Mann mit Esel läuft an Soldat vorbei
Ein afghanischer Mann und ein Junge (nicht im Bild) führen ihren Esel an einem Fallschirmjäger vorbei, Provinz Paktiya, 14. Juli 2012 (Foto: © picture alliance / REUTERS | LUCAS JACKSON).

Scheitern in Afghanistan: Wenn es sich Ursachenforschung zu einfach macht

Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages befasst sich mit den letzten anderthalb Jahren des Einsatzes in Afghanistan und vor allem mit dem desaströs verlaufenen Abzug. Zudem beleuchtet eine Enquete-Kommission des deutschen Parlaments das gesamte internationale Engagement von 2001 bis 2021 und formuliert Lehren für die Zukunft. Während die Befunde dieser beiden Gremien abzuwarten bleiben, gibt es bereits zahlreiche Publikationen zum Scheitern des internationalen Einsatzes in Afghanistan. Ein Teil dieser Ursachenforschung legt Folgerungen nahe, die ein kritisches Abwägen des Ob und Wie künftiger Einsätze erschweren.

Das Ende des Einsatzes in Afghanistan und die erneute Machtübernahme der Taliban führten zu zahlreichen Versuchen, das Geschehene aufzuarbeiten. Dass der internationale Einsatz fehlschlug, ist weithin unbestritten. Allerdings gibt es Kon­troversen darüber, wie sich dieser Befund erklären lässt. Die meisten Beiträge sehen ein Zusammenspiel von inner- und außerafghanischen Faktoren, und viele verorten das Scheitern nicht nur im Militärischen oder Zivilen, sondern präsentieren übergreifende Erklärungen. Insgesamt führt die Literatur mehr als 70 verschiedene Ursachen an. Diese große Zahl kommt dadurch zustande, dass viele Beiträge einen spezifischen Fokus wählen und etwa die afghanischen Sicherheitskräfte und deren Ertüchtigung von außen diskutieren oder die Legitimität der nach dem Sturz der Taliban errichteten politischen Ordnung. Die Erklärungsangebote sind auch deshalb so zahlreich, weil viele einander widersprechen. Eine prominente Kontroverse diskutiert, wieweit es die politische Neuordnung Afghanistans belastete, dass jene Warlords viel Macht erhielten, die sich zwar mit der US-geführten Koalition gegen die Taliban verbündeten, doch Jahre zuvor, nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen, einen weiteren Krieg begonnen hatten.1 Hier stellt sich die Frage, ob ohne dieses Bündnis der internationale Einsatz mit einem noch breiteren Aufstand konfrontiert worden wäre. Eine verwandte Kontroverse thematisiert, ob die im Dezember 2001 bei Bonn eingeleitete Neuordnung Afghanistans die Taliban hätte einbeziehen sollen. Dabei unterscheiden sich die Einschätzungen darin, ob große Teile der Taliban zu einer Machtteilung überhaupt bereit gewesen wären und wie gut ein gemeinsames Regieren der Taliban mit ihren früheren Feinden funktioniert hätte.2 In einem anderen Streit meint die eine Seite, bereits das Vorhaben der Demokratisierung sei aussichtslos und sogar gefährlich gewesen, und das aufgrund extrem ungünstiger Ausgangsbedingungen und des zu erwartenden Widerstands gegen eine solche politische Umwälzung.3 Die andere Seite hingegen sieht Chancen auf und durch Demokratisierung und kritisiert die konkrete Ausgestaltung der demokratischen Institutionen, so das Präsidialsystem, zu viel Zentralismus und ein unpassendes Verfahren für Parlamentswahlen.4 Der Einmarsch im Irak 2003 löste die Diskussion aus, ob er dem Einsatz in Af­­ghanistan schadete, indem er von dort Ressourcen und Aufmerksamkeit abzog.5

Der Einsatz
Ausganspunkt: Terroranschläge am 11. September 2001; die Taliban regieren Afghanistan und wollen Osama bin Laden nicht ausliefern; US-geführte Koalition stürzt zusammen mit afghanischen Verbündeten die Taliban.

Ab Dezember 2001: umfassender Versuch der politischen Neuordnung nach Vorgaben einer internationalen Konferenz bei Bonn, Ziel unter anderem gender-sensible, multi-ethnische repräsentative Regierung.

August 2021: Die Taliban übernehmen erneut die Macht.

Auf diese und andere Kontroversen geht ein frei zugänglicher Literaturbericht näher ein, den ich in der Politischen Vierteljahresschrift veröffentlicht habe. Dieser wertet mehr als 120 englische und deutsche Beiträge aus, die bis zum Sommer 2023 erschienen waren und das Scheitern in Afghanistan im Ganzen oder in einem Teilaspekt erörtern. Im Folgenden geht es um zwei Erklärungsangebote, denen ich große Resonanz zutraue, die aber problematische Lehren für Entscheidungen über Einsätze in der Zukunft implizieren. Das eine Angebot führt den Fehlschlag in Afghanistan auf den aus seiner Sicht zu geringem Umfang zurück. Das andere, das ich als erstes erörtere, argumentiert, der Afghanistan-Einsatz sei erst mit seinem Ende gescheitert. Je mehr die politisch Verantwortlichen einer dieser beiden Erklärungen folgen, desto eher schätzen sie die möglichen Wirkungen eines etwaigen Einsatzes falsch ein.

