Schule und Jugendhilfe sollten stärker in Präventionsprogramme eingebunden werden
Schule und Jugendhilfe sollten stärker in Präventionsprogramme eingebunden werden | Photo: flickr.com | CC0

Radikalisierungsprävention – Alles da, wo es sein muss?

Die Radikalisierungsprävention hat sich in den vergangenen fünf Jahren zu einem bedeutsamen Handlungsfeld entwickelt. Bund, Länder und Kommunen entwickelten mit hohem Tempo und viel Geld Programme und Maßnahmen, die einen Beitrag zur Eindämmung des gewaltbereiten Salafismus leisten sollen. Soweit die gute Nachricht. Angesichts der kaum noch überblickbaren Präventionslandschaft stellen sich aber auch kritische Fragen: Finden die Aktivitäten dort statt, wo konkreter Bedarf besteht? Darüber hinaus werden die Regelakteure in Schule und Jugendhilfe noch nicht ausreichend berücksichtigt.

Wachsende Programmvielfalt

Prävention ist wichtig. Dieses Credo wird unisono in fast allen politischen Lagern in Bund und Ländern geteilt. Folglich sind seit fünf Jahren erhebliche Aktivitäten zu verzeichnen. Mit gutem Beispiel voran ging der Bund. Zunächst entwickelte das Familienministerium das Präventionsprogramm „Demokratie leben!“. Es förderte verschiedene Programmbereiche im letzten Jahr mit mehr als 100 Millionen Euro. Ähnlich ambitioniert ist das vom Bundesministerium des Innern initiierte „Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus“. Auch hier werden erhebliche Fördermittel verteilt. Daneben gibt es eine Reihe von weiteren Programmen, deren vollständige Auflistung viel Platz in Anspruch nehmen würde. Ferner wären die Maßnahmen der Länder anzuführen. Alle Bundesländer sind mit verschiedenen Ansätzen in der Radikalisierungsprävention tätig. Auch hier kann nicht alles aufgelistet werden. Alleine NRW betreibt derzeit im Wegweiser-Programm mit unterschiedlichen Trägern in 13 Städten Beratungseinrichtungen. Weitere sollen im Laufe des Jahres folgen.

Wissensbasiert und gut geplant?

Radikalisierungsprävention muss auf Wissen basieren. Alle, die Prävention gestalten, müssen wissen, welche Ereignisse es zu verhindern gilt, welche Faktoren diese Ereignisse bedingen und mit welchen Methoden und an welchen Orten sie Maßnahmen durchführen sollen. Zu diesen und anderen Fragen gibt es nach wie vor erheblichen Forschungsbedarf. Strittig ist z. B., welche Faktoren in Radikalisierungsprozessen eine Rolle spielen  und wie diese sich ver­schränken. Dies betrifft unter anderem den Faktor Religion. Manche, so der Politologe Olivier Roy, halten ihn für marginal. Andere, so der Soziologe Gilles Kepel, messen ihm eine sehr hohe Bedeutung zu. Für die konkrete Präventionsarbeit spielt dies eine erhebliche Rolle. Wenn Religion einen gewichtigen Faktor darstellt, ist eine Einbeziehung der Moscheegemeinden geboten. Ist dies nicht der Fall, geraten andere Partner aus den Sozialräumen z. B. Jugendhilfeträger und Vereine ins Blickfeld.

Die derzeit bestehenden Präventionsprogramme und Maßnahmen basieren überwiegend nicht auf belastbarer wissenschaftlicher Expertise. Sie entstanden zu einem Zeitpunkt, als der Handlungsdruck, bedingt durch terroristische Aktivitäten und zahlreiche Ausreisen nach Syrien und Irak, sehr hoch war. Da das Phänomen neu war und die Forschung die Felder noch nicht erschlossen hatte, war es nicht möglich, auf Studien zurückzugreifen. Die Strategiebildung erfolgte auf der Grundlage von Einschätzungen und Beschreibungen von Phänomenen. Folglich entwickelte sich die Präventionslandschaft mehr oder weniger in experimentellen Anordnungen, die durch additives Vorgehen gekennzeichnet waren. Konzepte und Programme wurden auf der Grundlage hinzukommender praktischer Erfordernisse in den vergangenen Jahren sukzessive ergänzt und erweitert.

Wie ist der Sachstand?

Wo stehen wir heute mit der Radikalisierungsprävention? Die Vielzahl von Projekten und Maßnahmen ist kaum noch zu überblicken. Es ist daher kaum möglich über die gesamte Präventionslandschaft zu sprechen. Dennoch sind Tendenzen erkennbar. Zunächst das Positive: Vor allem im Bereich der Beratungsarbeit hat es in den zurückliegenden drei Jahren beträchtliche Fortschritte gegeben. Die Angebote wurden systematisch ausgebaut und sind heute vielerorts niedrigschwellig und ohne zeitliche Verzögerungen für Beratungssuchende erreichbar. Erfreulich ist ferner, dass viele Beratungsangebote hohe fachliche Standards erkennen lassen und dass viele indirekte Präventionsformate entwickelt worden sind. So gibt es nahezu flächendeckend Informationsangebote über Salafismus und Prävention, die der Sensibilisierung relevanter Zielgruppen dienen sollen. Herausragend ist der von der Bundeszentrale für politische Bildung betriebene „Infodienst Radikalisierung“, der professionell aufgearbeitete und aktuelle Informationen zum gesamten Themenfeld bereitstellt.

