Als der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol im Dezember 2024 überraschend das Kriegsrecht ausrief, galt dieses zwar nur sechs Stunden. Das Land wurde aber dennoch in eine tiefe politische Krise gestürzt. Yoon wurde vom Parlament des Amtes enthoben, widersetzte sich dann aber wochenlang seiner Festnahme. Die Neuwahlen des Präsidentenamtes am 3. Juni finden nun vor dem Hintergrund einer scharfen innenpolitischen Polarisierung und wachsender handels- und sicherheitspolitischer Herausforderungen statt. Diese Vorgänge stellen auch Deutschlands „Wertepartnerschaft“ mit Südkorea in Frage, die zukünftig pragmatischer ausgerichtet werden sollte.
Als am späten Abend des 3. Dezember 2024 Präsident Yoon Suk-yeol das Kriegsrecht ausrief, gingen wie aus der Zeit gefallene Bilder um die Welt: Zehntausende Bürger*innen versammelten sich innerhalb kürzester Zeit vor dem Parlament. Abgeordnete filmten sich per Livestream dabei, wie sie über Mauern kletterten, um in das abgesperrte Parlament zu kommen. Hubschrauber mit militärischen Spezialkräften landeten auf dem Gelände und versuchten in das Parlament einzudringen, um die dort laufende Abstimmung über die Ablehnung des Kriegsrechts aufzuhalten. Letztlich schreckten die Kommandeure vor Ort aber vor Waffengewalt zurück1 und zogen nach kurzer Zeit wieder ab, Yoon selbst setzte das Kriegsrecht kurz darauf außer Kraft. Für viele in Südkorea war der versuchte Selbstputsch dabei wie ein nicht zu akzeptierender Rückfall in die alten Zeiten der Militärdiktaturen der 1960er und 1980er Jahre.2 Die nur sechs Stunden währende Episode kann daher nur als vorläufiger Höhepunkt einer seit Monaten schwelenden innenpolitischen Krise gelten.
Präsident Yoon selbst hatte seinen versuchten Selbstputsch nämlich nicht mit einer militärischen Notlage begründet, sondern mit der innenpolitischen Blockadehaltung in Haushaltsfragen des von der oppositionellen Demokratischen Partei (DP) dominierten Parlamentes. Yoon erklärte die politische Opposition zu Kriminellen,3 die mithilfe Nordkoreas die liberale Demokratie stürzen möchten. Laut später veröffentlichter Pläne sollten im Zuge des Kriegsrechts zahlreiche Abgeordnete – aus der Opposition wie auch aus Yoons eigener People Power Party (PPP) – sowie Staatsanwält*innen und Prominente festgenommen werden. Das Ausmaß des Putschversuchs zeigt, wie ernst dieser zu nehmen ist, auch wenn er rasch an seiner unzureichenden Planung scheiterte.
Seit sich der konservative Yoon im März 2022 in der knappsten Präsidentschaftswahl der südkoreanischen Geschichte durchgesetzt hatte, sah er sich einem von der Opposition dominierten Parlament gegenüber. Yoon, der als Staatsanwalt die Amtsenthebung seiner Vorvorgängerin im Präsidentenamt, Park Geun-hye, mitbetrieben hatte, ist ein politischer Seiteneinsteiger mit berüchtigter Kompromisslosigkeit und Beratungsresistenz.4 Während seiner zweieinhalbjährigen Amtszeit hat Yoon allein mehr als doppelt so oft sein präsidentielles Veto gegen Entscheidungen des Parlamentes eingelegt wie alle seine demokratisch gewählten Vorgänger seit 1988 zusammen; zudem erließ er eine präzedenzlos hohe Anzahl an präsidentiellen Dekreten. Gleichzeitig nahm in Yoons Amtszeit die bestehende innenpolitische Polarisierung Südkoreas weiter zu, was sich in unversöhnlichen Diskursen und teils juristischer Verfolgung der jeweiligen Gegner in einer Art „Rachepolitik“5 äußerte. Bereits der V-Dem-Report von März 2024 – also noch vor dem jüngsten Selbstputschversuch – listete Südkorea entsprechend auch schon als sich „re-autokratisierende“ Demokratie.6
Diese starke politische Polarisierung zeigte sich auch in den krisenhaften Monaten nach der Amtsenthebung Yoons durch das Parlament am 14. Dezember 2024, die selbst erst im zweiten Anlauf gelang, bis zu ihrer juristischen Bestätigung durch das Verfassungsgericht Anfang April 2025. Yoon selbst zeigte keine Kooperationsbereitschaft mit den Untersuchungsbehörden und widersetzte sich mehrere Wochen seiner Festnahme. Die konservative Partei war gespalten darüber, wie mit dem abgesetzten Präsidenten aus dem eigenen Lager umzugehen ist, wobei zunehmend auch eine immer größer werdende Anzahl an Anhänger*innen von Yoon auf die Straßen ging, nicht wenige darunter motiviert durch Verschwörungstheorien aus den immer einflussreicher werdenden sozialen Medien.7
Yoons außenpolitisches Erbe und internationale Herausforderungen
Während die Verfassungskrise und innenpolitische Polarisierung das Ende der Ära Yoon dominierten, hatte er sich zuvor vor allem durch eine neue außenpolitische Agenda profiliert. Als thematische Klammer rief Yoon schon zu seinem Amtsantritt eine „Wertediplomatie“ aus, die internationale Freunde und Feinde seines Landes vor allem durch deren Status als Demokratien oder Autokratien zu identifizieren suchte.8 Damit lag Yoon klar auf der außenpolitischen Linie der Biden-Regierung, wonach Demokratien zur Abwehr autoritärer Bedrohungen stärker global kooperieren müssten: Seit 2022 nahm er persönlich an allen NATO-Gipfeln teil, autorisierte finanzielle und humanitäre Unterstützung der Ukraine, und positionierte sich in einschlägigen UN-Resolutionen klar an der Seite des „Globalen Westens“. Aus heutiger Sicht ironischer Höhepunkt dieser Agenda war die Ausrichtung des letzten internationalen Demokratiegipfels 2024.
