Proteste gegen Polizeigewalt in New York. Foto: dpa/picture alliance

Tödliche Polizeigewalt in den USA. Rassismus, Armut, Ungleichheit, Gewaltkriminalität

Ist tödliche Polizeigewalt in den USA rassistisch geprägt oder verdeckt die Brille des individuellen und institutionellen Rassismus andere wichtige Bedingungsfaktoren wie das hohe Maß gesellschaftlicher Gewalt und die für ein Land des wohlhabenden Nordens extrem hohe Armutsrate und ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands? Ist Polizeigewalt mithin ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse? Dieses Spotlight zeigt, dass es keine einfachen Antworten gibt. Der gegenwärtige Fokus auf „race“ („Rasse“)1 führt aber nicht nur zu verzerrenden Feindbildern, sondern steht auch einer umfassenden Bearbeitung der Gewaltdynamiken entgegen.

Spricht man über Polizeigewalt, dann ist es hilfreich, einen Maßstab zu haben. In Deutschland wurden in den letzten Jahrzehnten selten mehr, zumeist weniger als zehn Menschen pro Jahr durch Polizist*innen erschossen, in Australien waren es knapp unter fünf. In England und Wales liegt das langjährige Mittel bei unter drei, in Österreich bei ca. eins, in Finnland unter 0,5. Demgegenüber starben in den USA in den letzten Jahren ca. 1.000 Menschen pro Jahr durch polizeiliche Gewaltanwendung. Selbst wenn man Unterschiede in der Bevölkerungsgröße der Länder berücksichtigt, sind die Tötungsraten in den USA deutlich höher als in Europa. Zwischen 25 und 30% der Opfer sind schwarz, doppelt so viele, wie es nach dem Anteil der Schwarzen an der US-amerikanischen Bevölkerung zu erwarten wäre.

Es wäre naiv, die Rolle von individuellem und systemischem Rassismus in der Polizeiarbeit zu bestreiten, doch übersieht das prominente Rassismus-Argument das schiere Ausmaß der Gewalt, die von der Polizei ausgeht und neben Schwarzen auch Latinos und Weiße trifft. Egal ob Schwarz, Latino oder Weiß, die Gewalt trifft überproportional Arme. Ebenfalls nicht vertreten im Erklärungsmuster des Rassismus für die überproportionalen Einsatz tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze ist die subjektive Erfahrungswelt der Polizisten, die in einer im Globalen Norden einzigartig gewalthaltigen Gesellschaft ihrer Arbeit nachgehen. Diese und eine Reihe anderer Faktoren spielen zusammen in der seit Jahrzehnten durchgängig extrem hohen Anwendung tödlicher Gewalt durch Polizist*innen in den USA. Nur wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet, hat man eine Chance der Komplexität der Dynamiken gerecht zu werden. Das wiederum ist Voraussetzung dafür, adäquate Strategien des Umgangs mit und Wege aus der Gewalt zu finden.

Tödliche Polizeigewalt als Spiegel einer gewalthaltigen Gesellschaft

Polizist*innen sind Menschen. Als solche haben sie Angst, und zwar in Relation zu der persönlichen Bedrohung, die sie aus ihrem beruflichen Umfeld wahrnehmen. Diese wird von vielen Faktoren bestimmt. Dazu zählen persönliche Vorurteile, aber auch empirisch untermauerte Daten zur Kriminalitätsbelastung einzelner Stadtviertel und zur Gewaltkriminalität. Das lokal von Polizist*innen geteilte Wissen zu tendenziell mehr oder weniger aggressiver Klientel spielt ebenfalls eine Rolle. Zum kritischen Blick auf Polizeigewalt in den USA gehört es zu berücksichtigen, dass in den USA jedes Jahr ca. 15.000 bis 17.000 Menschen ermordet werden. Dem stehen in England und Wales im langjährigen Mittel ebenso wie in Deutschland gerade einmal gut 600 intentionale Tötungsdelikte gegenüber. In Österreich schwankt die Zahl zwischen 40 und 80. Abbildung 12 zeigt, dass generell niedrige gesellschaftliche Gewalt mit niedriger Polizeigewalt und hohe mit hoher einhergeht. Genau das ist zu erwarten, wenn man davon ausgeht, dass die Polizei in Hochgewaltländern weitaus häufiger mit schwer bewaffneten Verdächtigen konfrontiert ist als in Niedriggewaltländern.