Der Abzug als Ursache des Scheiterns?

Diese Sicht hält die Folgen des internationalen Abzugs nach dem Doha-Abkommen für entscheidend. In diesem hatten am 29. Februar 2020 die USA mit den Taliban den Abzug der internationalen Truppen vereinbart. Im Gegenzug sicherten die Aufständischen zu, innerafghanische Friedensgespräche zu beginnen und keine Angriffe von Afghanistan aus auf die Vereinigten Staaten und deren Verbündeten zuzulassen.6 Der Abzug, so das hier zu erörternde Argument, habe den materiellen Fähigkeiten und der Moral der afghanischen Sicherheitskräfte den entscheidenden Schlag versetzt. Ohne diesen hätte die Regierungsseite trotz aller Probleme noch lange durchhalten können.7 Der Abzug nahm den afghanischen Sicherheitskräften Luftunterstützung durch die internationalen Truppen und auch durch die eigene Luftwaffe, da diese von ausländischen Unternehmen instandgehalten wurde, die das Land verließen. Viele Stützpunkte boten ohne Versorgung aus der Luft den Aufständischen ein leichtes Ziel.8 Das Doha-Abkommen gilt nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seinem Zustandekommen als problematisch. Die afghanische Regierung wurde an seiner Aushandlung nicht beteiligt und so als übergehbare Größe vorgeführt. Das spornte den Aufstand der Taliban an und demoralisierte die afghanischen Sicherheitskräfte, die im Auftrag ihrer Regierung kämpfen sollten.9

Die Erklärung, der Einsatz sei erst durch seine Beendigung gescheitert, halten andere Beiträge für zu kurz gegriffen. Ich teile diesen Vorbehalt, bedenkt die skizzierte Erklärung doch zu wenig, dass in zeitgenössischen innerstaatlichen Kriegen nur selten die Aufständischen siegen10, die afghanischen Sicherheitskräfte von den Vereinigten Staaten mit rund 90 Mrd. US-$ ertüchtigt wurden11 und den Taliban in Zahl und Ausrüstung überlegen waren.12 Eine geringe Moral in den Sicherheitskräften bereitete schon lange vor dem Abzug Probleme, wie sich etwa 2015 in Kundus zeigte, wo 3.000 Soldaten und Polizisten vor 500 angreifenden Taliban flohen.13 Es fehlte offenbar an Motivation, die seit 2001 geschaffene politische Ordnung zu verteidigen. Darin zeigte sich deren unzureichende Legitimität, woran auch die anlässlich von Mandatsverlängerungen gerne angeführten verbesserten Lebensbedingungen vieler Afghan*innen nichts änderten. Wahlen, die immer weniger demokratischen Kriterien genügten, zuletzt unter extrem geringer Beteiligung litten und zu dysfunktionalen Regierungen führten, verschafften der neuen Ordnung ebenso wenig die erforderliche Unterstützung.14

Zu wenig Mittel, zu wenig Personal?

Die Erklärung, die das Scheitern des Einsatzes auf dessen Beendigung reduziert, überschneidet sich mit der verbreiteten Annahme, nach der Auslandseinsätze dann Erfolge erzielten, wenn sie nicht nur Geduld bewiesen, sondern zudem ausreichend Ressourcen und Personal einsetzten. Scheitern folge demnach auf mangelnde Entschlossenheit. „[T]he­ main problem is the lack of political will”, beklagte Jean-Marie Guéhenno, einst Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen für friedens­erhaltende Operationen.15 Eine entsprechende Position findet sich auch in Beiträgen zum Fehlschlag in Afghanistan. Sie führen etwa an, dass sich der internationale Militäreinsatz mit rund 140.000 Soldat*innen auf seinem Höhepunkt doch gering ausnehme, wenn man ihn in Relation zur Fläche oder Bevölkerung Afghanistans setze.16 Eine höhere Truppendichte verspreche genauere Informationen über die Lage vor Ort, weniger Freiräume für Gewaltakteure und damit mehr Sicherheit.17 Auch der Umfang des zivilen Engagements sei eher gering ausgefallen, vergleicht man es etwa mit der Hilfe nach den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien.18

