Die Giftgasangriffe im Syrienkrieg haben tausende Opfer gefordert – doch fällt ihnen auch die Chemiewaffennorm zum Opfer? Immer wieder hört man, auch von offizieller Seite, dass das Chemiewaffentabu erodiere, und zwar nicht nur, weil das Assad-Regime wiederholt Chemiewaffen eingesetzt habe, sondern vor allem auch, weil sich die Staatengemeinschaft nicht zu einer angemessenen Strafaktion habe durchringen können. Stimmt die Diagnose „Normerosion“ im Fall Syrien und was sind die richtigen und falschen Schritte, um eine solche abzuwenden?
Die angekündigte Offensive der syrischen Regierung auf die Provinz Idlib scheint abgewendet; die Frage nach der deutschen Beteiligung an einer militärischen Strafaktion im Falle eines erneuten Giftgaseinsatzes ist damit vom Tisch. Es ist zu befürchten, dass sich diese Frage in diesem Konflikt nicht zum letzten Mal gestellt hat – in einem Konflikt, in dem keine Waffenruhe hält und in dem seit 2012 mindestens 74 Mal (und bis zu 390 Mal!) Chemiewaffen eingesetzt wurden. Auch unabhängig von der deutschen Beteiligung ist es richtig und wichtig, zu diskutieren, wie die internationale Gemeinschaft auf massive und wiederholte Verletzungen der Norm des Nicht-Einsatzes von Chemiewaffen reagieren kann, darf und soll. Ein Argument wiegt in dieser Diskussion um angemessene und zielführende Maßnahmen besonders schwer: Durch die syrischen Giftgaseinsätze erodiere das Chemiewaffentabu; dessen Schutz erfordere entschiedene Reaktionen – gegebenenfalls auch militärische.
Ich halte die Diagnose der Normerosion für falsch. Mehr noch, ich halte sie für gefährlich und kontraproduktiv, weil ich fürchte, dass die Diagnose die Chemiewaffennorm noch mehr schwächen könnte als die Einsätze. Diese Befürchtung speist sich aus vier aufeinander aufbauenden Überlegungen: Erstens müssen wir die faktische, d. h. Verhaltensdimension, von der normativen, d. h. Geltungsdimension von Normen unterscheiden. Normative Angriffe sind, zweitens, wesentlich gefährlicher für Normen als faktische Angriffe. Drittens liegt in Syrien zwar ein faktischer, jedoch kein normativer Angriff auf das Chemiewaffentabu vor. Viertens könnte sich allerdings die wiederholte Diagnostizierung einer Normerosion unbeabsichtigt als ebensolcher normativer Angriff erweisen.
Grundsätzliches zu Erosion, Geltung und Einhaltung von Normen
In unserem Artikel zur Normerosion haben Sonja Schirmbeck und ich auf Grundlage der in der Normenforschung gängigen Unterscheidung zwischen Geltung und Befolgung von Normen argumentiert, dass sich eine Normerosion in erster Linie nicht durch Normbrüche auszeichnet, sondern dadurch, dass die Geltung einer Norm abnimmt. Die Erosion einer Norm setzt demnach Kontestation, sprich diskursive Angriffe auf ihren Geltungsanspruch voraus. Solche diskursiven Angriffe finden mit dem Ziel statt (oder führen im Ergebnis dazu), dass sich der ehemals durch die Norm verengte Handlungsspielraum der Akteure wieder erweitert. Sie können verschiedene Formen annehmen: Die offensichtlichste und direkteste Form ist das Bestreiten des Geltungsanspruchs und die Forderung nach einer Aufhebung der Norm; subtiler ist eine Neu-Interpretation der Bedeutung oder die Aufforderung, darüber zu reden, ob die Norm weiterhin (uneingeschränkt) gelten sollte. Hinterfragungen allein reichen für eine Normerosion nicht aus – diese liegt erst vor, wenn sie auf die Akzeptanz anderer Akteure stoßen.
Dass die Frage, ob eine Norm für richtig gehalten wird, etwas anderes ist als die Frage, ob eine Norm eingehalten wird, zeigen die zum Teil starken Diskrepanzen der Normgeltung und der Normeinhaltung, die wir in den internationalen Beziehungen (und anderswo) beobachten können. So ist etwa das Folterverbot auf der Verhaltensebene schwach, denn es wird in sehr vielen Staaten ständig und systematisch verletzt. Auf der Einstellungsebene ist es allerdings stark – trotz der Normbrüche handelt es sich dabei um eine ausgesprochen starke Rechtsnorm mit internationaler, regionaler, und nationaler Bindewirkung für nahezu jeden Staat, deren Gültigkeit niemand öffentlich anzweifelt (zumindest bis zur Folterdiskussion infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA).
