Unter dem Label „Radikalisierungsprävention“ wird eine Vielzahl von unterschiedlichsten Maßnahmen gefördert. Prävention wird dabei in den verschiedensten Formen umgesetzt. Teilweise lässt sich jedoch kaum der präventive Gehalt mancher Angebote erkennen: in diesen Fällen wäre es ratsam, erst gar nicht von Prävention zu sprechen. Geboten ist dies vor allem, weil eine solche begriffliche Überdehnung die in der Präventionsrhetorik angelegten Pathologisierungen und Stigmatisierungsproblematiken unnötigerweise vervielfacht.
Bereits eine kurze Recherche unter dem Stichwort „Radikalisierungsprävention“ genügt, um zu verdeutlichen, dass momentan eine große Anzahl von pädagogischen Maßnahmen unter diesem Label gefördert wird. Auffällig ist dabei, dass sich unter dieser Kategorie höchst unterschiedliche Angebote verbergen. Nicht nur, dass verschiedene Phänomene wie Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus bearbeitet werden sollen. Darüber hinaus findet sich eine enorme Vielgestalt an Zielgruppen und Arbeitsweisen. Die Bandbreite reicht dabei von wissensvermittelnden Projekten, die mit Schulklassen arbeiten, bis hin zu Angeboten der Ausstiegsbegleitung für Angehörige rechtsextremer oder islamistisch-extremistischer Szenen. Die wesentliche Gemeinsamkeit dieser höchst unterschiedlichen Formate besteht darin, dass sie als Prävention bezeichnet werden bzw. mit präventiven Ansprüchen gefördert werden. Die Weite dieser „präventiven“ Maßnahmen wird durch die Tatsache erzeugt, dass Präventionsprogramme immer auch reichhaltige Förderquellen darstellen. Für Praxisakteure ist es daher grundsätzlich attraktiv, die präventiven Anteile der eigenen Arbeit und der eigenen Angebote zu betonen. Den politischen Akteuren, die entsprechende Programme initiieren, dienen diese wiederum auch zur Demonstration von Handlungsmacht („Wir tun etwas gegen …“). Eine Überdehnung des Präventionsbegriffs ist insofern schon strukturell angelegt. Aus fachlicher Sicht ist trotzdem oder gerade deswegen eine kritische Perspektive darauf geboten, ob die Bezeichnung „Prävention“ in allen Fällen zutreffend ist.
Zu klären ist natürlich zunächst, was überhaupt unter Prävention verstanden wird. Allgemein gesprochen ist Prävention die gezielte Vorbeugung von unerwünschten und zukünftigen Ereignissen oder Zuständen. Wie weit im Vorfeld präventiv gehandelt wird, ist klassischerweise ein wesentliches Kriterium, um verschiedene Konzepte präventiven Agierens voneinander zu unterscheiden und genauer zu bestimmen. Gerald Caplan (1964) unterschied zwischen Formen von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Primäre Prävention setzt bereits im Vorfeld des Auftretens unerwünschter Zustände an und will deren Herausbildung grundsätzlich unterbinden. Im Unterschied hierzu findet sekundäre Prävention statt, wenn bereits erste Ausprägungen des Unerwünschten vorliegen und eine (weitere) Verfestigung verhindert werden soll. In Fällen tertiärer Prävention ist das eigentlich zu verhindernde Problem schon vollständig ausgeprägt. Das präventive Streben richtet sich hier v.a. darauf, ein erneutes Auftreten zu verhindern.
Im Feld der Radikalisierungsprävention ist die gesamte Bandbreite an Möglichkeiten von Prävention vertreten. Im Bereich primärer Prävention liegen beispielsweise Angebote der politischen Bildung zu Rechtsextremismus oder islamistischem Extremismus, in denen über die jeweiligen Ideologien aufgeklärt werden. In den Bereich sekundärer Prävention lassen sich Maßnahmen einordnen, in denen z.B. mit den Mitteln der Sozialen Arbeit präventiv mit Jugendlichen gearbeitet wird, die bereits deutliche Affinitäten zu rechtsextremen oder islamistisch-extremistischen Ideologien und/oder Gruppen haben. Maßnahmen tertiärer Prävention sind beispielsweise Angebote der Ausstiegsbegleitung, in denen ausstiegswillige Mitglieder von rechtsextremen oder islamistisch-extremistischen Szenen bei ihrer Distanzierung und Deradikalisierung unterstützt werden. Aber kann hier wirklich von Prävention gesprochen werden? Oder anders: Wo genau hört Prävention denn auf? Wenn jemand bereits in rechtsextreme oder islamistisch-extremistische Szenen involviert ist, dann ist es faktisch bereits zu spät für ein „vorbeugendes“ Eingreifen. Der Verweis auf den präventiven Charakter, der darin liegt, dass die Gefahr des erneuten Auftretens verringert werden soll, trägt hier nur zum Teil. Schließlich ist es ein Hauptanliegen für Ausstiegsbegleitungen, den Prozess des Ausstiegs zu forcieren und zu unterstützen. Erst wenn dieser Prozess weit vorangeschritten ist, kann es darum gehen, den Ausstieg zu stabilisieren und Rückfallgefahren zu minimieren. Ein erneutes Auftreten zu verhindern, setzt nämlich voraus, dass das problematische Phänomen weitestgehend überwunden ist und keinen Dauerzustand darstellt. Insofern sollten Angebote der Ausstiegsbegleitung konsequenterweise nicht über die präventiven Gehalte definiert werden, die sie zweifellos haben, die aber nicht ihren Kern ausmachen. Dieser Kern liegt vielmehr in der Auseinandersetzung und Bearbeitung eines akut vorliegenden unerwünschten Zustands, nämlich einer Zugehörigkeit zu einer einschlägigen Szene und/oder einer Radikalisierung auf ideologischer Ebene.
