Grenzübergang mit syrischen und türkischen Flaggen und Fahrzeugen.
Bab al-Salam, einer der Grenzübergänge, die nun für drei Monate geöffnet werden | Foto: Qasioun News Agency via wikimedia commons | CC BY 3.0

Eine politische Naturkatastrophe in Nordwestsyrien – das Erdbeben und das Versagen der internationalen Gemeinschaft

In den frühen Morgenstunden des 6. Februar verwüsteten ein Erdbeben der Stärke 7.8 und mehrere Nachbeben das syrisch-türkische Grenzgebiet. Fast 40.000 Menschen haben bisher in beiden Ländern ihr Leben verloren, darunter mehr als 3500 in Syrien. Ein weiterer Anstieg der Todeszahlen wird befürchtet. Die bisherigen Schätzungen legen nahe, dass die meisten Toten und Verletzten innerhalb Syriens im von Rebellen kontrollierten Nordwesten des Landes zu beklagen sind, der schon zuvor durch Jahre des Krieges und der gezielten Zerstörung von Infrastruktur durch die syrische Regierung und Russland extrem gelitten hatte. Erneut hat die internationale Gemeinschaft die Menschen in Nordwestsyrien im Stich gelassen.

Während die Türkei zahlreiche Todesopfer und verwüstete Städte zu beklagen hat, sind kurz nach dem Erdbeben zahlreiche internationale Hilfstrupps und –lieferungen eingetroffen. In Nordwestsyrien dagegen blieben die Menschen fast eine Woche lang allein. Bis Ende vergangener Woche erreichten die Region lediglich die Leichen von Syrer*innen, die in der Türkei ums Leben gekommen waren. Erst vergangenen Donnerstag trafen erste Hilfslieferungen ein, die vor dem Beben organisiert worden waren, jedoch keine erdbebenspezifische Ausrüstung und dringende Hilfsgüter beinhalteten.

Dies hat Unverständnis, Wut und Verzweiflung bei den Betroffenen ausgelöst. Wie es Mounir al-Mustafa, der stellvertretende Leiter des oppositionellen syrischen Zivilschutzes, den sog. Weißhelmen ausdrückte, „die internationale Gemeinschaft hat die Syrer*innen angesichts von Naturkatastrophen ihrem Schicksal überlassen, so wie sie sie in der Vergangenheit im Angesicht der Ermordung und Vertreibung durch das syrische Regime und Russlands über einen Zeitraum von 12 Jahren alleingelassen hat.“

Bereits vor dem Erdbeben herrschte im Nordwesten Syriens eine schwere humanitäre Krise. Mehr als vier Millionen Zivilist*innen, viele davon Binnenflüchtlinge aus anderen Regionen Syriens, waren auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die ohnehin schon desolate Lage wurde durch die gezielte Bombardierung von medizinischen Einrichtungen, Bäckereien, Schulen, Marktplätzen und Wohnvierteln durch russische und syrische Raketen noch verschlimmert. Durch die Bombardierungen, die COVID-Pandemie und einen Cholera-Ausbruch war das Gesundheitssystem bereits vor dem Beben an seine Grenzen geraten, wie mir kurz vor der Katastrophe medizinisches Personal aus der Region berichtete. Man kann sich also leider sehr gut ausmalen, was es für die Menschen in Nordwestsyrien bedeutet, wenn ein Erdbeben biblischen Ausmaßes ihre Region trifft, zumal im bittersten Winter.

Die Politisierung der Humanitären Hilfe

Die internationale Gemeinschaft ist verpflichtet, allen vom Erdbeben betroffenen Menschen in der Türkei und in Syrien zu helfen. Der anhaltende Bürgerkrieg erschwert jedoch die Lieferung von Hilfsgütern nach Nordwestsyrien, da die meisten humanitären Operationen über die von der Assad Regierung-kontrollierten Hauptstadt Damaskus abgewickelt werden. Der größte Teil der Hilfe wird über die verschiedenen Unterorganisationen der Vereinten Nationen (UN) abgewickelt, die im vergangenen Jahr 2,13 Milliarden Dollar nach Syrien geschickt haben.

