Seit 2020 koordiniert die HSFK gemeinsam mit Lehrkräften aller Schulformen in Hessen das Netzwerk „PRIF@Schule – Netzwerk Friedensforschung und Bildungspraxis“ | Foto: Mary and Andrew | CC BY 2.0

Herausforderungen politischer Bildung in der Schule: ein Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft

Im Juli 2021 trafen sich Lehrkräfte verschiedener Schulformen aus ganz Hessen mit Wissenschaftler:innen der Friedens- und Konfliktforschung, der Bildungsforschung und einer Schülerin zu einer virtuellen Diskussion über aktuelle Anforderungen an die politische Bildung in der Schule. Diskutiert wurden dabei insbesondere Praktiken der Vermittlung und der Umsetzung schulischer politischer Bildung, die Vereinbarkeit von politischer Bildung mit dem hierarchischen System Schule und die Nachhaltigkeit politischer Bildung. Neben den gemeinsamen Herausforderungen wurden auch Wege aufgezeigt, die politische Bildung in der Schule zu stärken.

Die Teilnehmer:innen formulierten zunächst aus ihrer jeweiligen Perspektive – als Schülerin, Lehrer:innen und Wissenschaftler:innen – ihre Erwartungen an die Bedarfe und Angebote der politischen Bildung in der Schule. Dabei gingen alle auf das bereits an ihren Schulen geschaffene Angebots- und Möglichkeitsspektrum in- und außerhalb des Unterrichts ein. Als Praxisbeispiele wurden etwa die Rollen von Pausen-Streitschlichter:innen genannt oder Maßnahmen zur Förderung von ehrenamtlichem Engagement. Die Bildungswissenschaftlerin Louise Ohlig von der Universität Bamberg und die Politikdidaktikerin Charlotte Keuler von der Universität Trier ergänzten die vielfältigen Praxiserfahrungen mit empirischen Grundlagen für die politische Bildung in Schulen und stellten dabei neue Ansätze für die Ausgestaltung schulischer politischer Bildung vor.

Mehr als Politikunterricht

Politische Bildung ist mehr als Wissensvermittlung im Politikunterricht. Sie umfasst darüber hinaus die Auseinandersetzung über geteilte Werte und Normen sowie auch die Kompetenz, sich aktiv am politischen Diskurs zu beteiligen. Hierüber waren sich die Teilnehmenden schnell einig. Ebenso darüber, dass aus Schüler:innenperspektive aktuelle gesellschaftliche Themen wie Zusammenhalt, soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit besonders interessant seien. Gerade hier besteht auch ein starker fächerübergreifender Diskussionsbedarf seitens der Schüler:innen, wie aus der Unterrichtspraxis berichtet wurde. Diesen zu unterstützen und Diskussionsräume im Schulalltag zu schaffen, stellt jedoch immer wieder eine zeitliche und organisatorische Herausforderung dar. Politische Bildung findet sich idealerweise in allen Bereichen des Lehrplans, in der Schulkultur selbst und auch im Rahmen extracurricularer Aktivitäten wieder.

Politische Bildung ist eine Anforderung an alle Lehrkräfte, unabhängig von ihren Fächern und der Schulart. Wichtig ist es daher auch, einen entsprechenden Fokus in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften zu setzen.

Demokratieerziehung und das System Schule – Ein Konflikt?

Kritisch wiesen einige Lehrkräfte und auch Elternvertreter:innen aus dem Plenum auf die Konflikte hin, die es zwischen schulischem Bildungssystem und den Zielen und Bedarfen politischer Bildung gebe. Die Schule als hierarchisches System mit Top-down-Bewertungslogiken verhindere das Praktizieren des demokratischen Diskurses und der Teilhabe. Doch auch hierzu wurden in der Diskussionsrunde Lösungsansätze aufgezeigt. So ließen sich Konflikte unter anderem durch bewertungsfreie Räume, in denen politische Meinungsäußerungen durch Schüler:innen ohne Benotungsdruck möglich sind, zumindest reduzieren. Aber auch Teilhabestrategien und Orte des Mitentscheidens für Schüler:innen an Schulen sollten hierbei ein sinnvolles Instrument darstellen. Schüler:innenvertretungen, Streitschlichter:innen, Vertrauenslehrer:innen sowie Projekte im darstellenden Spiel, Plakatausstellungen zu aktuellen gesellschaftlichen Konfliktthemen und internationale Schulpartnerschaften sind nur einige der konkreten Beispiele aus dem Alltag an vielen Schulen, die zu diesem Zweck genannt wurden.