Ein konkurrierender Strang der Literatur betont zum einen, dass sich militärische und zivile Anstrengungen nicht beliebig ausdehnen lassen, unter anderem weil fachlich qualifiziertes Personal mit den erforderlichen Sprachkenntnissen und interkulturellen Kompetenzen nur begrenzt zur Verfügung stehe.19 Wie dieser Teil der Literatur zum anderen festhält, helfe viel nicht immer viel und mehr Engagement bringe nicht unbedingt mehr Erfolg. So bilanzierte der US-Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, je mehr Ressourcen in ein Land mit schwachen staatlichen Institutionen fließen, desto schwerer falle es, die Mittelverwendung zu beaufsichtigen: „By spending money faster than it could be accounted for, the U.S. government ultimately achieved the opposite of what it intended: it fueled corruption, delegitimized the Afghan government, and increased insecurity”.20 Ein umfangreicherer Einsatz gewährleistet auch keinen größeren Einfluss auf die Regierung des Ziellands, um diese zu einer Politik zu bewegen, die der politischen Ordnung mehr Legitimität verschafft. Die unterstützte Regierung fürchtet, mit Umsetzung der geforderten Schritte ihre Chancen auf Machterhalt zu schmälern. Zudem erkennt sie, wie auch die tragenden Kräfte des internationalen Einsatzes von ihr abhängen. Daher kommt sie deren Forderungen nicht nach.21

Vorsicht vor falschen Lehren

Die These, der Einsatz in Afghanistan sei erst durch seine Beendigung gescheitert, könnte in Politik, Forschung und interessierter Öffentlichkeit einigen Anklang finden. Ihre knappe Argumentation hebt sie von weit ausholenden, unübersichtlichen Erklärungsangeboten ab, die viele verschiedene Ursachen zusammenführen und lange Zeiträume berücksichtigen. Der katastrophal verlaufene Abzug, markiert durch die dramatischen Bilder vom Flughafen Kabul, lässt es erst einmal plausibel erscheinen, dass der internationale Einsatz durch seine Beendigung fehlgeschlagen sei. Diese These erlaubt es zudem, die politische Verantwortung vor allem den US-Präsidenten Trump und Biden zuzuschieben, die den internationalen Abzug vorangetrieben hatten. Damit entlastet sie das vorherige Engagement und die anderen daran Beteiligten. Doch bereits vor dem Abzug waren internationale Anstrengungen, Afghanistan neuzuordnen und zu stabilisieren, fehlgeschlagen. Es wäre ein Versäumnis, daraus keine Lehren für künftige Einsätze abzuleiten. Bei der Entscheidung über einen Einsatz gilt es unbedingt, auch auf dessen mögliche Enden zu sehen. Ein sorgfältiges Abwägen muss aber weiter ausgreifen. Ungeeignete Exit-Strategien können vorherige Erfolge des Einsatzes zunichtemachen, doch macht auch die beste Exit-Strategie nicht alle vorangegangenen Fehlentwicklungen wett.22

Weiterlesen
Die Politische Vierteljahresschrift hat den Literaturbericht zum Scheitern des Einsatzes in Afghanistan frei zugänglich veröffentlicht.

Gromes, Thorsten: Zum Scheitern des internationalen Einsatzes in Afghanistan, in: Politische Vierteljahresschrift, DOI 10.1007/s11615-023-00508-9.

Auch der Erklärung, das Scheitern resultiere aus dem zu geringen Umfang des Einsatzes und daher aus der mangelnden Entschlossenheit der Verantwortlichen, traue ich zahlreichen Zuspruch zu. Sie verspricht Entscheider*innen Kontrolle der Lage, bürdet ihnen damit aber die vollständige Verantwortung für Fehlschläge auf. Im besten Fall führt das bei Entscheidungen über Einsätze zu einem besonders besonnenen Abwägen. Für wahrscheinlicher halte ich allerdings, dass Chancen und Risiken eines potentiellen Einsatzes falsch eingeschätzt werden. Denn käme es nur auf den Umfang des Einsatzes an, würden die geographischen, demographischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse im Zielland ebenso wenig einen Unterschied machen wie die Interessen und Strategien der Konfliktparteien oder die Politik anderer externer Mächte. Diese Annahme mutet extrem gewagt an, auch im Lichte der oben angerissenen Kontroversen zum Scheitern in Afghanistan, in denen oft beide Seiten innerafghanische Faktoren und deren Zusammenspiel mit dem internationalen Einsatz heranziehen. Formuliert also die Enquete-Kommission des Bundestages Lehren aus Afghanistan für etwaige Einsätze in der Zukunft, dann sollte sie Abstand halten zur Annahme, Erfolg oder Scheitern resultiere vor allem oder allein aus dem Umfang des eigenen Engagements.


Cover PRIF Spotlight 11/2023Download (pdf): Gromes, Thorsten (2023): Scheitern in Afghanistan: Wenn es sich Ursachenforschung zu einfach macht, PRIF Spotlight 11/2023, Frankfurt/M.

Zu den Fußnoten

 

 

 

 

 

 


 

Thorsten Gromes
Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

Thorsten Gromes

Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

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