Heißt das nun, dass Normbrüche für die Stärke einer Norm irrelevant sind? Das nicht. Doch damit Normbrüche in einer Normerosion münden, müssen mindestens drei Voraussetzungen erfüllt sein: Häufigkeit, Verbreitung, und Akzeptanz. Die beiden ersten Voraussetzungen beziehen sich auf das normwidrige Verhalten, welches zu einer neuen Normalität wird. Dass dieses Verhalten häufig ist, die Brüche also nicht nur vereinzelt stattfinden, ist dabei nur ein Kriterium. Mindestens ebenso wichtig scheint mir zu sein, dass die Brüche also nicht nur von vereinzelten Akteuren verübt werden, sondern zu einer verbreiteten, geteilten, üblichen Praxis in der internationalen Gemeinschaft werden. Die dritte Voraussetzung bezieht sich wiederum auf die Einstellung: diese neue normwidrige Verhaltenspraxis muss akzeptiert werden. Akzeptanz liegt dann vor, wenn das normwidrige Verhalten explizit als richtig bezeichnet wird. Akzeptanz kann aber auch schon vorliegen, wenn nicht (mehr) bekundet wird, dass das normwidrige Verhalten falsch ist. In diesem Fall gibt es keine typischen Reaktionen auf Brüche gültiger Normen: Die Normschützer empören sich nicht mehr und prangern die Normbrecher nicht mehr an; die Normbrecher rechtfertigen sich nicht mehr.
Auswirkungen der syrischen Giftgaseinsätze auf das Chemiewaffentabu
Wie stellen sich die Einsätze von Chemiewaffen in Syrien vor diesem Hintergrund dar? Die Brüche der Chemiewaffennorm sind schockierend und unfassbar – doch eine Erosion des Chemiewaffentabus indizieren sie meiner Einschätzung nach nicht. Warum das so ist, begründen die Reaktionen auf die Brüche, auf der Diskurs- wie auch auf der Verhaltensebene, sowohl von Dritten als auch von der syrischen Regierung.
Erstens reagierte die internationale Gemeinschaft auf die ersten (wie auch auf die nachfolgenden) Einsätze von Chemiewaffen in Syrien sofort und mit deutlicher Kritik: Frankreich und die USA beschuldigten das syrische Regime öffentlich, Chemiewaffen eingesetzt zu haben; der damalige US-Präsident Barack Obama sprach davon, das syrische Regime habe durch die Giftgaskriegsführung eine rote Linie überschritten; der UN-Sicherheitsrat verurteilte die Chemiewaffeneinsätze (wenn auch ohne in der entsprechenden Resolution die Täter zu benennen); und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) identifizierte das syrische Regime als Täter. Die USA, Großbritannien und Frankreich reagierten auf die Chemiewaffeneinsätze des syrischen Regimes im Jahr 2017 mit Luftangriffen. Selbst in einem Konflikt, in dem auch andere Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung und Verletzungen des humanitären Völkerrechts (etwa Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal) an der Tagesordnung sind, wurde Brüchen der Chemiewaffennorm eine besondere Qualität zugeschrieben.
Zweitens wurde die Gültigkeit des Chemiewaffentabus paradoxerweise durch die syrische Regierung (und andere Akteure, die womöglich in Syrien ebenfalls Chemiewaffen eingesetzt haben) untermauert. Niemand hat sich zu den Einsätzen bekannt; direkte Anschuldigungen wurden und werden nachdrücklich zurückgewiesen. Niemand hat versucht, die Chemiewaffeneinsätze zu rechtfertigen, etwa durch besondere Umstände, oder gar gefordert, der Einsatz von Chemiewaffen im Kampf müsse wieder erlaubt sein. Infolge der ersten Anschuldigungen im Jahr 2013 trat Syrien der Chemiewaffenkonvention bei und erklärte sich bereit, große Teile seiner Chemiewaffenbestände zerstören zu lassen. Auch wenn außer Zweifel steht, dass die Chemiewaffennorm für Bashar al-Assad (bzw. für die anderen möglichen Nutzer) keine genuine Bedeutung hat – das syrische Regime weiß genau, dass die Norm woanders weiterhin gilt, und trägt mit seinen Leugnungen diesem Wissen Rechnung.