Neben der Gewaltkriminalität gibt es einen weitaus konkreteren Indikator für die Bedrohung, der Polizist*innen in ihrer Tätigkeit ausgesetzt sein können: die Zahl der Polizist*innen, die in Ausübung ihres Berufes eines gewaltsamen Todes sterben. Hier sind die Unterschiede einmal mehr dramatisch. In allen Fällen mit Ausnahme der USA lag das langjährige Mittel unter eins. In den USA wurden demgegenüber im letzten Jahrzehnt jährlich 51 Polizist*innen im Dienst getötet.3

Diese Beispiele zeigen, dass tödliche Polizeigewalt generell durchaus als Spiegel der allgemeinen gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse sowie der direkt gegen die Polizei gerichteten Gewalt interpretiert werden kann. Diese grobe Faustregel gilt nicht nur im internationalen Vergleich,4 sondern auch innerhalb von Staaten bis hinunter auf die Ebene von Stadtteilen und einzelnen Straßen.5 Freilich erklärt es in keiner Weise, warum Schwarze überproportional Opfer werden.

Tödliche Polizeigewalt: rassistisch motiviert?

Vielfach wiederholt worden ist die Tatsache, dass in den USA Schwarze weitaus häufiger von der Polizei erschossen6 werden als es nach ihrem Anteil an der Bevölkerung erwartbar wäre. In einer Reihe von Städten liegt die Tötungsrate von Schwarzen durch die Polizei, gemessen an der Gesamtheit der schwarzen Bevölkerung, sogar höher als die nationale Rate für Tötungsdelikte.7 Daraus abzuleiten, dass die Ursache dieser überschießenden Gewalt nur oder vor allem im individuellen Rassismus von Polizist*innen zu suchen sei, ist jedoch voreilig.

Für US-amerikanische Polizist*innen ist es eine einfache Wahrheit: Schwarze sind sowohl die häufigsten Täter als auch Opfer von tödlicher Gewaltkriminalität. Während Schwarze ca. 13% der Bevölkerung ausmachen, stellen sie ca. 50% der Opfer von Tötungsdelikten. Sie stellen aber auch ca. 50% der Täter*innen tödlicher Gewalt und über 50% der Verhafteten (für Details hierzu und den nachfolgenden Aussagen siehe: Endnote 8)8.

Die Sicht amerikanischer Polizist*innen ist auch dadurch geprägt, dass Polizist*innen überproportional häufig von Schwarzen getötet werden. Zwischen 2008 und 2019 wurden 38% der Tötungsdelikte an Polizist*innen von Schwarzen verübt.9 Das sind mehr als doppelt so viele, wie nach deren Bevölkerungsanteil zu erwarten wäre (für Details siehe Endnote 5). Eine ältere Studie, die Daten zu über 20 Jahren analysiert, kommt zu dem Schluss, dass Schwarze zwischen 1976 und 1998 mit 42% unter den Opfern tödlicher Polizeigewalt deutlich überrepräsentiert waren. Allerdings wurden im selben Zeitraum auch 43% aller getöteten Polizist*innen von Schwarzen getötet. Die gleiche Studie zeigt, dass schwarze Polizist*innen gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtzahl der Polizeikräfte in diesen mehr als 20 Jahren tendenziell häufiger tödliche Gewalt angewendet haben als weiße Polizist*innen; ein rassistischer Bias von weißen oder schwarzen Polizeikräften war nicht nachweisbar.10

Eine detaillierte Studie zu 370 polizeilichen Schusswaffeneinsätzen in Philadel­phia wiederum zeigt, dass schwarze und insbesondere Polizist*innen mit lateinamerikanischem Migrationshintergrund bei unbewaffneten schwarzen Verdächtigen deutlich häufiger aufgrund einer fehlgeleiteten Bedrohungswahrnehmung (threat perception failure) Schusswaffen eingesetzt haben als weiße, obgleich die These des individuellen Rassismus ein gegenteiliges Ergebnis nahelegen würde.11 2019 zeigte eine Studie, dass Schwarze, insbesondere schwarze junge Männer, das mit Abstand höchste Risiko trugen von der Polizei erschossen zu werden. Im gleichen Jahr findet sich in der gleichen Zeitschrift ein zwischenzeitlich aus politischen Gründen zurückgezogener Beitrag der argumentiert, dass die Hautfarbe von Polizist*innen in keinem Bezug zur Hautfarbe der Opfer tödlicher Polizeigewalt steht.12 Verkompliziert wird die Analyse dadurch, dass sich die pro Kopf höchsten Tötungsraten in Staaten mit sehr geringem Anteil an Schwarzen finden. New Mexico, Alaska, Oklahoma Arizona und Colorado führen die Liste an mit mehr als 6 Tötungen pro Jahr und Millionen Einwohner (2015–2019, Washington Post Datensatz).13