Nachhaltigkeit von politischer Bildung

Wie die Praxis zeigt, bestehen allerdings immer noch große Ungleichheiten im Zugang zu Projekten, die die politische Bildung stärken. Häufig sind diese vom individuellen Engagement einzelner Lehrkräfte und von Unterstützung durch die Schulleitungen abhängig. Denn auch wenn politischer Bildung an vielen Schulen bereits ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird, kommt die aufwändige und zeitintensive Betreuung von Arbeitsgemeinschaften, von Projekten wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ oder weiteren Aktivitäten außerhalb des Unterrichts zum regulären Arbeitspensum der Lehrkräfte hinzu. Ob Lehrkräfte in ihren Klassen oder in ihrem Unterricht Teilhabemomente etablieren oder ob extracurriculare Lernerfahrungen in der politischen Bildung geboten werden, unterscheidet sich nicht zuletzt daher von Schule zu Schule, von Klassenzimmer zu Klassenzimmer und von Lehrkraft zu Lehrkraft.

Auch individuelle und soziale Ungleichheiten manifestieren sich laut Lehrkräften in der politischen Bildung, da die Bereitschaft, sich an extracurricularen Aktivitäten, sozialen und politischen Projekten zu engagieren, häufig nur bei einer kleinen und stabilen Gruppe von Schüler:innen gegeben ist. Gezielte Strategien und Maßnahmen zur Einbindung, die nicht nur temporär, sondern auch langfristig wirken können, stellen dabei häufig eine Herausforderung im Alltag dar.

Denn so betonten die Bildungswissenschaftlerinnen politische Bildung sollte präventiv und langfristig wirken können. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Handlungsmöglichkeiten zur Stärkung der Nachhaltigkeit politischer Bildung durchaus zahlreich sind und in der Praxis facettenreich ausfallen können. Eine verstärkte Zusammenarbeit verschiedener Bildungsakteure, an unterschiedlichen Bildungsorten und -prozessen, etwa Exkursionen mit politischem Bezug oder Wettbewerbe wie „Meine Rede für Europa“, aber auch fächerübergreifende Projekte wie die Kombination mathematischer Modellierungen mit normativen Modellen der Gesellschaftswissenschaften, wurden dabei beispielhaft genannt und als interessante Möglichkeiten weiterempfohlen.

Ein früheres Einsetzen fördernder Maßnahmen kann darüber hinaus ebenfalls zur Nachhaltigkeit von schulischer politischer Bildung beitragen. So wurde in der Diskussion problematisiert, dass sich politische Bildung bisher hauptsächlich an Jugendliche richtet. Doch auch speziell für Kinder in der Grundschulphase sollten passende und altersgerechte Ansätze der politischen Bildung (weiter)entwickelt werden, um bereits frühzeitig Kompetenzen für eine aktive Teilhabe am demokratischen und politischen Prozess auszubilden. Konrektorin Sabine Hübler von der Lindenschule Cölbe unterstrich, dass in der Grundschule insbesondere sozial-emotionales Lernen eng mit Zielen politischer Bildung verknüpft sei, zum Beispiel, wenn es um Konfliktlösung und Perspektivenübernahme gehe.

Ein aktives Schüler:innenparlament, das bereits in Grundschulen ab der ersten Klasse erprobt ist, kann zudem als positives Erlebnis der politischen Teilhabe durch Mitbestimmung nachhaltig prägend sein. Als möglicher weiterer Vorteil der Grundschule für die politische Bildung wurde diskutiert, dass dort noch stärker als in weiterführenden Schulen ein gemeinsamer Unterricht aller Kinder stattfinde und so ein täglicher Austausch vieler unterschiedlicher Perspektiven und Lebenswelten zustande komme, der zum Erlernen von gegenseitigem Verständnis und Empathie, aber auch zu Diskussion und Kompromissbereitschaft beitragen kann. Eine zentrale und prägende Rolle zur Förderung eines niederschwelligen Austauschs stelle in der Grundschule von Anfang an die Klassenlehrer:in dar, die dort zugleich auch die Rolle der Vertrauensperson einnehme, wie Konrektorin Sabine Hübler darlegte.

