Pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahres gerät die Jugend wieder in den Fokus der Corona-Debatten. Soll Schulunterricht in Präsenz stattfinden und wenn ja, wie? Gibt es genug Luftfilter, Fenster, Laptops für digitale Konzepte? Wer in diesen Diskussionen so gut wie gar nicht zu Wort kommt, sind die Jugendlichen selbst. Das ist unsolidarisch und schließt eine ganze Bevölkerungsgruppe aus demokratischen Entscheidungsprozessen aus. Junge Menschen müssen stärker mitbestimmen dürfen bei Entscheidungen, die sie in hohem Maße betreffen. Andernfalls droht ein Generationenkonflikt, der zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft führen könnte.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie machten und machen vielen Menschen ganz persönlich zu schaffen, so auch Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In Politik und medialer Öffentlichkeit wurden ihre Stimmen jedoch kaum gehört und das obwohl sie, wie eine Studie zu „Jugend und Corona“ (JuCo) belegt, besonders stark unter den Einschränkungen litten. Diese betrafen in den Monaten des Lockdowns zwar das Alltagsleben aller Menschen in allen Altersgruppen, Jugendliche aber auf besondere Weise: Der Zugang zum öffentlichen Raum, wo sie sich treffen, austauschen und Freiräume schaffen, war stark beschnitten. Gleiches galt für die Schule, die neben ihrer Funktion als Lernort auch wichtige soziale Interaktion und Integration ermöglicht. Die Beschränkung auf Familienhaushalt und Homeschooling veränderte Lebensrhythmen und Muster sozialer Interaktion auf einschneidende Weise. Aufgrund fehlender Impfungen bei jungen Erwachsenen und insbesondere Kindern wird nun, da die Inzidenz als Leitindex aufgehoben wird, die Last der Pandemie vornehmlich auf ihre Schultern geladen. Während also Geimpfte zunehmend Freiheiten erhalten, bleiben zahlreiche noch ungeimpfte junge Erwachsene und Kinder der Pandemie ausgeliefert. Das zeigen auch die hohen Infektionszahlen unter Schüler*innen: So waren allein in Nordrhein-Westfalen eine gute Woche nach dem Ende der Sommerferien bereits mehr als 30.000 Schüler*innen in Quarantäne. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei den Fünf- bis Neunjährigen lag Ende August 2021 etwa in der Städteregion Aachen bei 380, bei den 10- bis 14-Jährigen bei 403.
Erste Studien bieten Grund zur Sorge
Wie stark die Auswirkungen der Corona-Einschränkungen auf die Jugend waren, zeigen erste Studien. Der TUI Stiftung zufolge gaben 2020 46 Prozent der 16- bis 26-Jährigen in Deutschland an, dass ihre Lebenssituation in der Pandemie schlechter geworden sei. Dabei empfanden sie die Belastungen in allen Bereichen des Lebens gleichermaßen als hoch: Die Befragten litten nicht nur unter Problemen im finanziellen und Ausbildungs- bzw. beruflichen Bereich, sondern auch unter den Auswirkungen der Corona-Krise auf das öffentliche und soziale Leben. Sie konnten ihre Freizeit nicht mehr wie gewünscht gestalten und ihren Hobbys nicht mehr nachgehen.
Junge Menschen in Entscheidungen einzubeziehen, die direkte Auswirkungen auf ihre Lebensumstände haben, ist dringend nötig: Da sie besonders betroffen sind, muss ein Ausgleich geschaffen werden, der ihre exponierte Rolle anerkennt und ihnen die Möglichkeit gibt, sich einzubringen. Solidarität muss in beide Richtungen funktionieren – monatelang hielten sich Jugendliche zum Schutz der Älteren an Corona-Regeln, nun sollten die Älteren den Jungen Mitsprache zugestehen und auch diese schützen.
Marginalisierte Jugendliche sind besonders betroffen
Besonders stark betroffen von den Einschränkungen in der Corona-Krise sind junge Menschen in vulnerablen Lebenssituationen, unter anderem Geflüchtete oder finanziell Benachteiligte. Sie können durch die Pandemie zusätzlichen sozialen Exklusionsprozessen ausgesetzt sein. „Abgehängte“ Jugendliche haben es ebenfalls besonders schwer: Ihnen fehlt es oft an technischer Ausstattung für den Online-Unterricht, ein eigenes Zimmer oder Unterstützung. Auch Kinder und Jugendliche, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, oder die psychische Beeinträchtigungen haben, leiden dem journalistischen Recherchezentrum Correctiv zufolge massiv unter den Einschränkungen: Professionelle Hilfe sei teils schwer zu erreichen, da es oft nur wenige Termine bei Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen gebe. Die Jugendämter kontrollierten seltener, gleichzeitig sei die Zahl der Fälle von Kindesmisshandlungen und sexuellem Missbrauch 2020 deutlich angestiegen. Da wichtige Kontrollinstanzen wie Schule oder Kita fehlten, werde es für betroffene Kinder und Jugendliche noch schwieriger, sich Lehrer*innen anzuvertrauen. Außerdem sei die stationäre Jugendhilfe (z. B. Heime) überlastet, da diese so aufgebaut ist, dass die betreuten Kinder und Jugendlichen zur Schule gehen.