Während Yoon sich mit seiner erklärten Gegnerschaft zu Nordkorea und engeren Anlehnung an die USA im Rahmen des konservativen Mainstreams bewegte, setzte er einen persönlichen Schwerpunkt vor allem in der Annäherung an Japan. Diese Politik war jedoch innenpolitisch stark umstritten: An der Aufarbeitung der japanischen Kolonialherrschaft, der Kompensation koreanischer Zwangsarbeiter*innen und insbesondere der Erinnerung an die sexuelle Ausbeutung sogenannter „Trostfrauen“ entzündeten sich immer wieder anti-japanische Proteste und Ressentiments.9 In der Amtszeit Yoons verbesserte sich zwar das öffentliche Ansehen Japans in Korea deutlich – in einer Umfrage von 2024 äußerten 42% der Befragten eine positive Meinung, gegenüber 29% im Vorjahr.10 Das ist jedoch vor allem Konsequenz der scharfen innenpolitischen Polarisierung: Konservative Koreaner*innen sehen inzwischen Japan sehr viel positiver, progressive hingegen etwas negativer.11
Yoons Hinwendung zu Japan öffnete dabei den Weg für eine engere trilaterale sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den USA und Japan. Dies war im Sinne der Biden-Regierung, ihre Allianzen stärker untereinander zu verflechten und dadurch der Herausforderung eines aufsteigenden Chinas zu begegnen. Diese Agenda wird jedoch durch die Trump-Regierung inzwischen in Frage gestellt.12 Schon in seiner ersten Amtszeit drang Trump vor allem auf eine Reduktion der amerikanischen Militärpräsenz in Südkorea, verhandelte mit Partnern lieber bilateral oder überging diese gleich ganz – wie in seiner Nordkoreapolitik. Seit seiner Wiederwahl wird in Südkorea ähnlich wie in Europa darüber diskutiert, wie sich Sicherheit auch ohne amerikanische Unterstützung gewährleisten lässt. Angesichts der nuklearen Bewaffnung Nordkoreas schließt dies auch Überlegungen zu einem eigenen Atomwaffenprogramm ein, wofür sich bereits eine deutliche Mehrheit der Wähler*innen ausspricht.13
Wahlkampf in Krisenzeiten: Was lässt sich von Yoons Nachfolger erwarten?
Yoons Nachfolger soll in einer Präsidentschaftsneuwahl am 3. Juni 2025 bestimmt werden. In den Umfragen führt der bisherige Oppositionsführer im Parlament, Lee Jae-myung, der bereits 2022 erfolglos gegen Yoon angetreten war. Lee ist ebenfalls eine polarisierende Figur und gilt als Opportunist, seine Kandidatur ist daher politisch riskant: Noch im Wahlkampf 2022 machte er mit progressiven Forderungen wie einem Grundeinkommen international auf sich aufmerksam, im Februar 2025 behauptet er nun, seine links-nationalistische Partei sei eigentlich zentristisch-konservativ.14 Zudem stand Lee bereits mehrfach wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht, derzeit läuft gegen ihn noch ein Prozess wegen eines Wahlrechtsverstoßes aus Zeiten seiner ersten Kandidatur. Anfang 2024 überlebte er ein politisches Messerattentat schwer verletzt. In seinem bisherigen Wahlkampf spielt die für seine Partei traditionell wichtige Entspannungspolitik mit Pjöngjang lediglich eine Nebenrolle.15 Viel lieber spricht Lee von einem 70-Milliarden-Investitionspaket für die heimische KI-Industrie,16 vom Ausbau der Rüstungsindustrie als Exportsektor sowie von engeren Beziehungen mit der Europäischen Union und dem „Globalen Süden“.17 Sollte Lee tatsächlich der nächste Präsident werden, dürfte das wohl dennoch das Ende von Yoons ambitionierter außenpolitischer Agenda bedeuten. Insbesondere in der Frage der Annäherung an Japan stellt sich nicht nur in Tokio die Frage, ob Lees nunmehr konzilianteren Töne nur seinem zentristischen Wahlkampf geschuldet sind oder tatsächlich einen Politikwechsel vermuten lassen.18

Der Kandidat der konservativen PPP, Kim Moon-soo, ist einer von Yoons wenigen verbleibenden Unterstützern und gilt als anti-nordkoreanischer Hardliner. Sein Sieg in den Vorwahlen lässt sich als Zeichen dafür lesen, wie wenig das konservative Lager mit dem Erbe Yoons gebrochen hat. Im Wahlkampf bekräftigte Kim die Militärallianz mit den USA und brachte die Möglichkeit, gemeinsam mit Washington Atom-U-Boote als Abschreckungsmittel zu betreiben, ins Spiel.19 Bestrebungen der PPP-Führung, Kim dazu zu bewegen, dem unabhängigen ehemaligen Premierminister Han Duck-soo die Kandidatur zu überlassen, sind an Kims Widerstand kurzfristig und öffentlichkeitswirksam gescheitert. Han hatte angekündet als Reformkandidat antreten zu wollen, dessen einziges Ziel eine politische Reform hin zu einem semi-parlamentarischen System sein werde.
