Ecuador hat in den vergangenen Jahren eine beispiellose Eskalation krimineller Gewalt erlebt. Im Jahr 2023 wies der südamerikanische Andenstaat die höchste Homizidrate Lateinamerikas auf. Als die Gewalt im Januar 2024 erneut eskalierte, rief der neugewählte Präsident Daniel Noboa den Kriegszustand aus und erklärte 22 kriminelle Banden zu terroristischen Gruppen. In diesem Blogartikel, der auf einem gleichnamigen TraCe Policy Brief basiert, identifizieren wir zentrale Ursachen der Gewalteskalation. Abschließend diskutieren wir, was politisch aus dieser Ursachenanalyse folgt.
Im Vergleich zu den Nachbarländern Kolumbien und Peru galt Ecuador lange Zeit als Insel des Friedens. Von Bürgerkrieg, bewaffneten Gruppen und militärischer Aufstandsbekämpfung weitestgehend verschont, lag auch das allgemeine Gewaltniveau auf einem für Lateinamerika ungewöhnlich niedrigem Niveau. Nach einem mehrjährigen Rückgang lag die Homizidrate, d. h. die Anzahl außerlegaler intentionaler Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner*innen, in Ecuador in den Jahren 2015 bis 2018 bei rund sechs – und damit ungefähr auf dem Niveau der traditionell gewaltärmsten Länder Lateinamerikas. Seit 2020 ist die Zahl der Tötungsdelikte allerdings in historisch beispielloser Weise eskaliert. Mit einer Homizidrate von 46,5, was 7.787 Tötungsdelikten entspricht, schloss Ecuador das Jahr 2023 als gewalttätigstes Land Lateinamerikas ab (siehe Abbildung 1).
Ein Großteil der tödlichen Gewalt wird auf kriminelle Banden wie die Choneros oder die Lobos zurückgeführt, die in den transnationalen Drogenhandel verwickelt sind, aber über Schutzgelderpressung, Entführungen und Raubüberfälle auch lokal Geschäfte machen. Vor allem die Bevölkerung in den besonders exponierten Küstenregionen Ecuadors ist massiv von krimineller Gewalt betroffen. Homizide sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Im Kampf der Banden untereinander sowie mit dem Staat sind zudem Massaker und Bombenanschläge an der Tagesordnung. Auch Vertreter*innen des Staates sind Zielschreiben der Gewalt: 2023 wurde der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio erschossen, in den vergangenen Monaten zudem eine Reihe von Bürgermeister*innen, weiteren Lokalpolitiker*innen und Vertreter*innen des Justizapparats.
Auch kriminell motivierte Gewalt kann politische Debatten prägen und politische Reaktionen zur Folge haben – darunter der Einsatz repressiver, staatlicher Gewalt, bis hin zum Militäreinsatz. Die Gewalt krimineller Gruppen in Ecuador ist zudem politisch, insofern sie auf die Kontrolle von Territorien und Bevölkerungen zielt und Politik und Justiz zu beeinflussen sucht.

Nachdem die Sicherheitslage Anfang 2024 erneut eskalierte, rief der erst im Oktober 2023 gewählte Präsident, Daniel Noboa, am 9. Januar zunächst einen Ausnahmezustand, einen Tag später den Zustand eines „internen bewaffneten Konflikts“ aus. Im gleichen Zuge erklärte Noboa 22 kriminelle Banden zu terroristischen Gruppen und schickte das Militär zur Terrorismusbekämpfung auf die Straßen sowie in die Gefängnisse des Landes (siehe Zeitleiste). Im April endete zwar der Ausnahmezustand, der „interne bewaffnete Konflikt“ besteht jedoch fort – wobei juristisch umstritten ist, was dies genau bedeutet. Während des Ausnahmezustandes nahmen die Sicherheitskräfte über 18.000 Personen fest und führten über 260 Operationen gegen „terroristische Gruppen“ durch. Nachdem die Tötungsdelikte in den ersten beiden Wochen des Ausnahmezustandes deutlich zurückgingen, stieg die Zahl danach wieder auf über 100 Tötungsdelikte pro Woche. Zuletzt kam es auch wieder vermehrt zu Massakern und Morden an politischen Funktionsträger*innen. Gleichzeitig berichten Menschenrechtsorganisationen von weitreichenden Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des Militäreinsatzes. Vor allem in Gefängnissen seien die Zustände menschenunwürdig. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt außerdem in dutzenden Fällen von angeblicher Folter, Misshandlungen und außerrechtlichen Tötungen.
