radikalisierung, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus: Eine neue Blogserie greift aktuelle Debatten rund um Islamismus in Deutschland auf

Reaktionen in Deutschland auf den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober zeigten auf drastische Weise, dass extremistische, antisemitische und antimuslimische Haltungen hier weit verbreitet und mutmaßlich tief verwurzelt sind. Infolge des Angriffs ist ein massiver Anstieg antisemitischer Äußerungen, Straf- und Gewalttaten sowie eine deutliche Zunahme von antimuslimischem Rassismus und damit zusammenhängender Taten zu beobachten. Diese Tendenzen werden durch den verengten und stark polarisierten Diskurs, insbesondere in den sozialen Medien, weiter verstärkt. Unsere neue Blogserie liefert Analysen, die über die jüngsten Ereignisse hinaus dabei helfen, aktuelle gesellschaftliche Dynamiken rund um Islamismus und Radikalisierung zu verstehen und damit umzugehen.

Rassistische, nationalistische und chauvinistische Weltbilder sind längst nicht mehr radikalen Gruppen vorbehalten, sondern finden auch in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ Anklang. Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 zeigen etwa, dass die Ablehnung von Muslim*innen in Ostdeutschland im Vergleich zu 2020 deutlich angestiegen ist. Laut dem Bericht des unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit des Bundesministeriums für Inneres und Heimat stimmt ca. jede*r Zweite in Deutschland muslimfeindlichen Aussagen zu und auch die Ergebnisse der kürzlich vorgestellten Mitte-Studie 2023 spiegeln den starken Anstieg rechtsextremer und fremdenfeindlicher Einstellungen wider. Ein Zusammenhang mit dem Aufstieg der AfD, die antimuslimischen Rassismus in ihren Parteiprogrammen propagiert und in mehreren Bundesländern zu den stärksten Parteien zählt, liegt auf der Hand – nicht erst seit den Landtagswahlen in Hessen und Bayern Anfang Oktober.

Der jüngste öffentliche Diskurs zum Nahost-Konflikt scheint zusätzlich eine Lagerbildung zu begünstigen, durch die sich Jüdinnen und Juden bedroht und Muslim*innen mehr denn je isoliert, verurteilt und stigmatisiert fühlen. Welche Folgen haben diese Entwicklungen für das Framing von Muslim*innen und das Schaffen oder Begrenzen ihrer Handlungs- und Ausdrucksräume? Und welche Auswirkungen kann das auf ihre Selbstwahrnehmung, Einstellungen und potenzielle Radikalisierung haben? In der neuen Blogserie beleuchten Expert*innen aus dem RADIS-Forschungsnetzwerk diese und weitere Fragen. Die Beiträge befassen sich mit drei Themenfeldern: 

  1. Islamismus, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus in Deutschland und ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Polarisierung. 
  2. Jugendliche im Blick: Krisenerleben und Bewältigungsstrategien im Zusammenhang mit Radikalisierungspotenzialen und die besondere Rolle von Schulen in der Prävention.
  3. Herausforderungen für Wissenschaftler*innen, die sich im Spannungsfeld zwischen Begriffsdebatten, methodischen Fragen, ethischer Verantwortung und persönlicher Sicherheit bewegen.

Radikalisierung und Co-Radikalisierung: Ein Wechselspiel

Die Dynamik zwischen islamistischer und islamfeindlicher Radikalisierung ist eine der derzeit zentralen Fragen des Forschungsfelds. Inwiefern beeinflussen sich diese Prozesse wechselseitig und wie tragen aktuelle Diskurse dazu bei? Zwischenergebnisse aus dem RADIS-Netzwerk zeigen, dass extremistische Ideologien sich gegenseitig anstecken und beeinflussen und sich dabei teils ähnlicher Versatzstücke bedienen. Als ein zentrales Brückennarrativ wird der Antisemitismus genannt, der in islamistischen wie in rechtsextremen Kreisen und auch in Teilen der politischen Linken vorherrscht. 