Da das Assad-Regime jedoch seit Beginn des Konfliktes humanitäre Hilfe systematisch manipuliert  und Oppositionsgebiete belagert und bombardiert, sind die internationalen Hilfslieferungen aus der Türkei seit Jahren eine Lebensader für die Gebiete im Norden, die sich unter der Kontrolle der mehrheitlich kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und verschiedenen Oppositionsgruppen befinden. In den letzten Jahren haben Russland und China jedoch wiederholt von ihrem Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch gemacht, um die Zahl der Grenzübergänge zwischen der Türkei und diesen Gebieten, über die UN-Hilfe geliefert werden darf, von vier im Jahr 2014 auf nur noch einen im Jahr 2020 zu reduzieren. Seit Jahren erpresst Russland, neben Iran der wichtigste Verbündete des Assad-Regimes, die internationale Gemeinschaft mit der Drohung, die verbliebenen Grenzübergänge zu schließen. Anfang 2023 wurde auf Russlands Drängen dann der letzte noch verbliebene Grenzübergang zwischen der Türkei und der syrischen Provinz Idlib Bab al-Hawa nur noch für sechs statt der bisher geltenden zwölf Monate verlängert, was die Unsicherheit für Millionen von Syrer*innen noch verstärkt und langfristige Planungen seitens der Hilfsorganisationen erschwert.

Viele Rechtsexpert*innen, einschließlich ehemalige Richter*innen des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs sind sich desweilen einig, dass entgegen der gängigen Praxis eine Genehmigung des Sicherheitsrats nicht erforderlich sei, um grenzüberschreitende Hilfsmaßnahmen in Syrien durchzuführen.

Humanitäre Hilfe nach dem Erdbeben

Nach dem katastrophalen Erdbeben haben viele der betroffenen Syrer*innen im Nordwesten, aber auch Expert*innen, schwere Vorwürfe gegen die UN erhoben. Dass erst am 4. Tag nach dem Erdbeben humanitäre Hilfe, jedoch keine erdbebenspezifische Ausrüstung geliefert wurde, ist ein erneutes Indiz dafür, dass die UN zu langsam und unflexibel agiert. Zudem hätte sie ihr Mandat, Hilfe zu liefern, mutiger auslegen können. So wurden als Faktoren, die die Lieferung von Hilfsgütern in den Nordwesten Syriens erschwerten, beschädigte Straßen und Sicherheitsbedenken genannt. Wenn man bedenkt, dass zur gleichen Zeit die türkischen Behörden in der Lage waren, den Transport der syrischen Verstorbenen an die Grenze zu organisieren, obwohl sie unter maximalen Druck standen, ihrer eigenen Bevölkerung zu helfen, so erscheint dieses Argument der UN nicht stichhaltig.

Bei einem Besuch am Sonntag in Bab al-Hawa, dem einzig verbliebenen autorisierten Grenzübergang an der türkisch-syrischen Grenze, räumte Martin Griffiths, der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen dann auch Fehler ein. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen,“ schrieb Griffiths in einem Tweet. „Sie fühlen sich zu Recht allein gelassen. Sie warten auf internationale Hilfe, die nicht gekommen ist. Meine Aufgabe und unsere Verpflichtung ist es, dieses Versagen so schnell wie möglich zu korrigieren. Das ist jetzt mein Fokus.“

Reaktionen aus Damaskus

Derweil versucht Präsident Baschar al-Assad, aus dem Erdbeben politisches Kapital zu schlagen, indem er darauf drängt, dass ausländische Hilfsgüter über Damaskus geliefert werden. Dies soll dem syrischen Regime dabei helfen, die seit 2011 bestehende internationale Isolation zu überwinden. Zudem hat die syrische Regierung erst vergangenen Freitag, den 5. Tag nach der Katastrophe, die vom Erdbeben betroffenen Regionen zu Katastrophengebieten ernannt. Gemäß der Charta der Vereinten Nationen haben lokale Behörden in Ländern, die von Katastrophen betroffen sind, das Recht, den UN-Sicherheitsrat anzurufen. Dies macht die Unterstützung dieser Gebiete zu einer internationalen Aufgabe, die in den Zuständigkeitsbereich des Sicherheitsrats fällt, da Naturkatastrophen und Epidemien den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährden könnten. Während Regierungen diese Charta normalerweise nutzen sollten, um ihrer Bevölkerung zu helfen und um internationale Unterstützung zu bitten, hat die syrische Regierung die Provinzen Aleppo, Idlib, Latakia und Hama erst spät zum „Katastrophengebiet“ erklärt, um politische Vorteile aus den Folgen des Erdbebens zu ziehen.