Eine zentrale Frage, die sich angesichts der dramatischen Entwicklungen in Ecuador stellt, ist die nach den Ursachen und Hintergründen der gegenwärtigen Gewalt- und Sicherheitskrise. In diesem Blogartikel fassen wir die Ergebnisse einer Analyse zusammen, die in der Revista de Ciencia Política (RCP) erschienen ist. Demnach lassen sich auf Basis der existierenden Forschung drei Faktorenbündel identifizieren, die im Zusammenspiel die Gewalteskalation erklären helfen (siehe z. B. hier, hier, hier und hier): (1) die zunehmende Rolle Ecuadors im transnationalen Drogengeschäft, (2) die Rekonfiguration krimineller Gruppen im Land sowie (3) der soziale und politische Kontext Ecuadors. Abschließend diskutieren wir vor dem Hintergrund der aktuellen Lage – nach etwa einem halben Jahr des „Kriegszustands“ – die politischen Implikationen unserer Analyse.

Drei zentrale Einflussfaktoren für die Gewaltdynamiken in Ecuador
(1) Die zunehmende Rolle Ecuadors in der transnationalen Drogenökonomie: Zwischen den beiden größten Koka- und Kokainproduzenten Kolumbien und Peru gelegen, ist Ecuador historisch ein wichtiges Transitland des Drogenhandels. Seit Einführung des US-Dollar als Landeswährung im Jahr 2000 ist die Attraktivität Ecuadors für (illegale) internationale Transaktionen und Geldwäsche gestiegen. In den vergangenen Jahren haben Ecuadors große Pazifikhäfen durch Verschiebungen der weltweiten Drogenhandelsrouten massiv an Bedeutung gewonnen. So wird das Gros des Handels in die USA nicht mehr über die Karibik, sondern über den Pazifik nach Mexiko und dann über den Landweg abgewickelt. Zudem ist der Kokainkonsum insbesondere in Europa angestiegen. Dieser Absatzmarkt wird über große Containerschiffe versorgt, die etwa ecuadorianische Bananen exportieren.
Gleichzeitig hat Ecuador unter Präsident Rafael Correa (2007–2017) die Zusammenarbeit mit den USA in Sachen Drogenbekämpfung massiv reduziert und konkret die US-Militärbasis in Manta geschlossen, ohne alternative lokale Kapazitäten aufzubauen. Negative Konsequenzen für Ecuador hatte schließlich auch das Friedensabkommen zwischen dem kolumbianischen Staat und der FARC-Guerilla im Jahr 2016. Zuvor hatten die FARC das Drogengeschäft an der kolumbianischen Südgrenze zu Ecuador weitgehend kontrolliert und das ecuadorianische Grenzgebiet primär als Rückzugsgebiet genutzt. Mit der Demobilisierung der FARC kam es zu einer Fragmentierung der in Drogenproduktion und -handel involvierten Gruppen, die auch auf ecuadorianischem Territorium zunehmend aktiv sind. Als Ergebnis dieser Verschiebungen sind neben lokalen ecuadorianischen Gruppen nun auch mexikanische Kartelle, unterschiedliche kolumbianische nicht-staatliche Gewaltakteure, venezolanische Banden sowie europäische Mafiaorganisationen in Ecuador präsent.
