Deutsche Verbindungsoffiziere im Rahmen der ISAF-Mission in Kabul 2010. | Photo: Flickr, ©Bundeswehr/Andrea Bienert

Lernen aus Afghanistan: Aufstandsbekämpfung und zivile Opfer

Westliche Regierungen sprechen von einem planmäßigen Abzug aus Afghanistan und den vielen Erfolgen der vergangenen 20 Jahre. Es handelt sich aber um eine militärische Niederlage. Nach Großbritannien und der Sowjetunion unterlag nun auch ein NATO-geführtes Bündnis afghanischen Guerillakämpfern. Doch nicht nur für westliche Demokratien ist die Bilanz der Aufstandsbekämpfung (bei der asymmetrisch operierende Guerillas konventionell überlegene Streitkräfte überlisten) düster: die Hauptopfer des Krieges sind Zivilisten in Afghanistan. Eine zentrale Lehre aus Afghanistan ist, dass zivile Opfer in asymmetrischen Kriegen unvermeidlich sind. Zumindest aus ethischen Gründen sollten Staaten, die sich dem Schutz von Menschenrechten verschrieben haben, solche Kriege daher nicht kämpfen.

Was können westliche Demokratien aus dem verlorenen Krieg in Afghanistan lernen? Debatten über das Debakel gleichen wie schon zuvor einer Nabelschau, bei der Mängel etwa bei der militärischen Ausrüstung oder der Ressortzusammenarbeit im Vordergrund stehen. Währenddessen bemühen sich westliche Regierungen, die vergangenen 20 Jahre zu legimitieren, indem sie auf Erfolge, etwa beim Aufbau der afghanischen Streitkräfte, hinweisen. Sollte es jedoch so kommen, dass afghanische Streitkräfte bald nicht mal mehr die Städte gegen Regierungsgegner halten können (wie kurz nach dem Ende der sowjetisch/russischen Unterstützung Anfang der 1990er Jahre geschehen) und Afghanistan wieder von den Taliban regiert wird, dürfte die offizielle Linie westlicher Regierungen lauten: wir haben alles versucht, aber Afghanistan ist eben nicht zu helfen.

Solche Diskurse ignorieren aber die Hauptbetroffenen der westlichen Intervention nach 2001: die afghanische Bevölkerung. Die NATO-geführte Allianz ist für viele zivile Opfer in Afghanistan verantwortlich oder mit verantwortlich, obwohl Demokratien sich ethisch zum Schutz von Menschenrechten bekennen und „population-centric counterinsurgency“ unter US-Führung sogar als Voraussetzung für militärischen Erfolg deklariert wurde. Der Krieg in Afghanistan (wie auch der im Irak nach 2003) zeigt jedoch, dass Zivilisten unweigerlich unter Aufstandsbekämpfung leiden. Es gilt daher, solche Kriege in Zukunft zu vermeiden.

Aus der Erfahrung von Afghanistan lassen sich sechs Mechanismen ableiten, wie eine internationale militärische Präsenz das Risiko für Zivilisten, verwundet oder getötet zu werden, erhöhen kann.

Wie internationale Truppen Zivilisten gefährden

Erstens haben westliche Demokratien keine strategische Geduld. Beispielsweise erhöhte US-Präsident Obama 2009 zwar die Zahl an US-Truppen, gab aber gleichzeitig einen Termin für einen Teilabzug bekannt. Ein Abzug ist eine akute Gefahr insbesondere für diejenigen Zivilisten, die mit internationalen Akteuren zusammengearbeitet haben. Die Taliban und andere Regierungsgegner haben unzählige „Kollaborateure“ umgebracht – selbst wenn diese internationalen Truppen nur Brot verkauft haben.

Zweitens können internationale Truppen, selbst wenn sie länger an einem Ort bleiben, Gebiete kaum vollständig kontrollieren. Viele Gebiete bleiben umkämpft, und unter den asymmetrischen Taktiken der Aufständischen wie Selbstmordanschlägen oder Sprengfallen leiden insbesondere Zivilisten. Es ist daher verständlich, dass die afghanische Bevölkerung internationale Truppen häufig bat, ihre Gegenden zu verlassen; sie wollten nicht „geschützt“ werden.