Zudem drängt das Regime auf die Aufhebung aller westlichen Sanktionen, da diese Hilfslieferungen verhindern würden. Dies trifft nicht zu, Hilfslieferungen haben Damaskus bereits nach kurzem erreicht. Jedoch haben vor allem die weitgehenden sektoralen US-Sanktionen innerhalb des sog. Caesar-Acts – neben anderen Faktoren, wie der Zusammenbruch des libanesischen Bankensystems und die Corona-Pandemie, sowie zuletzt die globalen Erschütterungen durch den Ukraine-Krieg – zur schwierigen ökonomischen und humanitären Lage in den von der Regierung kontrollierten Gebieten beigetragen, die bereits vor dem Erdbeben herrschte. Der Caesar-Act geht wesentlich weiter als die EU-Sanktionen, die sich gezielt gegen das syrische Regime und dessen Unterstützer richten.

Aufgrund des großen Drucks gab das US-Finanzministerium vor wenigen Tagen bekannt, dass es Syrien für 180 Tage von einigen Sanktionen ausnimmt. Das Ministerium erklärte, dass die US-Sanktionen humanitäre Hilfe ohnehin nicht beträfen, die neue Regelung diese humanitären Ausnahmen jedoch noch erweitert. Während die gezielten EU-Sanktionen beibehalten werden sollten, bedarf es einer Überarbeitung des Caesar-Acts auch über die 180 Tage hinaus, da diese weitreichenden Sanktionen die syrische Zivilbevölkerung unverhältnismäßig treffen.

Licht am Ende des Tunnels?

Nach mehreren Besuchen von hohen UN-Vertreter*innen in Damaskus erklärte sich Assad am Montag, eine Woche nach dem Erdbeben bereit, zwei weitere Grenzübergänge nach Nordwestsyrien für humanitäre Hilfe für die Dauer von drei Monaten zu öffnen. Was zuerst als Zugeständnis erscheinen mag, verletzt aber bei genauerem Hinsehen das humanitäre Völkerrecht, demzufolge die Konfliktparteien die Einreise von Hilfsgütern ermöglichen müssen und keine willkürlichen Zugangsbeschränkungen errichten dürfen.

Das UN-System der humanitären Hilfe muss sich dringend reformieren. Es versteckt sich hinter einer vermeintlichen Neutralität, verletzt aber seit Jahren die Menschenrechte der Bevölkerung in Nordwestsyrien, indem es zulässt, dass humanitäre Hilfe politisiert und manipuliert wird. Die Gefahr besteht, dass andere Akteure aus dem Verhalten Syriens und Russlands lernen könnten und die humanitäre Hilfe insgesamt nachhaltig Schaden nimmt.

Regine Schwab

Regine Schwab

Dr. Regine Schwab ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich „Transnationale Politik“ und Mitglied der Forschungsgruppe „Terrorismus“ an der HSFK. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Syrien und der Nahe Osten, Rebellengruppen und politische Gewalt. // Dr Regine Schwab is postdoc at PRIF’s Research Department “Transnational Politics” and member of the research group “Terrorism”. Her research interests are, inter alia, Syria and the Middle East, violent Islamist groups and political violence. | Twitter: @reginesonja

Regine Schwab

Dr. Regine Schwab ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich „Transnationale Politik“ und Mitglied der Forschungsgruppe „Terrorismus“ an der HSFK. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Syrien und der Nahe Osten, Rebellengruppen und politische Gewalt. // Dr Regine Schwab is postdoc at PRIF’s Research Department “Transnational Politics” and member of the research group “Terrorism”. Her research interests are, inter alia, Syria and the Middle East, violent Islamist groups and political violence. | Twitter: @reginesonja

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