Ouiry Sanou zum Verhalten der Parteien im aktuellen Wahlkampf: „[…] sie [verhalten] sich wie eine Mutter, die ihre Kinder mit kleinen Marionetten amüsiert, es ist nur ein Spiel.“ | Photo: flickr, Carsten ten Brink | CC BY-NC-ND 2.0

„Es gibt wirklich keine Hoffnung oder Erwartungen der Jugend an diese Wahlen.“

Im zweiten Interview der Blogreihe zu den Wahlen in Burkina Faso haben Simone Schnabel und Antonia Witt mit Ouiry Sanou gesprochen. Ouiry Sanou ist langjähriger Aktivist und Generalsekretär der burkinischen Jugendorganisation „Organisation Démocratique de la Jeunesse du Burkina Faso“ (ODJ), die sich der Einhaltung und dem Schutz demokratischer und sozialer Rechte von Jugendlichen in Burkina Faso verschreibt. Sie unterstützt außerdem die Anwohner*innen in Bergbauregionen im Kampf um Land- und soziale Rechte.

Das Interview wurde auf Französisch geführt und im Anschluss auf Deutsch und Englisch übersetzt.

Was sind Ihrer Meinung nach die Herausforderungen bei den Wahlen in Burkina Faso im Jahr 2020? Warum sind sie so wichtig?

Allgemein gesprochen, glauben viele junge Menschen in Burkina Faso überhaupt nicht an diese Wahlen. Offen gesagt, glaube ich nicht, dass die Wahlen am 22. November das Land aus der gegenwärtigen Situation herausführen können, und zwar deswegen, weil die an den Wahlen beteiligten politischen Kräfte keine wirklichen Alternativen für die sozialen Sorgen und Anliegen der Bevölkerung in Burkina Faso diskutieren. Für die Regierungspartei MPP (Mouvement du Peuple pour le Progrès) geht es zunächst einmal darum, alles zu tun, um zu gewinnen und an der Macht zu bleiben. Das bedeutet vor allem zu vermeiden, dass der CDP (Congrès pour la Démocratie et le Progrès), der 2014 durch die Aufstände verdrängt wurde, wieder die Macht ergreift – was zu Vergeltungsschlägen gegen politische Gegner führen kann. Ziel des CDP ist es, den 2014 verlorenen Staatsapparat mit allem, was dies beispielsweise an wirtschaftlichen und politischen Vorteilen mit sich bringt, wiederherzustellen. Es gab zahlreiche Finanzskandale des CDP, die nie untersucht wurden. Die Leute glauben also, dass die Mitglieder des CDP wieder an die Macht kommen wollen, um Vergeltung zu üben und um das fortzusetzen, was sie vorher getan haben, nämlich zu plündern. Dabei gibt es wichtige Fragen und Themen, die diskutiert werden müssen, wenn wir unser Land aus der gegenwärtigen Situation herausführen wollen. Wenn wir uns das Verhalten der politischen Parteien bei der aktuellen Wahl ansehen, verhalten sie sich wie eine Mutter, die ihre Kinder mit kleinen Marionetten amüsiert, es ist nur ein Spiel. Es hat nichts mit den Problemen der Bevölkerung zu tun.

Welche sind aus Sicht der burkinischen Jugend die Hauptprobleme, mit denen sich die neue Regierung auseinandersetzen und befassen sollte?

Nach dem Ende des Aufstands 2014 dachten die Menschen, dass die neue Regierung für die zuvor begangenen politischen und wirtschaftlichen Verbrechen mit ihren Anteilen an Veruntreuung eine Lösung finden würde, und dass diejenigen, die das Geld gestohlen hatten, vor Gericht gestellt, das Eigentum wiedererlangt und dem Volk zur Verfügung gestellt werden würde. Bis heute wird die Frage, wer eigentlich von den nationalen Reichtümern profitiert, gar nicht gestellt. Wir konnten noch nie diese Frage stellen, und die gegenwärtige Wahl stellt sie auch nicht. Was die Bodenschätze angeht, sagt man uns, wir würden jedes Jahr Tonnen von Gold fördern, aber wir sehen nichts davon. Es sind diese Fragen, die die gegeneinander antretenden Parteien weigern zu stellen. Die Frage der Arbeit und Beschäftigung für junge Menschen mit verlässlichen Lösungen, die Frage der Landrechte und der landwirtschaftlichen Produktion. Die mittelalterliche Ausbeutung der Bauern in unserem Land, insbesondere der Baumwollproduzenten, der Landwirte, die Frage des ländlichen und städtischen Grundbesitzes. So viele Fragen wie diese, natürlich auch die Frage der Sicherheit, die für junge Menschen wirklich ein unmittelbares Problem ist und für die man bereits kämpft. Wenn Sie die Situation in Burkina Faso verfolgen, wissen Sie, es gibt aktuell viele Kämpfe, mit den Bauern, um den Baumwollanbau und den Zugang zu Land, in den städtischen Gebieten zur Frage nach Bauland, es gibt viele Bewegungen, die sich entwickeln. Was den Bergbau angeht, hier hat es viele Kämpfe gegeben.