Bedingt durch die schwere Verfassungskrise und die Kürze des Wahlkampfs drehte sich dieser vor allem um innenpolitische Fragen; Polarisierung und gegenseitige Dämonisierung zwischen den Lagern nehmen weiter zu und werden wohl auch die nächste Regierung, egal welcher Couleur, beschäftigen. Der außenpolitische Gestaltungsspielraum dürfte gegenüber der Ära Yoon schrumpfen.
Konsequenzen für die deutsche Politik
Für die deutsche Indopazifik-Politik werfen die Ereignisse in Korea mehrere Fragen auf. Diese stand bislang stark unter dem Zeichen der Verringerung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China und der Annahme, dass sich Demokratien und Autokratien in einem globalen Systemwettbewerb miteinander befinden. Entsprechend wurde bei der angestrebten Diversifizierung von Deutschlands Beziehungen mit asiatisch-pazifischen Staaten vor allem auf eine Reihe von „Wertepartnern“ gesetzt, darunter explizit Südkorea.20 Dieser recht diffuse Begriff bezieht sich oft auf deren demokratische Verfassungen und Eintreten für eine „regelbasierte Ordnung“, aber auch auf ihre Bejahung liberaler Wertevorstellungen.21 Von dieser Warte aus erschien Präsident Yoon als attraktiver Partner, hatte er seine Agenda doch ebenfalls explizit unter das Werteprimat gestellt und den Zusammenhalt zwischen Demokratien und Demokraten beschworen.
Der Fall Südkoreas zeigt jedoch, wie anfällig für Enttäuschungen eine Politik ist, die sich auf die Suche nach Wertepartnern in anderen Weltregionen kapriziert. Erstens ist die offensive Betonung liberaldemokratischer Werte kein Garant dafür, dass auch entsprechend gehandelt wird. Unter Yoon diente diese vor allem der Rechtfertigung eines außenpolitischen Kurswechsels – in der innenpolitischen Praxis wurde dann in beispielloser Form gegen sie verstoßen. Hier waren Werte offensichtlich nicht politikleitend, sondern nur Mittel zum Zweck, um in einer angespannten Sicherheitslage stärkere Rückendeckung durch den Globalen Westen zu mobilisieren. Zweitens sind Wertevorstellungen meist subjektiv und innenpolitisch umstritten und Agenden, die auf ihnen fußen, entsprechend instabil. Yoon begründete etwa seine Hinwendung zu Japan mit ihrer geteilten Bejahung „universeller Werte“;22 diese Einschätzung ist in Südkorea angesichts langjähriger Auseinandersetzungen über das Erbe der Kolonialzeit jedoch umstritten.
Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass Südkorea kein Partner mehr für Deutschland sein sollte: Tatsächlich teilen beide Staaten umfangreiche Interessen und normative Vorstellungen in der Verteidigung einer regelbasierten (nicht unbedingt liberalen) Ordnung, eines globalisierten Handels, in der Klima- und Entwicklungspolitik, der Zusammenarbeit in Global-Governance-Fragen und zukünftig vielleicht auch im Rüstungsbereich.23 In einem Zeitalter der Rivalität zwischen Großmächten teilen beide Seiten vor allem auch die Motivation, ihre Eigenständigkeit zu bewahren und diese dazu zu bewegen, ihre Konkurrenz friedlich auszutragen. Diese Kongruenz ist langfristig und benötigt keine übersteigerte wertepolitische Aufladung; hier wäre stattdessen eine pragmatische Kooperation zu empfehlen, die sich auf geteilte Interessen, geltendes internationales Recht und global anschlussfähige Normen wie das Friedensgebot bezieht. Eine solche Partnerschaft wäre berechenbarer und robuster gegenüber innenpolitischen Verwerfungen.
Download (pdf): Abb, Pascal/Flamm, Patrick (2025) : Korea nach dem Putschversuch. Mit Neuwahlen aus der politischen Krise?, PRIF Spotlight 4/2025, Frankfurt/M.