Drittens fehlt es Ausländern, die nur für kurze Zeit im Land sind, an Kontextwissen. Die damaligen Offiziere von Kolonialmächten wie Großbritannien oder Frankreich beherrschten meistens die lokale Sprache und kannten die lokalen Netzwerke in ihren Kolonien. Soldaten heutiger Demokratien sind dagegen zwar an Menschenrechte gebunden, aber sehr viel mehr auf Berater, Dolmetscher und die lokale Bevölkerung angewiesen. Sie werden dadurch leichter manipuliert, etwa wenn Afghanen ihre eigenen Kontrahenten als Aufständische denunzierten, um sie zum Ziel internationaler Luftschläge oder nächtlicher Razzien zu machen.

Viertens führen fehlendes Kontextwissen, wie auch kurze Stehzeiten und institutionelle Anreize, schnelle Erfolge vorzuweisen, zu problematischen Allianzen. Viele Afghanen sahen erschrocken zu, wie internationale Akteure korrupte Politiker und Kriegsfürsten politisch, militärisch und finanziell unterstützten. Diese Allianzen versprachen nur eine Schein-Stabilität, weil sie das Vertrauen vieler Afghanen in die Legitimität afghanischer und internationaler Institutionen unterhöhlten, und weil Machthaber inklusive ihrer brutalen Milizen dazu tendierten, pragmatisch die Seiten zu wechseln.

Fünftens führen militärische Eigendynamiken dazu, dass internationale Truppen direkt zivile Opfer verursachen. Ich war im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes bei einem Briefing im Kabuler ISAF-Hauptquartier 2010 erstaunt, als General David Petraeus, Oberkommandierender internationaler Truppen in Afghanistan und Gallionsfigur moderner Aufstandsbekämpfung, Rekordzahlen bei Operationen gegen Aufständische als zentralen Indikator von Fortschritt präsentierte. Dabei sollten „body counts“ doch eben nicht das Ziel sein. Schließlich kann dadurch der Aufstand Zulauf bekommen und radikalisiert werden, und es besteht das Risiko, Zivilisten zu treffen, da der Gegner keine Uniformen trägt und „actionable intelligence“ häufig dürftig ist.

Sechstens erhöht die Aversion von Demokratien gegen eigene Opfer das Risiko ziviler Opfer. Von 2009 bis 2017, als ich an der HSFK arbeitete und unter anderem zum Afghanistan-Einsatz forschte, klingelte immer dann das Pressetelefon, wenn Bundeswehrsoldaten verletzt oder getötet worden waren. Das öffentliche Interesse am Wohl der Soldaten ist beruhigend. Beunruhigend ist, dass die Telefone still blieben, wenn Afghanen getötet wurden. Die große Ausnahme war der Kunduz-Luftschlag von 2009, von einem Bundeswehr-Oberst (jetzt General) befohlen. Dieser zeigt allerdings auch exemplarisch, dass westliche Offiziere dazu tendieren, das Risiko für eigene Soldaten auf Kosten von Zivilisten zu verringern.

Keine Aufstandsbekämpfung mehr

Wenn nun westliche Regierungen trotzdem argumentieren, die internationale Präsenz hätte viele Afghanen geschützt, so ist dies problematisch. Diese Argumentation ignoriert die vielen Opfer, die es ohne die internationale Intervention nicht gegeben hätte. Ebenso problematisch ist der Einwand, die Gesamtrechnung sei positiv, weil mehr Afghanen profitiert als gelitten hätten. Dieses Argument ist – da auf einer kontrafaktischen Argumentation basierend – nicht überprüfbar, und es basiert auf der gefährlichen Annahme, Menschenleben gegeneinander aufrechnen zu können.

Der Fall Afghanistan zeigt exemplarisch, dass Demokratien keine Aufstandsbekämpfung betreiben sollen, da die Kriegführung unweigerlich viel menschliches Leid verursacht. Natürlich ist der Schutz der Bevölkerung nicht der einzige – und oftmals nicht der zentrale – Bestimmungsfaktor für Interventionsentscheidungen, die Art der Kriegführung und Evaluationen. Die direkten und indirekten Auswirkungen auf Zivilisten sollten aber im Zentrum von Interventionsdebatten und -praktiken stehen, zumindest wenn Demokratien ihrem Anspruch gerecht werden wollen, Menschenrechte zu schützen.

Cornelius Friesendorf

Cornelius Friesendorf ist Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Zuvor hat er für die Europäische Union in Myanmar gearbeitet und an der HSFK zu militärischen Interventionen und Sicherheitssektorreformen geforscht.

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Cornelius Friesendorf ist Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Zuvor hat er für die Europäische Union in Myanmar gearbeitet und an der HSFK zu militärischen Interventionen und Sicherheitssektorreformen geforscht.

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