(2) Die Rekonfiguration der kriminellen Gruppen Ecuadors: Drogenhandel und Präsenz krimineller Gruppen gehen nicht per se mit hohen Gewaltniveaus einher. Wie Beispiele aus Brasilien oder Mexiko zeigen, ist Gewalteskalation häufig die Gegenreaktion auf staatliche Repression einerseits sowie andererseits Folge einer Fragmentierung der Landschaft krimineller Gruppen, die oft nach der Ermordung oder Festnahme ranghoher Bandenmitglieder eintritt. In Ecuador verband sich die oben benannte, von außen induzierte Ausdifferenzierung der Drogenökonomie mit einer internen Fragmentierung der kriminellen Gruppen. In Folge der Ermordung des Anführers der bis dahin dominanten kriminellen Gruppe, Los Choneros, im Dezember 2020 entstanden eine ganze Reihe von Splittergruppen, darunter Los Lobos, Los Tiguerones und Los Chone Killers. Diese Gruppen konkurrieren seitdem gewaltsam um die Kontrolle der Drogenströme sowie um je territoriale Vorherrschaft. Die Rivalitäten werden durch Allianzen mit ihrerseits konkurrierenden transnational operierenden Gruppen weiter verschärft. Während die Choneros Berichten zufolge mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammenarbeiten, kooperiert die zurzeit wichtigste Konkurrenz, Los Lobos, mit dem mexikanischen Cártel Jalisco Nueva Generación. Das Kokain beziehen beide Gruppen von konkurrierenden FARC-Dissidentengruppen aus Kolumbien. Mit Blick auf den Handel in Richtung Europa spielt vor allem die albanische Mafia in Ecuador eine wichtige Rolle. Und damit sind nur die wichtigsten Gruppen benannt.
Historisch waren die meisten kriminellen Organisationen in Ecuador lokale Straßenbanden, die hauptsächlich Kleinsthandel, Erpressungen und Schmuggel für größere Drogenorganisationen durchführten. Mit der Expansion des Drogenhandels in und durch Ecuador wurden diese Pandillas zu Juniormitgliedern mächtiger, krimineller „Holding-Unternehmen“. Die Verhaftung ihrer Anführer und Mitglieder auf der einen Seite, und die Überbelegung der Gefängnisse und Korruption im Sicherheitssektor auf der anderen Seite führten zudem dazu, dass die Gefängnisse Ecuadors zur Operationsbasis der Gruppen wurden. Entsprechend begann die Eskalation der Gewalt zwischen den konkurrierenden Gruppen sowie gegen den Staat mit Aufständen und Massakern in Gefängnissen.
(3) Der soziale und politische Kontext in Ecuador: Die Jahre, in denen die Homizidrate in Ecuador zurückging, waren Jahre des Wirtschaftswachstums, des Ausbaus sozialpolitischer Maßnahmen, sowie der Investition in Präventionsprogramme und in den Justiz- und Sicherheitsapparat. Hinzu kamen die Ausweitung kommunaler Polizeiarbeit und ein Programm zur sozialen Integration von Jugendbanden. Mit dem Einbruch der Erdölpreise im Jahr 2014 endete diese expansive Phase, und mit dem Wechsel von Correa zu seinem Nachfolger Lenín Moreno (2017–2021) setzte sich eine Strategie der Sparpolitik und der austeritätsgetriebenen Staatsreform durch, die auch unter Guillermo Lasso (2021–2023) fortgesetzt wurde. Im Ergebnis wurden die Budgets für Strafvollzug und innere Sicherheit gekürzt, zuständige Ministerien und Sicherheitsinstitutionen aufgelöst oder restrukturiert. Zugleich weisen Korruptionsskandale und -verfahren darauf hin, dass es kriminellen Akteuren – bereits unter Correa – gelungen ist, ihren Einfluss auf Justiz, Sicherheitsapparat und Politik bis in höchste Kreise auszubauen. Gleichzeitig verschlechterte sich die sozioökonomische Lage der Bevölkerung – und dies noch einmal dramatisch in Folge der COVID-19-Pandemie, die Ecuador besonders hart traf. Unter den unmittelbaren Folgen waren auch der vollständige Kontrollverlust in den massiv überbelegten Gefängnissen sowie ideale Bedingungen für die Rekrutierungsstrategien krimineller Gruppen. Schätzungsweise rund 50.000 junge Menschen in Ecuador, die keine anderen Perspektiven haben, beziehen ihre „Gehälter“ von entsprechenden Banden.
