Karte der humanitären Interventionen
Auf der interaktiven Weltkarte sind alle HMI übersichtlich dargestellt | Quelle: HSFK-Datensatz

Humanitäre militärische Interventionen erforschen: ein Datensatz schafft die Grundlage

Sogenannte humanitäre militärische Interventionen oder Interventionen im Rahmen der internationalen Schutzverantwortung sind heiß umstritten, doch hinkt die Erforschung dieser Einsätze den politischen Kontroversen hinterher. Zwar füllen völkerrechtliche und friedensethische Beiträge viele Regalmeter, und auch die zahlreichen detaillierten Einzelfallstudien lassen sich nicht mehr überschauen. Dennoch ist bislang weitgehend unbekannt geblieben, wie sich militärische Interventionen mit einer erklärten humanitären Absicht auf die Situation im Zielland auswirken. Das liegt am Mangel an vergleichenden Arbeiten. Ein neuer Datensatz zu den humanitären militärischen Interventionen nach 1945 schafft die Grundlage für solche Studien. Eine interaktive Weltkarte macht die Daten zugänglich.

Der Begriff „humanitäre militärische Interventionen“ löst heftige Debatten aus. Viele sehen einen unauflösbaren Widerspruch zwischen „humanitär“ und „militärisch“ und im Gebrauch dieses Begriffes eine gefährliche Rechtfertigung militärischer Mittel (siehe etwa hier, hier, hier oder hier). Solche Kontroversen sah ein HSFK-Projekt als Auftrag, diese Einsätze genauer zu untersuchen. Wir halten dabei in kritischer Distanz am umstrittenen Begriff „humanitäre militärische Intervention“ fest, um unseren Beitrag verorten zu können. Versuche, weniger problematische Begriffe zu prägen, würden die im Forschungsfeld ohnehin zu beklagende konzeptionelle Konfusion noch verstärken. Reden wir von humanitären militärischen Interventionen, heißt das nicht, dass wir die behauptete humanitäre Absicht für das einzige oder wichtigste Motiv und alle diese Einsätze für unterstützenswert halten.

Was sind humanitäre militärische Interventionen?

Der Begriff „humanitäre militärische Intervention“ spaltet auch die akademische Welt, dennoch lässt sich eine weitgehend unumstrittene Kerndefinition ausmachen. Demnach handelt es sich bei humanitären militärischen Interventionen um Einsätze im Ausland, die militärischen Zwang ausüben oder androhen, um Bürgerinnen und Bürger des Ziellands vor Gewalt zu schützen. Kontroversen gibt es darüber, ob und welche weiteren Elemente in die Definition einfließen sollen. Am lautesten ertönen Rufe, nur Interventionen ohne Erlaubnis der Regierung des Ziellands als humanitäre einzustufen. Andere pochen darauf, humanitär seien nur Einsätze ohne Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Auch soll die humanitäre Absicht wenn nicht die einzige, dann wenigstens die wichtigste Intention sein. Weitere prominente Kontroversen drehen sich um das Ausmaß der Gewalt im Zielland und darum, nur erfolgreiche Interventionen „humanitär“ zu nennen.

Welche Informationen liefert der neue Datensatz?

Mit einem Aufsatz in der Zeitschrift International Interactions stellen wir den Datensatz einem internationalen Fachpublikum vor. Eine detaillierte deutschsprachige Präsentation liefert ein Forschungsbericht der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF), die das Zusammenstellen der Daten unterstützt hat. Die DSF hat zudem die Website finanziert, die den Datensatz zugänglich macht.

Der Datensatz informiert über die Ausgangslage im Zielland der Intervention, über die Interventen, deren Mandat, Truppenstärke und Aktivitäten, über Gegeninterventionen und die Entwicklung der tödlichen Gewalt.

Die Website bietet zwei Versionen des Datensatzes: die eine mit den gesamten Interventionen, die andere mit den Interventionsjahren als Untersuchungseinheit. Der Datensatz basiert auf Fallbeschreibungen, die jede Kodierentscheidung mit Verweis auf Quellen dokumentieren. Diese Fallbeschreibungen lassen sich über eine interaktive Weltkarte aufrufen. Auch der Leitfaden zur Kodierung steht zum Runterladen bereit.

Beispiel "Afghanistan" aus dem neuen HMI-Datensatz
Beispiel „Afghanistan“ aus dem neuen HMI-Datensatz

Abbildung 1: Über eine interaktive Weltkarte lassen sich Informationen über die einzelnen Interventionen abrufen

Seit 1946 zählen wir 41 humanitäre militärische Interventionen. Die meisten von ihnen führten die Vereinten Nationen an. Westliche Staaten und Organisationen dominierten etwas weniger als die Hälfte aller Einsätze. In einigen Fällen agierten auch Russland, Indien und afrikanische Organisationen als die einzigen oder wichtigsten Interventen.