Um die Gültigkeit der Chemiewaffennorm wissen drittens auch die anderen Akteure. Wie Richard Price hier ausführt, gibt es keinerlei Anzeichen, dass die weitgehend ungesühnten Chemiewaffeneinsätze in Syrien weitere Brüche der Chemiewaffennorm durch andere Akteure wahrscheinlicher gemacht haben könnten: „there is not a stampede of would-be violators waiting in the wings to use chemical weapons.“ Doch warum eigentlich nicht? Zum einen, weil die Geltung der Norm nicht gelitten und ihre Bindewirkung nicht abgenommen hat. Die Chemiewaffennorm hat sich als resilient erwiesen, weil es keine diskursiven Angriffe auf ihre Gültigkeit gab und das normwidrige Verhalten nicht auf Akzeptanz stieß. Aber es hat auch eine Rolle gespielt, dass sich die Einsätze auf einen Konflikt beschränkten (d. h. nicht verbreitet sind) und dass der Normbrecher ein Pariah-Regime ist, das auch sonst vor keiner Grausamkeit zurückschreckt. Diese Tatsache hat eher die Auffassung gestärkt, dass ein zivilisiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft besser weiterhin auf Chemiewaffen verzichtet. Zum anderen sind weitere Einsätze von Chemiewaffen in Konflikten auch deshalb nicht wahrscheinlich, weil anderen potentiellen Normbrechern durchaus klar ist, dass die Nicht-Sanktionierung der syrischen Chemiewaffeneinsätze ein Sonderfall in einem vertrackten Konfliktumfeld ist und in anderen Fällen durchaus mit Sanktionen zu rechnen wäre, würde die rote Linie erneut überschritten.
Wie können wir die Chemiewaffennorm schützen?
Mein Argument legt zwei Fragen nahe: Selbst wenn keine Erosion des Chemiewaffentabus stattfindet, kann es doch nicht schaden, vor einer Erosion zu warnen und für deren Folgen zu sensibilisieren? Und was folgt aus der Nicht-Erosion für die Handlungsoptionen?
Wie eingangs geschrieben, denke ich, dass es durchaus schaden kann, von Erosion zu reden, obwohl keine vorliegt. Denn die Feststellung an sich greift die Norm an und ist deshalb keineswegs harmlos. Ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung verliert die Norm an Geltung, wenn man anfängt zu glauben, dass sie an Geltung verliert. Um diese Schleifen auszuformulieren: Wenn wir davon ausgehen, dass selbst diejenigen, die nicht an die Norm glauben, sie deshalb einhalten, weil sie glauben, dass andere daran glauben, bedeutet es im Umkehrschluss, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diejenigen, die nicht an die Norm glauben, sie nicht mehr einhalten, wenn sie glauben, dass andere nicht mehr daran glauben. Um diesen Mechanismus nicht in Gang zu setzen, ist es ratsam, in der Wissenschaft und in der Praxis mit dem Erosionsbegriff sehr zurückhaltend umzugehen.
Bei der Abwägung von Handlungsoptionen sind drei mögliche Zielsetzungen zu trennen: die Bestrafung der Normverletzung, die Durchsetzung der Normeinhaltung und der Schutz der Normgeltung. Mit Blick auf die ersten beiden Zielsetzungen argumentiert Caroline Fehl hier im Blog zum einen, dass die (internationale) Strafjustiz die richtige Bestrafungsinstanz wäre, auch wenn dieser Weg derzeit versperrt ist; zum anderen weist sie daraufhin, dass die Normdurchsetzung nur über völkerrechtskonforme Sanktionen (die allerdings klug entworfen sein müssen) – und nicht über unilaterale (militärische) Maßnahmen – erfolgen darf. Und für das Ziel des Normschutzes sind Sanktionen meines Erachtens schon gar nicht erforderlich. Die Chemiewaffennorm wird hinreichend dadurch geschützt, dass man die Normbrecher öffentlich an den Pranger stellt und ihre Geltung, wie auch die Geltung des Völkerrechts insgesamt, nachdrücklich bekräftigt – und eben nicht durch die Erosionsdiagnose infrage stellt.