Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wird die Praxis der Extremismusprävention und Deradikalisierung in Deutschland von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren gemeinsam umgesetzt. Der Schwerpunkt zivilgesellschaftlicher Aktivitäten liegt dabei überwiegend in der pädagogischen Arbeit. Zivilgesellschaftliche Träger nehmen in Deutschland eine vergleichsweise herausragende Stellung ein und sind fester Bestandteil der Strategie zur Extremismusbekämpfung. Nichtsdestotrotz wird die konkrete Arbeit der Extremismusprävention von den Sicherheitsbehörden zuallererst als Teilaspekt einer breiter angelegten Sicherheitspolitik angesehen. Effektive und nachhaltige pädagogische Arbeit wird meist als zweitrangig betrachtet und dem sicherheitsbehördlichen Blickwinkel untergeordnet. Eine solch kurzsichtige Strategie schürt Misstrauen und kann langfristig die Integrität deutscher Extremismusprävention und Deradikalisierung gefährden.
Es gibt verschiedene Auffassungen davon, was effektive Extremismusprävention ausmacht. Das Spektrum reicht, ein sehr breites Verständnis vorausgesetzt, bisweilen von politischer Bildungsarbeit auf der einen, bis zu Repression (also u. a. Inhaftierung oder Ausweisung von Extremistinnen und Extremisten) auf der anderen Seite. Die Möglichkeiten Extremismusprävention zu betreiben, gestalten sich entsprechend vielfältig. Ebenso vielfältig ist die deutsche Präventionslandschaft, die mit Angeboten der Primärprävention (wie Fortbildungen oder Workshops für unterschiedliche Zielgruppen), Angeboten im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention (wie z.B. die Mobile Beratung durch zivilgesellschaftliche Organisationen) bis hin zu ähnlich gelagerten Angeboten von staatlichen Sicherheitsorganen (vor allem den Landesämtern und dem Bundesamt für Verfassungsschutz) eine enorme Diversität aufweist.
Unterschiede in den Handlungsorientierungen pädagogischer und sicherheitsbehördlicher Praxis
Im Rahmen des genuin sicherheitspolitischen Auftrags der Sicherheitsbehörden rückt naturgemäß auch die verhaltensmäßige Gefahrenabwehr in den Fokus der Handlungsorientierung. Erfolgreiches sicherheitspolitisches Handeln ist dabei in erster Linie durch das konkrete und direkte Ausbleiben von Straf- und v. a. Gewalttaten gekennzeichnet. Entsprechend gestalten sich die Aufgaben und Kompetenzen von Sicherheitsbehörden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige Bundesländer sicherheitsdienstliche Überprüfungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zivilgesellschaftlichen Träger fordern. Dies kontrastiert aber massiv den Arbeitsalltag der dort Beschäftigten, die in den allermeisten Fällen in rein pädagogischen Maßnahmen ohne einen sicherheitssensiblen Bezug tätig sind. Das hier suggerierte Grundmisstrauen in die Arbeit der Träger und die dort tätigen Beraterinnen und Berater kann in der Folge vermehrt zu Konflikten führen, die sich auch im Rahmen der bestehenden, punktuellen Kooperationen zwischen Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Trägern niederschlagen. Den im öffentlichen Diskurs gelegentlich geäußerten, teils demagogischen (und oft schlicht falschen) Unterstellungen von fachfremden Einzelpersonen wird in diesem Kontext oft mehr Bedeutung beigemessen, als den fachlichen Einschätzungen der Träger, die teilweise schon seit Jahrzehnten erfolgreich im Feld tätig sind.
Eine zentrale Aufgabe pädagogisch arbeitender zivilgesellschaftlicher Träger ist es, Menschen bei der Bewältigung individueller Problemlagen zu unterstützen und z. B. sie bei der Entwicklung zu selbstständig und verantwortungsbewusst denkenden und handelnden Persönlichkeiten zu unterstützen. Die Unterschiede zum Auftrag und Selbstverständnis der Sicherheitsbehörden könnten offensichtlicher nicht sein: Im Rahmen der pädagogischen Arbeit geht es darum, die Beweggründe für die bisherigen Entscheidungen und Handlungen der Personen nachzuvollziehen und Ansatzpunkte zu identifizieren, die eine Person für die Hinwendung zu Extremismen und/oder Gewaltausübung empfänglich gemacht haben. Im Anschluss daran kann mit der Person gearbeitet werden, um diese zu befähigen, sinnvolle Alternativen zu den Angeboten der extremistischen Szenen zu finden. Dass durch nachhaltige pädagogische Arbeit mit und für Menschen auch eine deutliche Reduzierung eines potenziellen Sicherheitsrisikos durch diese Personen einhergeht, ist ein positiver Nebeneffekt, nicht aber primäres Handlungsziel der Pädagoginnen und Pädagogen. Gleichzeitig sind im Rahmen der pädagogischen Arbeit in Distanzierungs- oder Aussteigerprojekten spezifische Szenekenntnisse ebenso vonnöten wie das zeitweise Aufsuchen von Szenetreffpunkten zur Herstellung eines niedrigschwelligen Kontakts zu radikalisierungsgefährdeten Personen. Erst im Dialog und auf Basis einer belastbaren Vertrauensbasis mit den Klientinnen und Klienten kann Wissen zu den jeweils relevanten Argumentationslinien und Narrativen erworben werden. In diesem Zusammenhang muss sichergestellt werden, dass die Beraterinnen und Berater keinerlei Repressionen oder Vorverurteilungen unterliegen, sodass der Prozess der angestoßenen Deradikalisierung nicht durch Ablenkung oder gar offensichtliche Überwachung beeinflusst und damit die langfristig stabilisierende pädagogische Arbeit häufig der kurzfristigen Verantwortungsabsicherung der Sicherheitsbehörden untergeordnet wird.