Diese Zahlen sprechen nicht dagegen, dass es individuellen oder institutionellen Rassismus in der amerikanischen Polizei gibt. Sie sprechen aber auch nicht dafür, dass die beobachtbaren Unterschiede im Gewaltverhalten von Weißen und Schwarzen etwas mit Hautfarbe zu tun haben und ebenso wenig dafür, dass Polizist*innen aus rassistischen Motiven töten. Festzuhalten ist, dass die Wissenschaft trotz mehrerer Jahrzehnte Forschung zum Zusammenhang zwischen Rassismus und Polizeigewalt in den USA zu keinen eindeutigen Ergebnissen gekommen ist.14 Trotz hunderter von Studien bleibt der Zusammenhang unklar. Klar ist, dass Schwarze im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung überproportional häufig Opfer von Polizeigewalt werden. Demnach gilt es zu fragen, inwieweit das Gros der gegen Schwarze gerichteten Polizeigewalt durch andere Variablen als Rassismus erklärbar ist.

Tödliche Polizeigewalt als Gewalt gegen Arme

Der isolierte Blick auf die Hautfarbe verdeckt die Bedeutung von Armut, Ungleichheit und Klasse, und zwar sowohl im Hinblick auf (Gewalt-)Kriminalität wie auf Polizeigewalt. Welche Rolle Armut und andere Formen von Benachteiligungen für Polizeigewalt spielen, zählt zu den ältesten Forschungsfragen in der Polizeiforschung. Trotz vieler Widersprüche im Detail erbrachte sie insgesamt vergleichsweise eindeutige Ergebnisse. Verkürzt gesprochen weisen sozio-ökonomisch benachteiligte Stadtviertel eine höhere allgemeine Kriminalitätsrate wie auch eine höhere Rate von Gewaltverbrechen auf. Dem korrespondieren in der Regel eine andere Art polizeilichen Vorgehens und eine deutlich höhere Rate polizeilicher Gewaltanwendung bis hin zur tödlichen Gewalt.15 Für die USA zentral ist, dass Armut und Hautfarbe ein großes Maß an Deckung haben. Arme – und das sind in den USA oft Schwarze (siehe Abbildung 2) – sind in bestimmten Stadtvierteln deutlich überrepräsentiert. So entsteht eine fatale Gleichsetzung: arm = schwarz = kriminell/gefährlich.

Direkte Angaben über den sozio-ökonomischen Status von Opfern von Polizeigewalt gibt es nicht. Feldman (2020) zeigt in einer aktuellen Studie, dass die Wahrscheinlichkeit von der Polizei getötet zu werden ungeachtet der Hautfarbe mit der Armut des Zensusgebiets wächst. In den jeweils ärmsten Zensus-Gebieten wohnen aber 37% der Schwarzen, jedoch nur 10% der weißen Bevölkerung, was einen beträchtlichen Teil der Unterschiede erklären kann.16 Auffällig ist auch, dass die prozentuale Verteilung von Schwarzen und Weißen bei den Tötungen durch die Polizei (26% und 50% nach dem Washington Post Datensatz für die Jahre 2015–2019) nicht unähnlich ist zu deren Anteil an der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsquote leben (2019: 24% schwarz und 41% weiß). Insbesondere die Mitglieder von sozial und ökonomisch mehrfach benachteiligten Gruppen sind von Polizeigewalt betroffen – von einfachen Zwangsmaßnahmen bis hin zur tödlichen Gewalt.17 Tödliche Polizeigewalt ist, ungeachtet der Hautfarbe der Opfer, „am weitesten verbreitet in Nachbarschaften konzentrierter Deprivation und vermindert sich in Nachbarschaften konzentrierter Privilegien.“18