Jedoch stellen sich auch kritische Fragen. Wer Radikalisierungsprävention im großen Maßstab in Auftrag gibt, erwartet als Ergebnis ein Mehr an Sicherheit. So sollen in belasteten Sozialräumen, die durch hohe Ausreisezahlen gekennzeichnet waren, Risikofaktoren abgebaut werden. Noch offenkundiger ist das Bedürfnis nach Sicherheit in der indizierten Prävention. Die Arbeit mit inhaftierten Gewalttätern aus salafistischen Milieus zielt auf Demobilisierung und Delinquenzvermeidung. Es liegt deshalb in der Natur der Sache, dass Sicherheitsbehörden in der Planung und Umsetzung von Programmen die Tonlage angeben. Das ist verständlich, erzeugt aber auch „Securitization“ bzw. „Versicherheitlichung“. Konkret: Die Wahrnehmung von Gefahr und Bedrohung führt zur Forderung und Implementierung außergewöhnlichen Maßnahmen. Diese verengen mitunter den Blick auf die Handlungs­felder. Prävention wird nicht mehr als ein hochkomplexes Arbeitsfeld betrachtet, das einen hohen Abstimmungsbedarf mit vielen Partnern erfordert. Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass die Radikalisierungsprävention sich als ein eigenständiges Handlungsfeld entwickelt, das sich parallel zu anderen Handlungsfeldern und nach eigenen Regeln etabliert. Eine Folge ist eine mangelnde Anschlussfähigkeit und Verschränkung mit anderen Akteursgruppen in den Sozialräumen. Befördert wird diese Entwicklung auch durch eine Experten- und Spezialistenszene, die – wenn auch nicht immer absichtlich –  den Eindruck erweckt, als ob das präventive Handeln einer eigenen beruflichen Disziplin und eigenständiger Handlungsfelder bedürfe.

Akteure in den Regelsystemen sind von zentraler Bedeutung

Radikalisierungsprävention ist aber eine Gemeinschaftsaufgabe, die in hohem Maße auf die Kooperationsbereitschaft und Mitarbeit vieler Akteure angewiesen ist. Überaus deutlich wird dies, wenn wir die lebensweltlichen Zusammenhänge aus der Perspektive eines Jugendlichen betrachten, der Gefahr läuft sich zu radikalisieren. Die zentrale Frage lautet hier: Wer spielt eine Rolle? Wenn wir von der Kontakthäufigkeit ausgehen, können wir zunächst Eltern und Geschwister auflisten, hiernach folgen Freundinnen und Freunde, ausgewählte Lehrkräfte, die Schulsozialarbeit, der Fußballtrainer, usw. Es sind mithin Akteure auf der Mikro- und Mesoebene, zu denen der Jugendliche mehr oder weniger intensive Beziehungen unterhält; aus diesen Akteuren lässt sich ein Unterstützungsnetzwerk bilden, das gemeinsam eine sich abzeichnende oder bereits vorhandene Radikalisierung bearbeitet. Vor allem die professionellen und semiprofessionellen Akteure (Lehrkräfte, Schulsozial­arbeiter, Trainer usw.) stellen dafür eine wichtige Ressource dar. Das wurde bei der Konzeption von Präventionskonzepten bislang nicht ausreichend berücksichtigt.

Umsteuerung erforderlich

Konzepte der Radikalisierungsprävention sollten deshalb künftig einen stärkeren Sozial­raumbezug aufweisen. Wer Radikalisierungsprozesse abwenden oder unterbrechen will, kann nicht fernab von Lebensweltbezügen agieren. Partner sind hier in erster Linie die professionellen pädagogischen Akteure in Jugendhilfe und Schule. Bisher wurde es versäumt,  z.B. die reguläre Schulsozialarbeit an belasteten Standorten dauerhaft personell zu verstärken. Gleiches gilt für die Lehrkräfte. Auch hier sind erhöhte Ressourcen zwingend geboten. Schließlich soll die Jugendhilfe in den Wohnquartieren angeführt werden. In nahezu allen Kommunen finden wir eine gut aufgestellte Jugendhilfe, die mit einer Vielzahl von Angeboten und Hilfestellungen die Entwicklung junger Menschen mit Empathie und Engagement begleitet. Eine Prävention, die ihre Zielgruppen niedrigschwellig und dauerhaft erreichen will, kann bei den etablierten Trägern der Jugendhilfe fachlich kompetente Partner finden, die bereits funktionierende Zugänge zu den Zielgruppen haben. Angesichts dieser Fakten lautet eine Forderung: Regelsysteme einbinden und stärken.

Michael Kiefer

Michael Kiefer

Michael Kiefer ist Islam- und Politikwissenschaftler. Er forscht an der Universität Osnabrück zu Fragen der Radikalisierung und Radikalisierungsprävention.
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Michael Kiefer ist Islam- und Politikwissenschaftler. Er forscht an der Universität Osnabrück zu Fragen der Radikalisierung und Radikalisierungsprävention.

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