Risiko durch vs. Risiko für die Klientinnen und Klienten
In diesem Zusammenhang müssen auch das sicherheitsbehördliche „Risk Assessment“ und die diesbezüglichen Erwartungen an die pädagogische Praxis thematisiert werden. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass auch grundsätzlich unterschiedliche Formen der Beobachtung von „Risiken“ existieren. So haben Sicherheitsbehörden naturgemäß weniger individuelle (die Person betreffende) Risiken als vielmehr gesamtgesellschaftliche (von der Person ausgehende) Sicherheitsrisiken im Blick. Im Fall tatsächlicher Schadensereignisse, wie bspw. islamistischer Terroranschläge, sehen sich sicherheitsbehördliche Akteure selbst in verantwortlicher Position. Angesichts des für sie entsprechend hohen Risikos durch die Personen, stehen Sicherheitsbehörden unter einem enormen Handlungsdruck. Ihre Entscheidungen (vor allem auch das Unterlassen des Entscheidens) können ihnen im Nachhinein als „riskant“ und ursächlich für den gesamtgesellschaftlichen Schaden angelastet werden. Gleichzeitig endet die grundsätzliche Notwendigkeit eines „Risk Assessment“ im sicherheitsbehördlichen Verständnis dann, wenn keine Gewaltbereitschaft mehr von Individuen ausgeht, also Prozesse habitueller Distanzierung abgeschlossen sind.
Die pädagogische Praxis der Deradikalisierung fokussiert demgegenüber andere Risiken. Für sie geht es sowohl um die individuellen Risiken für die Klientinnen und Klienten, als auch die konkreten Risiken der Arbeit mit den jeweiligen Personen. Dabei steht das Risiko des Abbruchs der Kommunikation, also des Endes der Arbeitsbeziehung, an erster Stelle. Gleichzeitig müssen die individuellen Risiken der Klientin/des Klienten berücksichtigt werden: Wo bestehen in deren Lebenswelt Gefahren für erfolgreiche Selbstwirksamkeitserfahrungen, für Integration oder gesunde Identitätsbildung? Risiken bestehen also aus Sicht der pädagogischen Praxis weit über die individuelle habituelle Distanzierung, also den bloßen Gewaltverzicht, hinaus. Hier steht die individuelle kognitive Distanzierung (bzw. umfassende Deradikalisierung) im Mittelpunkt. Im Gegensatz zur sicherheitsbehördlichen Beobachtung ist eine langfristige Nachsorge im Rahmen der pädagogischen Begleitung unumgänglich. Somit wird deutlich, dass sich neben der Form der Risikobeobachtung auch vor allem die Zeitdimensionen, in denen die Risiken beobachtet werden, zwischen zivilgesellschaftlichen Trägern und Sicherheitsbehörden massiv unterscheiden. Zusätzlich bestehen auch individuelle (Sicherheits-)Risiken für die in diesem Feld tätigen Beraterinnen und Berater. Es handelt sich hier um Menschen, die sich bereit erklären, sich zum Wohle Einzelner und der Gesamtgesellschaft in einem hohen Maße zu exponieren und die massive private wie berufliche Belastungen in Kauf nehmen. Dass ein solches Engagement dann unter den Bedingungen generalisierter Vorverdächtigung stattfinden soll, ist ein fatales Signal. Dass solche im öffentlichen Diskurs bereits zu beobachtenden Prozesse auch durch Sicherheitsbehörden, die eigentlich ja Kooperationspartner sein sollen, bestärkt werden, kann nur als unverantwortlich bezeichnet werden.
Ausblick
Die unterschiedlichen Funktionslogiken, denen Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftliche Träger unterworfen sind, stehen also in mehrfacher Hinsicht in einem Spannungsverhältnis. Die Zielvorstellungen divergieren naturgemäß, wodurch sich auch die Methoden der praktischen Arbeit unterschieden und allzu oft sogar kontrastieren. Gleichzeitig werden unterschiedliche Risiken beobachtet (individuelle vs. gesamtgesellschaftliche); „Risk Assessment“ kann in diesem Zusammenhang also nicht das Gleiche bedeuten. Für eine gelingende Zusammenarbeit zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Trägern ist deshalb vor allem die Akzeptanz der jeweils unterschiedlichen Perspektiven und Herangehensweisen unerlässlich. Das beinhaltet auch, dass pauschalisierende Vorverurteilungen von Pädagoginnen und Pädagogen als potenzielle Extremistinnen und Extremisten im Sinne einer rein sicherheitsorientierten Strategie („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“) unterlassen werden müssen. Denn solche Prozesse mindern gleichzeitig auch massiv das Interesse kompetenter (und dringend benötigter) pädagogischer Fachkräfte, in diesem wichtigen Themenfeld überhaupt tätig zu werden.
Eine erfolgreiche Kooperation zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Trägern kann nur auf Augenhöhe und unter Berücksichtigung der jeweils „anderen“ Handlungsperspektiven gelingen. Denn schließlich arbeiten beide „Seiten“, sowohl die staatliche als auch die zivilgesellschaftliche, für ein gemeinsames Ziel.