Die innenpolitische Stimmung in den USA dreht sich. Mehr und mehr Amerikanerinnen und Amerikaner halten die Entsendung von Streitkräften nach Afghanistan wie auch in den Irak für einen Fehler. Diese Trends helfen, die Abzugsentscheidung der Biden-Regierung zum 20. Jahrestag von 9/11 zu verstehen. Sie werfen aber auch wichtige Fragen auf: zur deutschen und europäischen Sicherheitspolitik, zur Verantwortung der Bundesrepublik in Afghanistan, und zur Rolle diplomatischer und militärischer Mittel in der Außenpolitik.
Das Besondere war nicht die Ankündigung des raschen Abzugs der US-Truppen aus Afghanistan, sondern die Begründung. Als US-Präsident Joe Biden das Ende der amerikanischen Militärmission in Afghanistan zum 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September verkündete, forderte er, den Zusammenhang zwischen diplomatischen und militärischen Mitteln prinzipiell zu überdenken:
Diese Analyse ist bemerkenswert. Sie dokumentiert, wie sich die außenpolitischen Koordinaten in Washington in den letzten zwei Jahrzehnten verschoben haben. Sie gibt Aufschluss darüber, wie amerikanische Militäreinsätze zukünftig aussehen könnten. Die europäischen Verbündeten sollten aufhorchen.
Interventionen in Afghanistan und im Irak
Knapp vier Wochen nach 9/11 begannen die USA ihre „Operation Enduring Freedom“ (OEF) um al-Qaida in Afghanistan zu zerstören. Getrennt von OEF (das ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates operierte) entsandten die USA und andere Nationen wenige Monate später die ersten Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan, die als UN-mandatierte „International Security Assistance Force“ (ISAF) die neue afghanische Regierung beim Staatsaufbau unterstützen sollten. Auf dem Höhepunkt der Aufstockungen waren über 100.000 internationale Truppen am Hindukusch stationiert. ISAF wurde 2015 in die kleinere „Resolute Support Mission“ (RSM) überführt.
Im amerikanischen Afghanistan-Diskurs war Terrorismusbekämpfung meist ein dominanteres Motiv als Staatsaufbau, Demokratieförderung, oder Menschenrechte. Diese Ziele waren zwar präsent, und führende Persönlichkeiten aus Politik und Militär lobten entsprechende Fortschritte. Aber diese Ziele waren in Washington weniger zentral als in der deutschen Debatte. Dort vermittelten Bundestagsdebatten mitunter den Eindruck, der Hauptgrund des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr sei der Schutz von Brunnen und Mädchenschulen in Kunduz.
Der entscheidungspolitische Kontext von Joe Bidens Abzugsrede lässt sich jedoch nicht ohne eine andere Mission erklären: der von der Bush-Regierung 2003 begonnene Krieg im Irak, dem hunderttausende Irakerinnen und Iraker und mehrere tausend amerikanische und verbündete Soldatinnen und Soldaten zum Opfer fielen.
Der Irak-Krieg gilt in den USA Umfragen zufolge mittlerweile als ein Fehler, der die Vereinigten Staaten unsicherer gemacht habe. Zwar mögen sich George W. Bushs persönliche Beliebtheitswerte erholt haben; auf sein außenpolitisches Kernprojekt Irak-Krieg bezieht sich diese Rehabilitierung jedoch nicht. Bereits Barack Obama konnte im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl 2008 gegen seine innerparteiliche Konkurrentin Hillary Clinton sowie gegen seinen republikanischen Kontrahenten John McCain damit punkten, den Irak-Krieg im Gegensatz zu Clinton and McCain stets abgelehnt zu haben. In weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung ist der Irak-Krieg ein Symbol für eine vom politischen „Establishment“ vorangetriebene und an den Interessen von Konzernen und Eliten orientierte militärische Machtpolitik, die die USA in sinnlose und niemals endende Kriegseinsätze verstrickt habe. Dieser Kontext ist wichtig, um die aktuelle amerikanische Afghanistandebatte einordnen zu können. Denn der durch den Irak-Krieg verstärkten Kriegsmüdigkeit ist nun auch der Einsatz am Hindukusch zum Opfer gefallen.
Antikriegsstimmung in den USA
Laut jüngster Gallup-Erhebungen 2019 sagen 50% der US-Amerikanerinnen und Amerikaner, dass es ein Fehler war, Truppen in den Irak geschickt zu haben. 43% halten den Afghanistan-Einsatz für einen ebensolchen Fehler. 2002 bzw. 2003 waren dieser kritischen Ansicht nur 23% in Bezug auf den Irak und 6% in Bezug auf Afghanistan.
Sowohl auf demokratischer als auch auf republikanischer Seite haben über das letzte Jahrzehnt hinweg prominente politische Kandidatinnen und Kandidaten (zumindest rhetorisch) entsprechende Antikriegspositionen artikuliert. Das traf neben Barack Obama sowohl auf Bernie Sanders in den demokratischen Vorwahlkämpfen 2016 und 2020 zu, als auch auf Donald Trump, der (fälschlicherweise) behauptete, er sei ist ja schon immer gegen den Irak-Krieg gewesen.
Dass sich die Stimmung gedreht hat, zeigt sich auch in der Think-Tank-Landschaft in Washington. Die renommierten Denkfabriken in der amerikanischen Hauptstadt sind in der Vergangenheit nicht gerade mit außenpolitischen Positionen aufgefallen, die den Grundkonsens einer globalen militärischen Führungsrolle der USA infrage stellen. Das hat sich unter anderem mit dem Auftreten des Quincy Institute for Responsible Statecraft geändert. Dieses prangert die „gefährlichen Konsequenzen“ einer über-militarisierten amerikanischen Außenpolitik an, die niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig sei und den Krieg normalisiert habe.