Diese empirischen Ergebnisse stützen das Argument, wonach Polizeigewalt primär ein Mittel der sozialen Kontrolle der Armen ist.19 Die Hautfarbe spielt insofern eine Rolle, als Polizeikräfte in Gemeinden, Städten und Stadtvierteln mit einem hohen Minderheitenanteil am häufigsten Gewalt ausüben. Diese Orte sind allerdings gleichzeitig diejenigen mit dem allgemein höchsten Benachteiligungsgrad. Hautfarbe hat einen verstärkenden Effekt in Bezug auf die Gewalterfahrung durch Polizei, der jedoch nach ethnischer Gruppe unterschiedlich ist und mit den lokalen sozio-ökonomischen Bestimmungsfaktoren und den Indikatoren lokaler Gewaltkriminalität interagiert.20

Tödliche Polizeigewalt: ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse

Rassismus erscheint als eine klare, einfache Antwort auf die Frage, warum die Polizei in den USA so häufig Schwarze tötet. Dieses Spotlight zeigt, dass derartig einfache Antworten in der Regel zwar durchaus einen Teil der Erklärung ausmachen können, jedoch der Komplexität der Wirklichkeit unangemessen sind.

Die amerikanische Polizei ist ein Spiegel der Gesellschaft in dreierlei Hinsicht: sie spiegelt gleichermaßen den gesellschaftlichen Rassismus,21 eine ausnehmend gewalttätige Gesellschaft und das für ein reiches Land des globalen Nordens extreme Maß von Ungleichheit, Armut und sozialer Ausgrenzung mit allen seinen destruktiven Folgen.22 Ein Weg aus der Gewalt darf keine der Dimensionen vernachlässigen, ein zunehmend schwierigeres Unterfangen in Zeiten extremer gesellschaftlicher Polarisierung. Hinzu kommt ein Spezifikum der USA: dass jede Stadt und jeder Landkreis eine eigene Polizeibehörde hat (insgesamt über 15.000), deren Chefs gewählt oder von Stadträten und anderen lokalen Institutionen ernannt werden. Das macht die Polizei zu einer eminent politischen Institution, in direkter Abhängigkeit vom lokalen politischen Mainstream.23 Gleichzeitig beschränkt es die Eingriffsmöglichkeiten der nationalen Politik im Guten wie im Bösen.

Erste Schritte sollten auf Aspekte zielen, über die breitestmögliche Einigkeit herrscht. Diese sind zwar rar, aber es gibt sie. Obgleich Schwarze und Weiße, Republikaner und Demokraten in vielen Umfragen vor allem durch extrem unterschiedliche Beurteilungen der Problematik auffallen, sind sie sich doch in zwei Forderungen in ihrer großen Mehrheit einig: in der verstärkten Anwendung von Body-Cams und in der Forderung nach einer (von den Staatsanwaltschaften unabhängigen) Untersuchungsbehörde für polizeiliches Fehlverhalten. Während ersteres die Transparenz erhöhen würde, könnte letzteres Vertrauen schaffen und der weitverbreiteten Straffreiheit entgegenwirken.24 Zumindest für die erste Maßnahme scheint sich auch in der Polizei selbst eine breite Zustimmung zu finden.25



Download (pdf): Kreuzer, Peter (2020): Tödliche Polizeigewalt in den USA. Rassismus – Armut – Ungleichheit – Gewaltkriminalität, PRIF Spotlight 17/2020, Frankfurt/M.

 

 

Referenzen und weiterführende Literatur

 

 

 

 

 

Peter Kreuzer
Dr. Peter Kreuzer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am PRIF. Sein Fokus liegt auf politischer Gewalt in den Philippinen und maritimen Konflikten im Südchinesischen Meer. // Dr Peter Kreuzer is a Senior Researcher at PRIF. He focuses on political violence in the Philippines and maritime conflicts in the South China Sea.

Peter Kreuzer

Dr. Peter Kreuzer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am PRIF. Sein Fokus liegt auf politischer Gewalt in den Philippinen und maritimen Konflikten im Südchinesischen Meer. // Dr Peter Kreuzer is a Senior Researcher at PRIF. He focuses on political violence in the Philippines and maritime conflicts in the South China Sea.

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