Der am 1. August 2024 in Istanbul durchgeführte Austausch von insgesamt 26 Personen zwischen Russland und mehreren westlichen Ländern ist einer der größten und ungewöhnlichsten Austausche von Gefangenen seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Entscheidung, zehn russische Agenten im Gegenzug für die Freilassung von 16 in Russland und Belarus inhaftierten russischen und westlichen Politikern und Journalisten aus der Haft zu entlassen, stößt jedoch vor allem in Deutschland auf heftige Kritik.
Der Gefangenenaustausch zwischen Russland und mehreren westlichen Ländern erinnert stark an die Praktiken des Kalten Krieges. Insgesamt gab es zwischen Februar 1962 und September 1986 acht bekannte Fälle, bei denen 51 Personen von beiden Seiten ausgetauscht wurden. Die meisten davon auf der Glienicker Brücke in Berlin. Der größte Austausch fand 1985 dort statt, als 29 Personen freikamen; der prominenteste unter ihnen war der polnische Spion Marian Zacharski. Auch heute wird Deutschland wieder zum Schauplatz solcher Austauschpolitik, diesmal am Flughafen Köln-Bonn.
Die Parallelen sind offensichtlich. Obwohl Moskau in den letzten Jahrzehnten den Austausch von Spionen und anderen Aktivisten in der Regel separat behandelt hat, wirft Putin diesmal Oppositionelle und Geheimdienstler in einen Topf wie zu Zeiten des Kalten Krieges. So wurden im April 1979 fünf sowjetische Dissidenten gegen zwei für die UNO tätige sowjetische KGB-Geheimdienstmitarbeiter ausgetauscht. Im Austausch vom 1. August 2024 wurden ebenfalls Russen gegen ihre eigenen Landsleute ausgetauscht. Von 26 Menschen, die ausgetauscht worden, waren 21 Russen oder hatten einen russischen Pass.
Die Bedeutung dieses Austauschs, trotz punktuellen Ähnlichkeiten, liegt jedoch weniger in den historischen Parallelen als vielmehr in der politischen Botschaft, die Putin damit sowohl nach außen als auch nach innen sendet.
Putins Doppelspiel
Nach außen signalisiert Putin mit diesem Austausch, dass Russland trotz des aktuellen Konflikts bereit ist, punktuell zu verhandeln. Dass Russland und westliche Länder gerade jetzt eine Vereinbarung in so großem Stil treffen konnten zeigt, dass Moskau noch Kooperationsmöglichkeiten sieht, selbst wenn die Beziehungen unter dem Gefrierpunkt sind.
Doch bei näherer Betrachtung wird klar, dass Putin ein doppeltes Spiel betreibt. Einerseits zeigt er, dass Russland in der Lage ist, seine Interessen durchzusetzen und Verhandlungen erfolgreich zu führen, auch wenn dies bedeutet, wertvolle „Geiseln“ freizugeben. Dies könnte als Zeichen einer gewissen Flexibilität und Verhandlungsbereitschaft interpretiert werden. Andererseits signalisiert Putin mit der Rückkehr einer in Deutschland für einen Mord verurteilten Person wie Vadim Krasikov, dass der Kreml weiterhin bereit ist, seine Ressourcen zu nutzen, um Gegner auch im Ausland zu finden und auszuschalten. Dies könnte eine Warnung an diejenigen sein, die sich dem Kreml im Westen widersetzen.
Im Inneren ist die Botschaft komplexer. Einerseits demonstriert Putin seine Handlungsfähigkeit und die Fähigkeit des russischen Staates, auch unter schwierigen Bedingungen seine Agenten – seien es Spione oder Cyberkriminelle – zu schützen. Dies soll als Zeichen von Stärke und nationaler Souveränität verstanden werden und wird vor allem in den staatlich kontrollierten Medien Russlands als Erfolg gefeiert.
Andererseits könnte die Freilassung von prominenten Oppositionellen wie Wladimir Kara-Murza und Ilja Jaschin, die nun die Möglichkeit haben, die russische Opposition im Exil zu stärken, von einigen als Schwäche oder Konzession interpretiert werden. Um diesen Eindruck zu vermeiden, könnte der Kreml die innenpolitische Kontrolle weiter verschärfen und zusätzliche Repressionen gegen verbleibende Oppositionelle und Kritiker ergreifen, obwohl sich noch 1289 Anti-Kriegs-Politiker und Aktivisten mit in russischer Haft befinden.
Was also für manche (vor allem in den USA) als eine Win-Win-Situation aussieht, könnte bei näherer Betrachtung höchst problematisch sein. Putin lässt seine wertvollsten Geiseln frei und wird es schwer haben, in absehbarer Zeit weitere „Insassen“ zu bekommen, wie zum Beispiel die in den USA für Spionage verurteilte Aldrich Ames oder in Estland vor kurzem verurteilte Vyacheslav Morozov.
