Am 16. Mai 2020 wurde der mutmaßliche Hauptfinanzier des Völkermordes in Ruanda, Félicien Kabuga, in einem Pariser Vorort festgenommen. Dem wohl meistgesuchten Mann der internationalen Strafjustiz gelang es 26 Jahre lang, sämtlichen staatlichen und internationalen Behörden zu entgehen. Die Spur des heute Mittachtzigjährigen führte zwischen 1994 und 2020 aus Ruanda nach Frankreich, unter anderem über die Demokratische Republik Kongo, die Schweiz und Kenia – und auch über Frankfurt am Main.
Zwischen April und Juli 1994 beteiligten sich unter der rassistischen „Hutu Power“-Ideologie viele zehntausende Täterinnen und Tätern am Völkermord an ihren Tutsi-Mitbürgerinnen und -Mitbürgern sowie an der systematischen Ermordung vieler politischer Oppositioneller. Bis zu eine Millionen Menschen wurden innerhalb von hundert Tagen umgebracht. Dem Völkermord gingen Jahre an Planung voraus, für welche Kabuga mit seinem Vermögen und seinem Status innerhalb des Machtzirkels des Landes eine zentrale Rolle spielte.
Die Anklage des UN-Tribunals für Ruanda hebt Kabugas mutmaßliche Bedeutung für die zwei wohl berüchtigtsten Teile des Mordapparates hervor: die Kontrolle und Finanzierung des hassschürenden Radiosenders RTLM sowie der Interahamwe-Miliz. Unter anderem wird ihm der Import von hunderttausenden Macheten in den Jahren 1993 und 1994 zugeschrieben.
In den 1980ern und frühen 1990ern war Kabuga einer der wohlhabendsten Ruander. Der Geschäftsmann erlangte sein Vermögen durch Import- und Exporthandel und erweiterte seinen Einfluss durch die Ehen seiner elf Kinder innerhalb der kleinen Hutu-Elite des Landes. Dieses Netzwerk an Unterstützerinnen und Unterstützern schützt Kabuga auch über Jahrzehnte auf der Flucht.
Flucht in die Schweiz, Schutz in Kenia
Von 1994 bis 2020 ist der Geschäftsmann auf freiem Fuß. Frühzeitig gilt er als einer der Drahtzieher des Völkermordes. Noch während des Genozids verlässt Kabuga Ruanda, reist in die heutige Demokratische Republik Kongo (damals Zaire) und setzt sich mit seiner Ehefrau und sieben Kindern in die Schweiz ab. Von Ende Juli bis Ende August 1994 befindet sich die Kabuga-Familie mit Wissen der Schweizer Behörden in Genf. Der Leiter des Bundesamtes für Ausländerfragen, der Kabuga ein Visum erteilte, ist mit einem Schwiegersohn des wohlhabenden Ruanders befreundet. Angesichts wachsendem Druck sind sich verschiedene Berner Ressorts uneins, wie mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher umgegangen werden soll. Letztendlich wird Kabuga nicht verhaftet und sogar auf Staatskosten Ende August nach Zaire ausgeflogen – nachdem er mutmaßlich seine Schweizer Bankkonten leert.
Die Spur des mutmaßlichen Finanziers führt nun im September 1994 nach Kenia, wo er über viele Jahre wieder als Geschäftsmann agiert. Dort wird Kabuga vom Kreis um Präsident Daniel arap Moi gedeckt. Mehrere Versuche, den „Zahlmeister“ des Völkermordes festzunehmen, enden für Informanten und Lockvögel tödlich. Als noch-Senator Barack Obama im August 2006 bei einem Besuch in Nairobi die dortige Regierung bezichtigt, Kabugas Aufenthalt zu dulden, plant Kabuga womöglich bereits seine Flucht nach Europa.
Ärztliche Behandlung in Frankfurt
Nur ein Jahr nach der Ermahnung Obamas hält sich Kabuga unerkannt ausgerechnet in Frankfurt am Main auf. Der damals 72-Jährige befindet sich in ärztlicher Behandlung und unterzieht sich nach aktuellen Recherchen der FAZ im Klinikum Frankfurt-Höchst einer Operation. Mindestens seit 2007 lebt Kabuga demnach in Europa.
In Frankfurt entkommt Kabuga nur äußerst knapp der Festnahme. Am 17. September 2007 wird dort einer seiner Schwiegersöhne festgenommen: Augustin Ngirabatware, Planungsminister Ruandas von 1990–1994. Er wird im Dezember 2012 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Bei der Festnahme Ngirabatwares auf offener Straße versucht dieser einen USB-Stick zu vernichten, auf dem eine Krankenhausrechnung für einen älteren tansanischen Staatsbürger zur Behandlung „chronischer Atembeschwerden“ gespeichert ist. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass es sich um Kabuga handelt. Noch am selben Tag verlässt er Frankfurt und reist nach Belgien.
In dieser Zeit arbeitet das Ruanda-Tribunal weitgehend „analog“ und auf Grundlage von Informantinnen- und Informanten-Hinweisen. Offenbar wird bei der Vorbereitung der Festnahme nicht in Betracht gezogen, dass sich Kabuga in Frankfurt aufhalten könnte. Die Ermittlerinnen und Ermittler des Tribunals gehen stattdessen fest davon aus, dass sich Kabuga weiterhin in Nairobi aufhält.