Auch künftig beschäftigt sich PRIF@Schule als Netzwerk für Friedensforschung und Bildungspraxis damit, wie diesen Herausforderungen politischer Bildung begegnet werden kann und wie nachhaltige Strukturen zur Stärkung der politischen Bildung in Schulen geschaffen werden können. Das Netzwerk, das zur Diskussionsrunde eingeladen hatte, will die Synergie zwischen Bildungspraxis und Wissenschaft nutzen und einen Beitrag dazu leisten, indem es Themen der Friedens- und Konfliktforschung zielgruppengerecht in den Unterricht einbringt und den Dialog mit Schulen stärkt und ausbaut.


Das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) / Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) koordiniert seit dem Jahr 2020 gemeinsam mit Lehrkräften aller Schularten in Hessen das Netzwerk „PRIF@Schule Netzwerk Friedensforschung und Bildungspraxis“ zur politischen Bildung an Schulen. Das Netzwerk trifft sich regelmäßig zu aktuellen Themen und erarbeitet Bedarfe, Ziele, Fortbildung und Qualitätssicherung der politischen Bildung. Bei Interesse an der Teilnahme am Netzwerk oder an (Online-)Veranstaltungen des Netzwerks freuen wir uns über eine E-Mail an schule-prif@hsfk.de.

Yvonne Blum

Yvonne Blum

Yvonne Blum ist wissenschaftliche Referentin des Vorstands und Referentin für Wissenstransfer am PRIF. Sie beschäftigt sich mit Konzepten und Formaten des dialogischen Austauschs mit der Gesellschaft, mit Politikberatung und Politischer Bildung. // Yvonne Blum is advisor to the executive board and a knowledge transfer officer at PRIF. Her interests lie in concepts of knowledge transfer and formats of dialogue with society, policy advice and civic education.
Laura Friedrich

Laura Friedrich

Laura Friedrich ist wissenschaftliche Referentin des Vorstands und Referentin für Wissenstransfer am PRIF. Ihre Schwerpunkte liegen in der Konzeption und Betreuung von Transferformaten in den Bereichen Austausch mit der Gesellschaft, Politikberatung und Politische Bildung. // Laura Friedrich is advisor to the executive board and a knowledge transfer officer at PRIF. Her focus lies on the conception and management of knowledge transfer activities that foster dialogue with society, policy advice and civic education.
Raphaela Schlicht-Schmälzle

Raphaela Schlicht-Schmälzle

Raphaela Schlicht-Schmälzle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSFK und Mitglied der Forschungsgruppe "Radikalisierung". Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Bildung und Vergleichende Bildungspolitik. / Raphaela Schlicht-Schmälzle is a senior researcher at PRIF and member of the research group "Radicalization". Her research focuses on civic education, global citizenship education and comparative education policy.

Sophia Schmidt

Sophia Schmidt ist studentische Hilfskraft im Wissenstransfer an der HSFK und studiert Internationale Studien/Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und der TU Darmstadt. Ihre Forschungsinteressen umfassen u.a. politische Bildung und Normenforschung in den Internationalen Beziehungen. / Sophia Schmidt is a student assistant at PRIF and studies International Studies/Peace and Conflict Research at Goethe University Frankfurt and TU Darmstadt. Her research interests include civic education and norm research in international relations.

Yvonne Blum

Yvonne Blum ist wissenschaftliche Referentin des Vorstands und Referentin für Wissenstransfer am PRIF. Sie beschäftigt sich mit Konzepten und Formaten des dialogischen Austauschs mit der Gesellschaft, mit Politikberatung und Politischer Bildung. // Yvonne Blum is advisor to the executive board and a knowledge transfer officer at PRIF. Her interests lie in concepts of knowledge transfer and formats of dialogue with society, policy advice and civic education.

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