Als ein Novum in der US-amerikanischen Denkfabrikszene wird das „QI“ sowohl von der einflussreichen Charles Koch Foundation als auch von den finanzstarken Open Society Foundations (OSF) finanziert. Die Koch-Brüder interessieren sich normalerweise für libertäre und konservative Projekte; die OSF für linke und progressive Anliegen. Nun haben sich beide mächtigen Geldgeber zusammengetan, um eine neue Organisation zu unterstützen, die sich der militärischen Zurückhaltung verschrieben hat. Der Wind dreht sich in Washington.
Zwar ist die Frage berechtigt, ob hier grundlegender Wandel stattfindet oder nur eine kosmetische Debattenverschiebung. So hat Biden keine Kürzung des US-Verteidigungsbudgets angekündigt, sondern eine moderate Erhöhung (die allerdings niedriger ausfällt als die geplante Budgeterhöhung anderer wichtiger Ministerien). Dennoch: Das Interesse der USA – und das gilt für die jetzige demokratische wie auch für künftige republikanische Regierungen – an mehrjährigen Einsätzen amerikanischer Bodentruppen in internationalen Missionen wird begrenzt sein. Eigene Verluste sollen vermieden, der Einsatz amerikanischer Bodentruppen nur als allerletztes Mittel erwogen werden. Mittlerweile ist dokumentiert, dass die Sorge um amerikanische Soldatinnen und Soldaten der Hauptgrund war, warum die Trump-Regierung Anfang 2019 von einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Iran absah.
Vermutlich wird die Biden-Regierung die Tendenz weiter verschärfen und vor allem auf Spezialeinheiten, bewaffnete Drohnen, Waffenlieferungen und finanzielle Hilfe für Regierungen zu setzen, die aus US-Sicht als strategisch wichtig eingestuft sind. Das alles passiert vor dem Hintergrund einer sich verändernden Bedrohungsanalyse amerikanischer Militärstrategen, in der die traditionelle Großmachtkonkurrenz zwischen Amerika, China und Russland in den Vordergrund rückt.
Wie weiter?
Was heißt das nun für Afghanistan? Realistischerweise heißt es erst einmal, dass die Interessen der Afghaninnen und Afghanen sowohl beim ursprünglichen Militäreinsatz 2001 als auch beim Abzug 2021 in den Kalkulationen Washingtons eine nachrangige Rolle gespielt haben.
Für die deutsche Regierung, wie auch für andere amerikanische Bündnispartner, stellt sich zudem die strategische Frage: Wenn die amerikanischen Verbündeten am Ende (NATO-Konsultierungen hin oder her) doch ihre eigene Abzugsentscheidung treffen und diese nicht im Konsens in einem jahrelangen Beratungsprozess herbeiführen, was bedeutet das für die deutsche Beteiligung an solchen Einsätzen in der Zukunft? Für viele deutsche Befürworterinnen und Befürworter der Bundeswehr-Beteiligung an ISAF und RSM standen ja tatsächlich die Unterstützung von Wiederaufbauprojekten, Demokratie und afghanischer Zivilgesellschaft im Vordergrund. Diese Ziele waren nicht nur „Framing“ und Schönreden, sondern Interessen des deutschen Parlaments, das diese in seinen Entsendungsmandaten Jahr für Jahr ausdrückte.
Aber macht man den Afghaninnen und den Afghanen nicht etwas vor, wenn man eine Art von deutscher Verpflichtung suggeriert, die man selbst gar nicht kontrollieren kann? War es richtig, dass Deutschland Versprechen gegenüber Afghanistan gemacht hat, wenn gleichzeitig die USA dem deutschen Engagement jederzeit den Teppich unter den Füßen wegziehen konnten? Hätte Deutschland andere Schwerpunkte setzen können? Noch mehr tun können für Verhandlungslösungen, als es mit dem Bonn-Prozess und aktiver Diplomatie bereits getan hat? Und: Welche Lehren lassen sich aus diesen Fragen für zukünftige Krisenherde und Optionen für deutsches und europäisches Engagement – militärisch und zivil – ziehen? Dies sind nur ein paar der grundsätzlichen Fragen, die in der Aufarbeitung und Evaluation des deutschen Afghanistan-Einsatzes diskutiert werden müssen.
Eine erste Anregung kommt von Joe Biden: „Our diplomacy does not hinge on having […] boots on the ground. We have to change that thinking.“ Wie könnte dieses neue Denken aussehen? Vielleicht so: Kluge Diplomatie degradiert Soldatinnen und Soldaten nicht zur „Verhandlungsmasse.“ Kluge Diplomatie geht auch nicht davon aus, dass ohne „militärischen Druck“ prinzipiell nichts geht. Kluge Diplomatie stellt Dialog, Interessenausgleich und den Aufbau von Beziehungen in den Vordergrund, die nicht durch militärische Dominanz geprägt sind.
Über dieses Entkoppeln militärischer und diplomatischer Mittel in der Außenpolitik sollte der Bundestag diskutieren. Oft hieß es dort von fast allen Fraktionen, der Wiederaufbau in Afghanistan sei eben ohne militärische Absicherung nicht möglich. Diese Absicherung kommt nun zum Ende. Falls Deutschland am Wiederaufbau von Afghanistan nach wie vor interessiert ist, schlägt jetzt die Stunde kreativer Diplomatie. Um zu retten, was noch zu retten ist.