Aber wenn man sich die politischen Kräfte ansieht, die nun gegeneinander antreten, sie sind an diesen Kämpfen nicht interessiert. Was sie interessiert, ist, die Wahl zu gewinnen und ihre politischen Posten zu sichern. Die jungen Menschen erkennen, dass ihre Anliegen nicht mit denen der politischen Kräfte übereinstimmen. In ihren Reden können einige der zur Wahl antretenden Parteien zwar Glauben machen, dass sie Lösungen finden werden. Aber aus der alltäglichen Erfahrung heraus merken die jungen Menschen, dass sie sich nicht beteiligen, dass sie die Kämpfe, die Bewegungen nicht unterstützen. Sie könnten diese unterstützen und sagen, dass sie eine Lösung finden. Aber sie selbst beteiligen sich nicht an den Bewegungen. Viele politischen Vertreter verachten oder kriminalisieren Jugendbewegungen sogar. Daher ist es für junge Menschen schwierig, bei diesen Wahlen Hoffnung zu haben. Es gibt wirklich keine Hoffnung oder Erwartungen der Jugend an diese Wahlen. Das reißt die Jugend nicht mit. Der Grundgedanke ist, dass die Beteiligung an den Wahlen dazu dient, politische Posten zu teilen, um zu profitieren, um zu plündern, das ist alles.

Worin liegt Ihrer Meinung nach das größte Konfliktpotential in Bezug auf die Wahlen und ihren Ausgang?

Einige politische Parteien wollen, koste es was es wolle, die Macht behalten, sie wissen sehr wohl, dass, sollten die anderen an die Macht kommen, sie sich rächen könnten, und so weiter. Was die wichtigsten oppositionellen Kräfte betrifft – ihnen geht es darum, das verlorene Paradies zurückzugewinnen. Es gibt jedoch Risiken, und es kann tatsächlich zu einer Konfrontation kommen. Auf jeden Fall gibt es ein Schlagwort, das derzeit von allen politischen Kräften gebraucht wird. Sie sprechen von nationaler Einheit, nationalem Zusammenhalt, und wenn man genau hinschaut, ist es, als ob es einen Vertrag zwischen ihnen gäbe. Die Hauptsache ist, dass das derzeit an der Macht befindliche Regime akzeptiert, dass diejenigen, die durch den Aufstand aus dem Land vertrieben wurden, die Männer der CDP, zurückkommen und ihr Eigentum zurückfordern werden, und dass die Wahlen stattfinden. Aber hinter all dem verbergen alle, dass sie, koste es was es wolle, ihre Macht entweder verwalten, oder, koste es was es wolle, sie die Macht zurückgewinnen wollen. Diese beiden Tendenzen können zu Konfrontationen führen.

Was muss die neu gewählte Regierung tun, um das Vertrauen der Jugend zurückzugewinnen?

Ich glaube nicht daran, dass die Regierung, die aus diesen Wahlen hervorgehen wird, das Vertrauen der Jugend überhaupt zurückgewinnen kann, weil sie nicht einmal über die Mittel oder den politischen Willen verfügt, dies zu tun. Keiner von ihnen berührt die politischen Probleme, die sehr wichtig für den Status unseres Landes sind; nämlich dass es ein beherrschtes Land ist, und dem der Imperialismus verweigert, seine Wirtschafts-, Sozial-, Sicherheitspolitik allein bestimmen zu können; ein Land, das letztlich nur unter Anordnung von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und Frankreich lebt. Frankreich verlässt sich dabei auf seine lokalen Schergen, jene Bourgeoisie, die sich in den bürgerlichen politischen Parteien konzentriert. Wenn wir diese Fragen nicht angehen, dann werden, so meine ich, wer auch immer die Macht übernimmt, die sozialen Probleme der Jugend bestehen bleiben.