Nur in einer Handvoll Fälle intervenierte ein Staat allein. Einige wenige Interventionen, so die prominenten im Kosovo-Konflikt 1999 oder in Libyen 2011, setzten keine Bodentruppen ein. In sieben Fällen stationierten die Interventen mehr als 25.000 Soldatinnen und Soldaten, in zwei davon sogar mehr als 100.000. Schon diese Zahlen vermitteln einen Eindruck von der Vielfalt der Einsätze. Das zeigt sich auch in den Aktivitäten. Am häufigsten bemühten sich die Interventen um den Schutz der Zivilbevölkerung und humanitäre Hilfe. Weit seltener wollten sie eine Flugverbotszone durchsetzen oder das Regime stürzen. Die Typen humanitärer militärischer Intervention reichen von unparteiischer Einhegung bewaffneter Konflikte und diffuser Gewalt über Friedenserzwingung bis zu Versuchen, eine Konfliktpartei zu besiegen.

Nur sechs der humanitären militärischen Interventionen begannen vor Ende des Ost-West-Konflikts. Seither ist die Zahl dieser Einsätze stark gestiegen, schwankte aber, wie Abbildung 2 verdeutlicht. Sie zeigt den Anteil von Gewaltkonflikten, in denen es zu einer humanitären militärischen Intervention kam. Der gestrichelte Graph bezieht sich auf staatsbasierte Konflikte mit mindestens 25 Toten im Kalenderjahr, wie sie das Uppsala Conflict Data Program verzeichnet. Der durchgezogene Graph steht für „komplexe humanitäre Notlagen“ nach Andrea Everett, bei denen politische Gewalt innerhalb von fünf Jahren zum Tod von mindestens 20.000 Zivilistinnen und Zivilisten oder zur Vertreibung von 500.000 oder mehr Menschen führt.

Abbildung 2: Anteil von Notlagen mit humanitärer militärischer Intervention (HMI)

Wie beide Linien illustrieren, erfolgten humanitäre militärische Interventionen stets selektiv. Allerdings war diese Selektivität mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. Dieses Auf und Ab erklärt sich unter anderem mit begrenzten Interessen und Ressourcen potenzieller Interventen sowie mit unterschiedlichen Einschätzungen der Aussicht auf Erfolg.

Wie lassen sich die Daten nutzen?

Um möglichst viele Anschlusspunkte zu bieten, geht unser Datensatz von der Kerndefinition aus. Allerdings liefert er Informationen zu allen kontroversen Zusatzelementen, sodass Nutzerinnen und Nutzer die Daten leicht nach ihrem eigenen Verständnis filtern können.

Ausgangspunkt unserer Arbeit und auch dieses Beitrags war das geringe Wissen über Effekte humanitärer militärischer Interventionen. Wir werden daher den Datensatz für Untersuchungen zur Frage nutzen, wie sich diese Einsätze auf Dauer und Intensität von gewaltsamen Notlagen auswirken. Auch wollen wir ergründen, unter welchen Bedingungen humanitäre militärische Interventionen tödliche Gewalt eindämmen oder verschlimmern.

Über unsere eigene Projektplanung hinaus sehen wir eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten. Der Datensatz lässt sich für quantitative wie auch für qualitative Forschung nutzen. Er kann beispielsweise helfen, typische, extreme oder abweichende Fälle zu identifizieren, um sie dann genauer zu betrachten. Zudem ermöglicht er die fundierte Auswahl von Fällen für kontrollierende Vergleiche.

Starke Annahmen, die einer empirischen Überprüfung harren, kennzeichnen Diskussionen über humanitäre militärische Interventionen. Mit dem hier vorgestellten Datensatz lässt sich testen, ob etwa, wie in politischen Debatten gerne behauptet, frühzeitige und entschieden vorgehende Interventionen tatsächlich erfolgreicher sind als andere. Explorative Studien bieten sich unter anderem darüber an, warum sich Interventen für einen bestimmten Typ humanitärer militärischer Intervention entscheiden. Und wie wandelt sich das Profil des Einsatzes während der Intervention?

Künftige Forschung mit unseren Daten kann humanitäre militärische Interventionen als das zu Erklärende auffassen. Woraus zum Beispiel ergibt sich die Selektivität und Heterogenität dieser Einsätze? Wieso beteiligen sich Staaten an einer bestimmten Intervention? Studien können humanitäre militärische Interventionen auch als erklärende Größe nutzen, so für den Verlauf eines gewaltsamen Konflikts und die Instabilität danach.

Ausblick

Einen Abgesang auf humanitäre militärische Interventionen gab es immer wieder. Bislang hat er sich als unangebracht erwiesen. Bei aller Varianz in der Zahl gewaltsamer Konflikte und bei allem Schwanken in der Bereitschaft zu humanitären militärischen Interventionen setzte sich die Geschichte dieser Einsätze fort. Der Voraussicht nach werden diese Einsätze, unter welchen Namen auch immer, Gegenstand politischer Kontroversen bleiben. Daraus ergibt sich die gesellschaftliche Relevanz der kritischen Untersuchung humanitärer militärischer Interventionen. Der hier vorgestellte Datensatz, den wir aktualisieren und weiterentwickeln wollen, schafft die Grundlage dafür, an dieser Forschung mitzuarbeiten.

Der zugehörige Aufsatz „Practices and outcomes of humanitarian military interventions: a new data set“ von Thorsten Gromes und Matthias Dembinski ist bis zum 30.11. auf der Homepage von „International Interactions. Empirical and Theoretical Research in International Relations“ frei verfügbar
Thorsten Gromes
Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

Thorsten Gromes

Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

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