Implikationen und Ausblick
Aus den Gewaltursachen, die wir in diesem Artikel knapp zusammengefasst haben, ergeben sich keine konkreten Rezepte zur Verbesserung der Situation. Es lassen sich aber einige wichtige Implikationen ableiten, die bei der Entwicklung von Strategien der Gewaltreduktion und der Kriminalitätsbekämpfung berücksichtigt werden sollten.
Erstens verweist die zentrale Rolle der grenzüberschreitenden Drogenökonomie darauf, dass nationale Maßnahmen nur begrenzt erfolgversprechend sein können. Dies gilt allzumal für ein relativ ressourcenarmes Land wie Ecuador, das außerordentlich finanzstarken und mächtigen Drogennetzwerken gegenübersteht. Internationale Kooperation ist insofern zentral, sowohl zwischen Produktions- und Transitländern als auch zwischen Drogen exportierenden und importierenden Ländern. Aktuelle Bemühungen, die Kooperation zwischen Hafenstädten in Europa und Lateinamerika in diesem Bereich zu verstärken, weisen insofern in die richtige Richtung. Solange an der materiellen Basis des transnationalen Drogengeschäfts nicht gerüttelt wird, werden allerdings selbst erfolgreiche Maßnahmen bestenfalls zu einer Verschiebung des Problems in andere Länder führen. So schaut Lateinamerika auf Jahrzehnte des erfolglosen Versuchs, Drogenproduktion und -handel durch einen militärisch-repressiven „Krieg gegen die Drogen“ unter Kontrolle zu bringen, zurück. Dies legt nahe, dass letztlich nur eine umfassende Entkriminalisierung des Drogengeschäfts, die illegalen Akteuren das Geschäft schlicht entzieht, strukturelle Verbesserungen ermöglichen dürfte.
Die Bedeutung der Fragmentierung krimineller Gruppen verweist zweitens auf ein zentrales Risiko repressiver Strategien. Selbst wenn es der ecuadorianischen Regierung im Zuge ihrer aktuellen militärischen Offensive gelingt, die wichtigsten Gruppen wie Los Choneros und Los Lobos in Ecuador spürbar zu schwächen, heißt das keineswegs, dass die Gewalt dauerhaft zurückgeht. Im Gegenteil: Die sich aktuell weiter zuspitzende Gewalt in Küstenstädten wie Manta und Durán scheint zumindest zum Teil just Folge von Machtkämpfen im Zuge der Zersplitterung lokal operierender Gruppen zu sein.
Drittens zeigt die Diskussion der sozialen und politischen Kontextbedingungen, dass ein repressives Vorgehen allein mindestens zu kurz greift. Ohne eine integrale Stärkung von Staat und Gesellschaft ist eine nachhaltige Bearbeitung der Gewaltkrise kaum denkbar. Kriminalitätsbekämpfung und Staatsreformen müssten insofern mit Investitionen in Justiz und Sicherheitskräfte, Präventiv- und Rehabilitationsmaßnahmen, Sozialprogramme, Bildung und Arbeitsmarktpolitik verbunden werden. Dauerhaft erfolgreiche Gewaltreduktion und Kriminalitätsbekämpfung ist insofern unvereinbar mit einer Sparpolitik, wie sie von Präsident Noboa verfolgt wird und in Gestalt eines Programms des Internationalen Währungsfonds auch global Unterstützung findet.
Dieser Beitrag erschien zuerst als TraCe Policy Brief. Mehr lesen.