Welche Rolle spielt die aktuelle Situation der Covid-19-Pandemie bei der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen?

Die Pandemie hat dem gegenwärtigen Regime vieles erspart. Vor der Pandemie gab es eine sich entwickelnde soziale Bewegung, insbesondere auf der Ebene der Gewerkschaften. Es gab große Mobilisierungen zur Infragestellung der Arbeitnehmer*innenrechte etwa, die bis in Regierungskreise vordrangen. Als die Pandemie ausbrach, wusste sich die Regierung zu helfen und hat sich beeilt, Maßnahmen zu ergreifen, um die Freiheiten einzuschränken und Demonstrationen zu verhindern. Das hat dem Regime erlaubt aufzuatmen. Die Pandemie, die noch immer anhält, hat die Organisation groß angelegter Demonstrationen von Gewerkschaften und kämpfenden Organisationen etwas erschwert, was wiederum den politischen Kräften ermöglicht, einfach weiterzumachen, ohne sich in die sozialen Probleme einmischen zu müssen, gegen die die Bevölkerung aufwiegelt. Die Pandemie spielt aktuell also denen entgegen, die am offiziellen Wahlkampf beteiligt sind.

Aber hat die Pandemie irgendwelche Auswirkungen auf die Wahlen?

Seit fast zwei Monaten halten die politischen Parteien große Kundgebungen ab, ohne wirkliche Schutzmaßnahmen. Ich denke also nicht, dass die Pandemie die derzeitige Mobilisierung der politischen Parteien wirklich beeinträchtigt. Ich weiß, dass die für die Bekämpfung von COVID-19 zuständige Behörde vor zwei Tagen darüber informiert hat, dass die politischen Parteien für das Verhalten ihrer Kandidaten zum Schutz vor der Pandemie bei Kundgebungen verantwortlich sind. Und obwohl solche Worte gesagt wurden, ist es, als ob die politischen Parteien, inklusive der Regierung, nicht einmal selbst daran glauben, dass COVID-19 etwas Gefährliches ist. Dieses Verhalten führt dazu, dass sich die Jugend fragt, ob COVID-19 nicht vielleicht erfunden wurde, um die Massen zu beruhigen. Tatsächlich haben Politiker*innen die Pandemie genutzt, um gegen Demonstrationen sozialer Kräfte, zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften vorzugehen, aber sie selbst führen ihre Aktivitäten weiter wie bisher. COVID-19 in Burkina Faso war also vielmehr ein politisches Instrument gegen diejenigen, die ein Störfaktor des Regimes sind.

Simone Schnabel
Simone Schnabel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Programmbereich „Glokale Verflechtungen“ der HSFK, wo sie zu afrikanischen Regionalorganisationen und der afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur sowie zu internationaler Entwicklungszusammenarbeit arbeitet. // Simone Schnabel is a Doctoral Researcher at PRIF’s Research Department “Glocal Junctions” where she is working on African regional organizations and the African Peace and Security Architecture, as well as on International Development Cooperation. | Twitter: @schnabel_simone
Antonia Witt
Dr. Antonia Witt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Forschungsgruppe „African Intervention Politics“ im Programmbereich „Glokale Verflechtungen“ der HSFK, wo sie zu afrikanischen Regionalorganisationen und zur Afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur forscht. // Dr. Antonia Witt is a Senior Researcher and Leader of the Research Group “African Intervention Politics” at PRIF’s Research Department “Glocal Junctions” where she is working on African regional organizations and the African Peace and Security Architecture.

Simone Schnabel

Simone Schnabel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Programmbereich „Glokale Verflechtungen“ der HSFK, wo sie zu afrikanischen Regionalorganisationen und der afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur sowie zu internationaler Entwicklungszusammenarbeit arbeitet. // Simone Schnabel is a Doctoral Researcher at PRIF’s Research Department “Glocal Junctions” where she is working on African regional organizations and the African Peace and Security Architecture, as well as on International Development Cooperation. | Twitter: @schnabel_simone

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