Andere Spuren des ruandischen Völkermordes in Frankfurt
Die Festnahme Ngirabatwares und Behandlung Kabugas sind nicht die einzigen Spuren des ruandischen Völkermordes in Frankfurt am Main. Einer der drei Mitgründer der extremistischen Partei CDR („Koalition für die Verteidigung der Republik“) lebte viele Jahre in Frankfurt. Unter Angabe einer Anschrift im Frankfurter Ostend veröffentlicht er vor April 1994 mehrmals in der hetzerischen ruandischen Zeitschrift „Kangura“ Meinungsartikel. Das mutmaßlich von Kabuga mitfinanzierte Blatt wird bereits weit vor dem Völkermord als deutliches „Warnsignal“ aufgenommen und wird heute gemeinhin mit dem „Stürmer“ verglichen. Von 2011 bis 2015 stand ein ruandischer ehemaliger Bürgermeister, wohnhaft in Erlensee im Main-Kinzig-Kreis, wegen Völkermordes vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. In diesem ersten Prozess zum Völkermord in Ruanda vor einem deutschen Gericht wurde der Funktionär zu lebenslanger Haft verurteilt.
Festnahme am frühen Morgen nahe Paris
Wo Kabuga zwischen der Behandlung in Frankfurt 2007 und dem Einzug in eine Wohnung einer seiner Söhne außerhalb Paris um 2015/2016 lebt, ist nicht öffentlich bekannt. Erst in den vergangenen Monaten kommen ihm die Beamtinnen und Beamten der Nachfolgebehörde des UN-Tribunals in Frankreich auf die Spur. In enger Zusammenarbeit mit den französischen Behörden werden Mobilfunk-Bewegungsdaten und Telefonnummern seiner Verwandten analysiert. Der vergleichsweise harte Corona-Lockdown in Frankreich vereinfacht die Ermittlungen, indem das Netzwerk um Kabuga in seinen Bewegungen erheblich eingeschränkt wird. Somit können die Standorte seines engsten Kreises – seine Kinder – eindeutig bestätigt werden.
Weil die Personen um Kabuga offenbar trotz Lockdown zunehmend rastlos werden, wird die geplante Festnahme um einige Tage vom 19. auf den Morgen des 16. Mai vorverlegt. DNA-Spuren von Kabugas Behandlung in Frankfurt werden genutzt, um den nun unter kongolesischer Identität lebenden Gesuchten bei der Festnahme zu identifizieren. Über die durchaus überraschende Festnahme wird in der 20-Uhr-Tagesschau berichtet.
Einige Tage nach der Festnahme Kabugas bestätigt das UN-Tribunal ferner den Tod des ehemaligen Verteidigungsministers Augustin Bizimana im Jahr 2000 auf Grundlage von DNA-Material aus der Republik Kongo. Somit ist nur noch einer der letzten drei vom UN-Tribunal gesuchten ruandischen Hauptverdächtigen vermisst: Protais Mpiranya, der ehemalige Chef der mörderischen Präsidentengarde.
UN-Verfahren in Tansania: Wie es nun weitergeht
Nach Jahrzehnten auf der Flucht steht nun durch Kabugas hervorgehobene Rolle ein „spektakulärer Abschlussprozess“ zum ruandischen Völkermord an.
Der Prozess wird vor dem Nachfolge-Gerichtshof der Ruanda- und Jugoslawien-UN-Tribunale stattfinden, der zwei Sitze hat. UN-Chefankläger Serge Brammertz hatte zunächst die Auslieferung Kabugas an den Den Haager Standort beantragt, doch das Tribunal entschied selber, Kabuga an seinem tansanischen Sitz in Aruscha den Prozess zu machen.
Zuvor bewilligten die französischen Behörden die Überstellung Kabugas an das Tribunal. Der angeklagte ehemalige Geschäftsmann bestreitet sämtliche Vorwürfe, schließlich „[ermorde] man seine Kunden nicht“. Viele Mitglieder des Familiennetzwerks, das Kabuga über Jahrzehnte schützte, erschienen im Gerichtssaal. Die Überlebenden-Organisation Ibuka forderte eine Auslieferung nach Ruanda. Dies schien jedoch von vornherein angesichts der Tatsache, dass Frankreich derzeit grundsätzlich nicht an Ruanda ausliefert, unwahrscheinlich.
Dem Prozess in Aruscha stehen nun offenbar nur noch die Gesundheit des 87-jährigen Kabuga und die zügige Realisierbarkeit des Verfahrens in den kommenden Monaten angesichts der Covid-19-Pandemie entgegen.
Tragisch bleibt, dass Kabuga nicht bereits vor Jahren in Frankfurt identifiziert und festgenommen wurde. Die Geschichte des Falls unterstreicht, wie wichtig die inzwischen vollzogene Aufwertung der sogenannten „War Crimes Unit“ der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe sowie die internationale Kooperation von Ermittlungsbehörden ist.