Doch was trägt zum „Teufelskreis“ der Co-Radikalisierung bei? Auf der einen Seiten stehen soziale Medien in der Kritik, diese Prozesse zu intensivieren, indem sie Echo-Kammern schaffen und nach dem Prinzip „mehr vom Gleichen“ durch ihre Algorithmen polarisierende Inhalte fördern. Auf der anderen Seite sehen sich insbesondere Muslim*innen mit rassistischen Anfeindungen, Bedrohungsgefühlen, Diskriminierungswahrnehmungen und der Sorge vor rassistischer Gewalt konfrontiert, auf die sie teils mit einer extremen Haltung reagieren. Eine Folge sind exklusive Gemeinschaftskonzepte, die die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und Prozesse der Co-Radikalisierung begünstigen, insbesondere dann, wenn aktuelle Ereignisse und hitzige Debatten die eigenen Wahrnehmungen vermeintlich oder tatsächlich bestätigen.

Jugendliche im Blick: Mobilisierung, Bedrohungsgefühle und Bewältigungsstrategien

Speziell Jugendliche sind potenziell gefährdet, sich unter solchen Bedingungen zu radikalisieren. Das zunehmend angespannte soziale Klima und die Konfrontation mit eigenen Bedrohungsgefühlen bergen neben alterstypischen Problemen besondere Risiken und beeinflussen individuelle und soziale Bewältigungsstrategien. Neben der Familie und dem direkten sozialen Umfeld spielen insbesondere Schulen hier eine entscheidende Rolle, sowohl bei der Entstehung als auch bei der Prävention von Radikalisierungstendenzen. In Zeiten komplexer und emotional aufgeladener politischer Debatten, die auch an Schulen geführt werden, können vorschnelle Radikalisierungsverdachte zusätzlich zur Stigmatisierung und Polarisierung beitragen. Stattdessen braucht es eine offene und wertschätzende Diskussionskultur sowie Präventionsansätze, die die Ansichten junger Menschen respektieren und sie in ihren analogen und virtuellen Lebenswelten erreichen. Denn Diskurse werden mehr denn je online geführt, und auch islamistische Propaganda, die gezielt Jugendliche anspricht, lebt von digitalen Plattformen und sozialen Netzwerken. Besondere Bemühungen sollten zudem in der kommunalen Präventionsarbeit, im Bildungssektor und in der Jugendhilfe unternommen werden. Obwohl bestehende Netzwerke und Beratungsstellen bereits wertvolle Arbeit leisten, bedarf es einer stärkeren und nachhaltig finanzierten lokalen Präventionsstruktur, die auch die politische Bildung und den Umgang mit sozialen Medien miteinbezieht.

Herausforderungen des Forschungsfelds zwischen Sicherheit und Verantwortung

Wissenschaftler*innen stehen vor wichtigen Fragen über Ethik, Verantwortung und Sicherheit in gesellschaftspolitisch sensiblen Feldern. Wie kann gewährleistet werden, dass sie sich nicht ungewollt in gefährliche Situationen begeben oder gar ins Visier extremistischer Gruppen geraten? Und wie können entsprechende Schutz- und Unterstützungsstrukturen aussehen? Insbesondere, da wissenschaftliche Debatten längst Einzug in soziale Medien gefunden haben und persönliche Informationen gleichzeitig leichter denn je auffindbar sind, wird Eigenschutz ein zunehmend wichtiges Thema. Die physische Gefahr ist dabei nur eine Facette, denn die psychische Belastung, die mit der intensiven Auseinandersetzung mit radikalem Gedankengut oder extremen audio-visuellen Inhalten einhergeht, darf nicht unterschätzt werden. Zusätzlich schwierig kann es werden, wenn Forschende Identitätsmerkmale aufweisen, die sie besonders vulnerabel machen. So kann beispielsweise eine eigene muslimische Identität die wissenschaftliche Arbeit im Feld der Islamismusforschung einerseits bereichern. Andererseits besteht das Risiko, persönlichen Anfeindungen ausgesetzt zu sein, sowohl von Seiten islamistischer als auch muslimfeindlicher Akteure. In Zeiten von vermehrtem antimuslimischem Rassismus ist das eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. 

Über Islamismus sprechen – aber wie?

Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus den Debatten darüber, wie bestimmte Kernbegriffe in der Forschung verwendet werden und wirken. Wie können Schlüsselbegriffe, darunter „Islamismus“ und „Radikalisierung“, definiert und verwendet werden, um das Phänomen einerseits angemessen abzubilden und andererseits Stigmatisierungen zu vermeiden?

Begriffsdebatten sind komplex, weil sie durch unterschiedliche Kontexte und disziplinäre Perspektiven geprägt sind. Obwohl beispielsweise oft angenommen wird, dass Islamismus zwangsläufig mit einer extremistischen und gewaltaffinen Haltung einhergeht, verfolgen einige Islamist*innen ihre Ziele, ohne zur Gewalt zu greifen. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Radikalisierung“. Während einige – in der Wissenschaft wie außerhalb – damit eine wachsende Neigung zur Gewalt verknüpfen, die unter allen Umständen bekämpft werden muss, sehen andere sie primär als Abkehr von etablierten Normen, die unabhängig von gewalttätigen Absichten sein kann und nicht per se problematisch sein muss. Doch wie können wir dann wissen, ob wir über das Gleiche sprechen? Wie lassen sich Begriffe, so umfassend, nuanciert und differenziert sie sein mögen, in erforschbare und diskutierbare Konzepte überführen? Geht man einen Schritt weiter, stellt sich zudem die Frage, welche Rolle Wissenschaftler*innen im gesellschaftspolitischen Diskurs spielen und inwiefern sie durch Themensetzung oder Begriffsverwendung dazu beitragen.

Angesichts dieser Rollenfrage gilt es, Uneinigkeiten bezüglich der Begrifflichkeiten zu überbrücken, um die lähmenden und bisweilen unproduktiven Begriffskonflikte zu überwinden. Ein gewisses Maß an konzeptioneller Vielfalt kann dabei durchaus produktiv sein und im Sinne einer disziplinenübergreifenden und an gesellschaftlicher Problemlösung orientierten Perspektive fruchtbar gemacht werden. Dies erfordert zwar keine konzeptionelle Einigkeit, wohl aber ein gegenseitiges Verständnis und eine fundierte Kenntnis der kulturellen und sozialen Kontexte, in denen Begriffe angewendet werden. Nur so können alle Facetten dieses komplexen Forschungsfelds beleuchtet und verstanden werden.

In der RADIS-Blogserie diskutieren Expert*innen des RADIS-Forschungsnetzwerks diese und weitere zentrale Fragen rund um Islamismus in Deutschland und zeigen aktuelle Dynamiken und Komplexitäten des Phänomens auf. 

*Diese Blogserie erscheint im Rahmen des vom PRIF koordinierten Projekts „RADIS – Begleit- und Transfervorhaben Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) organisiert und begleitet RADIS den Wissenstransfer innerhalb einer Förderlinie des BMBF, aber auch zwischen Wissenschaft und Fachpraxis sowie in den politischen Raum.

Shaimaa Abdellah

Shaimaa Abdellah

Shaimaa Abdellah ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Transferprojekt RADIS im Programmbereich „Transnationale Politik“ am PRIF. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die islamistische Radikalisierung in Deutschland und Europa. // Shaimaa Abdellah is a Research Associate in the RADIS transfer project at PRIF‘s Research Department "Transnational Politics". Her main area of focus is Islamist radicalization in Germany and Europe.
Sina Tultschinetski

Sina Tultschinetski

Sina Tultschinetski ist Projektkoordinatorin des Transferprojekts RADIS im Programmbereich „Transnationale Politik“ am PRIF. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Extremismus und Radikalisierung in Deutschland und Europa. // Sina Tultschinetski is a Project Coordinator of the transfer project RADIS at PRIF’s Research Department “Transnational Politics”. Her work focuses on extremism and radicalization in Germany and Europe.

Shaimaa Abdellah

Shaimaa Abdellah ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Transferprojekt RADIS im Programmbereich „Transnationale Politik“ am PRIF. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die islamistische Radikalisierung in Deutschland und Europa. // Shaimaa Abdellah is a Research Associate in the RADIS transfer project at PRIF‘s Research Department "Transnational Politics". Her main area of focus is Islamist radicalization in Germany and Europe.

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