Bereits Robert S. Gordon (1983) kritisierte an der Einteilung in primäre/sekundäre/tertiäre Prävention v.a. die darin angelegte Überdehnung des Konzepts „Prävention“. Alternativ entwickelte er eine Kategorisierung, die zwischen universellen, selektiven und indizierten Präventionsansätzen unterscheidet und dabei einen engeren Präventionsbegriff verwendet. Universelle Prävention setzt bereits vor Auftreten eines bestimmten Problems bei Zielgruppen an, die keine Auffälligkeiten oder ein erhöhtes Risiko aufweisen. Demgegenüber greifen Maßnahmen gezielter Prävention, wenn bereits Risikofaktoren erkennbar sind (selektive Prävention) bzw. sich erste Problemausprägungen zeigen (indizierte Prävention). Als Prävention gilt hier also nur etwas, an dem es auch noch etwas zu verhindern gibt, nämlich die vollständige Ausprägung des unerwünschten Phänomens.
Die Frage nach den Grenzen des Konzepts Prävention beschränkt sich aber nicht nur auf eine Art „Obergrenze“ und die Abwägung, ab wann etwas nicht mehr als Prävention gelten kann. Mindestens ebenso strittig ist, wo die „Untergrenze“ liegt bzw. ab wann etwas überhaupt schon als Prävention gelten kann. Ein enger Präventionsbegriff könnte auch hier zur kritischen Reflektion über präventive Gehalte beitragen. Die Schwierigkeit liegt nämlich v.a. darin, dass präventive Maßnahmen, die weit im Vorfeld liegen (also universeller oder primärer Prävention entsprechen) mitunter relativ unspezifisch sind und zudem große Bevölkerungsteile präventiv „behandeln“. Im Feld der Radikalisierungsprävention wird im weiten Vorfeld v.a. mit den Mitteln von Aufklärung und Sensibilisierung gearbeitet, ebenso finden sich Maßnahmen der Demokratieförderung oder auch persönlichkeits- bzw. identitätsstärkende Angebote.
Schnell einsichtig ist, dass diese Maßnahmen positive Effekte haben, die weit über die Radikalisierungsprävention hinausgehen. Im besten Fall wirken sie also auch, aber eben nicht nur, gegen Radikalisierung. So handelt es sich zumindest bei einem Teil dieser Maßnahmen z. B. eher um Maßnahmen allgemeiner Demokratiepädagogik oder zur Stärkung sozialer Kompetenz, die ohnehin Bestandteil einer gelingenden Sozialisation sind (oder sein sollten). Entsprechende Maßnahmen unter präventiven Vorzeichen zu fördern, ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen liegt hier die Gefahr einer Pathologisierung breiter Bevölkerungskreise, denn eine solche „Behandlung“ macht nur dann Sinn, wenn es hinreichend wahrscheinlich ist, dass sich diese Bevölkerungskreise radikalisieren. Zum anderen werden die umgesetzten Angebote zu Mitteln degradiert, um einen präventiven Zweck zu erfüllen. Zugespitzt formuliert könnte eines Tages außerschulische Jugendarbeit im Allgemeinen nicht mehr als selbstverständliches und wertvolles Förderinstrument gelten, sondern nur noch förderwürdig erscheinen, wenn ihre präventiven Gehalte betont werden („Offene Jugendhäuser gegen Rechtsextremismus“). Schon heute finden sich Angebote allgemeiner Integrationsarbeit mit Geflüchteten, die gefördert werden, um islamistische Radikalisierungen zu verhindern. Die geleistete Unterstützung erfolgt hier nicht mehr als Selbstzweck oder Selbstverständlichkeit, sondern aus Furcht vor Radikalisierungen. Abgesehen davon bestehen hier Stigmatisierungsgefahren, denn es werden Bilder transportiert, die Geflüchtete und islamistische Terroristen allzu leicht in eins setzen. Auch angesichts der hier aufscheinenden Stigmatisierungsproblematik ist es geboten, Präventionsrethoriken zu hinterfragen und von Prävention nur dann zu sprechen, wenn entsprechende Maßnahmen einen präventiven Kern haben. Und dies gilt für Ausstiegsbegleitungen ebenso wenig wie für integrationsunterstützende Maßnahmen.
Literatur
Caplan, Gerald 1964: Principles of Preventive Psychiatry, 5. Aufl., New York, NY.
Gordon, Robert S. 1983: An operational classification of disease prevention. Public Health Reports, Jg. 83, Heft 98 (3), 107–109.