Es bleibt weiter unklar, ob Russland mit dieser Geste seine Verhandlungsbereitschaft signalisiert oder eher die vorübergehende Bilanz mit dem Westen zieht, um sich auf weitere Eskalationen vorzubereiten. Auch bleibt die Frage offen, ob die nun freigelassenen russischen Staatsbürger überhaupt nach Russland zurückkehren dürfen oder ob sie, wie in der Sowjetunion, ihre Staatsbürgerschaft verlieren und damit lebenslangen Einreiseverbot in ihre Heimat erhalten.
Risiken für Deutschland
Auch für Deutschland bringt dieser Gefangenenaustausch mehrere Risiken mit sich. Zunächst besteht die Gefahr, dass Russland in Zukunft weitere deutsche Staatsbürger oder andere westliche Ausländer als Druckmittel festnimmt, um ähnliche Austauschverhandlungen zu erzwingen. Dass Berlin einen seiner prominentesten Gefangenen, den „Tiergartenmörder“ Vadim Krasikov, freilassen musste, hat in Deutschland bereits für heftige Kritik gesorgt. Kritiker bemängeln, dass die Freilassung von Krasikov, die als „Abschiebung“ dargestellt wurde, unrechtmäßig abgelaufen sei und die Glaubwürdigkeit des deutschen Rechtssystems infrage stelle.
Ein weiteres Risiko ergibt sich aus der Aufnahme russischer Oppositioneller in Deutschland. Diese Personen könnten zum Ziel russischer Geheimdienste werden, was nicht nur ihre Sicherheit, sondern auch die öffentliche Sicherheit in Deutschland und Europa gefährden könnte. Der Austausch schafft möglicherweise gefährliche Präzedenzfälle, die Russland dazu ermutigen könnten, weiterhin unschuldige Menschen festzunehmen, um politische Zugeständnisse zu erzwingen oder andere Forderungen wie die Aufhebung von Sanktionen durchzusetzen – der Austausch könnte also als „Fuß in der Tür“ für weitere Schritte dienen.
Wie weiter?
Der Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen mag kurzfristig als diplomatischer Erfolg gewertet werden, birgt jedoch langfristig erhebliche Risiken. Putin zeigt sich geschickt in der Nutzung solcher Maßnahmen, um seine Macht zu demonstrieren und den Westen in eine schwierige Lage zu bringen. So wurde zum Beispiel sofort nach dem Austausch preisgegeben, dass Krasikov Mitarbeiter des FSB sei, was immer bestritten wurde.
Für Deutschland bedeutet dies eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber möglichen zukünftigen Erpressungen und eine größere Herausforderung, die Balance zwischen humanitären Anliegen und nationaler Sicherheit zu wahren. Während solche Austausche dazu beitragen können, das Leben von politischen Gefangenen zu retten und den Dialog aufrechtzuerhalten, könnten die Sicherheit und Stabilität in Europa weiter untergraben.
Ein erfolgreicher Gefangenenaustausch, bedeutet also längst keinen Durchbruch bei der Lösung der Kernfragen im russisch-westlichen Konflikt. Im Gegenteil, solche Entscheidungen schaffen möglicherweise gefährliche Präzedenzfälle, da Putin weiterhin ungehindert unschuldige Menschen, sowohl aus dem Ausland als auch eigene Oppositionelle in Russland inhaftieren könnte, um seine Spione zurückzubekommen.
Man muss gleichzeitig anerkennen, dass die Möglichkeit, durch solche Verhandlungen Menschenleben zu retten und politische Gefangene zu befreien, nicht leichtfertig abgetan werden darf. Angesichts der schwierigen geopolitischen Lage bleibt der Austausch von Gefangenen eine wichtige diplomatische Maßnahme, um Dialog und Kontakte aufrechtzuerhalten und die russischen demokratischen Kräfte im Exil in Europa zu stärken. Eines der Probleme der russischen politischen Opposition im Exil war das Fehlen von Führungspersönlichkeiten, da diese entweder getötet wurden oder im Gefängnis saßen. Nun haben Wladimir Kara-Murza und Ilja Jaschin die Chance, die russische Opposition im Exil neu zu erfinden und diese zu vereinen. Beide haben die Fähigkeiten, die Anerkennung und das moralische Recht, ihre Vision des Kampfes gegen Putins Regime anzubieten.
Auch wenn solche Maßnahmen höchstwahrscheinlich kein Ende des jetzigen Konflikts mit Russland herbeiführen können, könnte eine Art Pause in der heutigen Krise zwischen Russland und Westen als Folge dieses Austausches nicht ausgeschlossen werden. So wie sich die Situation an der Front in der Ukraine in den letzten Wochen stabilisiert hat, könnte sich auch der politische Konflikt etwas beruhigen. In der jetzigen Lage wäre das schon eine gute Nachricht.