Ausschluss der Jugend aus demokratischen Entscheidungsprozessen
Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Verfasstheit erweist sich diese Ungleichheit zunehmend als Problem. Die Nichtbeachtung der Belange junger Menschen verstärkt, so zeigen Studien, zunehmend das Gefühl der Exklusion aus demokratischen Prozessen. Das Bedürfnis der Jugend, gehört zu werden und sich zu beteiligen, ist laut JuCo-Studie im Zuge der Pandemie gestiegen, während gleichzeitig faktisch aber die Möglichkeiten dazu schwanden. Im November 2020 betonten 58,3 Prozent der befragten 15- bis 30-Jährigen bezogen auf die aktuelle Lage, dass sie gar nicht oder eher nicht davon ausgehen würden, dass ihre Situation für Politiker*innen eine Rolle spielt. Weitere 29,4 Prozent antworteten mit teils/teils. Der Aussage „Die Sorgen von jungen Menschen werden in der Politik gehört“ stimmten lediglich 1,2 Prozent voll und 6,5 Prozent eher zu. Mehr als 90 Prozent der Befragten stimmten dieser Aussage jedoch nur teilweise (27,5 Prozent), eher nicht (41,1 Prozent) oder gar nicht (23,8 Prozent) zu. In den Freitextantworten kritisierten die Befragten häufig, dass wirtschaftliche Anliegen offenbar Vorrang hätten gegenüber den Bedürfnissen und Belastungen vulnerabler Gruppen und der Jugend.
Die Jugendlichen wollen mitbestimmen, das zeigen die ergänzenden Workshops zur JuCo-Studie. Dort forderten die Teilnehmenden neben einer schnelleren und besseren Digitalisierung der Schule mehr Kreativität bei Unterrichtslösungen – gerade in diesem Bereich könnte es ein Leichtes sein, Ideen der Schüler*innen einzubeziehen.
Frust in den sozialen Medien
Deutlich sichtbar wird der Frust in den sozialen Medien. Unter einem breit diskutierten Video des einflussreichen Youtubers Rezo vom April 2020 mit dem Titel „Wie Politiker momentan auf Schüler scheißen…“, häufen sich Kommentare von Schüler*innen, die beklagen, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden werde. Ein deutliches Ohnmachtsgefühl, verbunden mit der Erleichterung, dass jemand mit Rezos Reichweite die Belastungen der Jugendlichen anerkennt und anprangert, prägt viele Kommentare. Unzufrieden mit den Plänen der Politik zu Schulöffnungen riefen Schüler*innen wiederholt zu Schulstreiks auf. Vereinzelt machten Klassen oder ganze Jahrgänge diese Drohung zur Wirklichkeit, so unter anderem in Essen und Mönchengladbach, Nürnberg und München. Die Schulstreiks zeigen, dass Kinder und Jugendliche durchaus in der Lage sind, sich eine eigene Meinung zu ihren Lernbedingungen zu bilden, aber keine andere Möglichkeit haben, diese zu vertreten, da sie stets am kürzeren Hebel sitzen und nicht angemessen einbezogen werden.
Der Frust ist nicht allein auf schulische Themen oder Minderjährige beschränkt: Im Juni 2021 berichteten junge Menschen dem „Spiegel“ unter anderem von dem Eindruck, im Stich gelassen zu werden. So hat ein 23-jähriger Student das Gefühl, „vergessen zu werden“: „Ein bisschen fühlt man sich wie ein Mensch zweiter Klasse. Ein Paradebeispiel dafür ist die Aussage ‚meines‘ Ministerpräsidenten Kretschmann, der im März sagte, für Studierende gebe es keinen Grund depressiv zu werden. Das zeigt für mich einfach die Ignoranz der überwiegend älteren Politik gegenüber den Jungen“. Eindrücklich werden in diesen Beispielen die Gefühle von Frust, Ohnmacht und Resignation deutlich, die bei vielen jungen Menschen vorherrschen.
Bereits vor der Pandemie wenig Partizipation
Die Problematik politischer Nicht-Repräsentation und -Partizipation der Jugend ist nicht neu. Bereits vor der Corona-Krise mahnten Stimmen, junge Menschen müssten mehr (politische) Partizipation erfahren: Wiederholt stellten Jugendstudien fest, dass Jugendliche und junge Erwachsene sich von der Politik kaum repräsentiert fühlten und ihre Möglichkeiten zur Mitsprache als sehr gering einschätzten. So stimmten in der Shell Jugendstudie von 2019 71 Prozent aller Befragten im Alter zwischen 15 und 25 Jahren der Aussage „Ich glaube nicht, dass sich Politiker darum kümmern, was Leute wie ich denken“ zu. 84 Prozent fanden, dass mehr junge Leute in der Politik etwas zu sagen haben sollten. Die Autor*innen der Studie setzten diese Funde in den Zusammenhang einer hohen allgemeinen, grundsätzlichen Politikverdrossenheit, die als „diffuse Grundhaltung“ unter jungen Menschen vorherrsche.
Junge Menschen seien außerdem selten politisch aktiv, was Studien oft mit Desinteresse und Langeweile erklären oder der verbreiteten Wahrnehmung, sowieso nichts bewirken zu können und generell kein Gehör zu finden. Auch seien für Jugendliche konventionelle Formen der Beteiligung eher unattraktiv: Vielmehr lägen ihnen themenbezogene und informelle Aktionen, wie etwa Unterschriftensammlungen, Konsumboykotte, Internetkampagnen oder Demonstrationen. Solche Formen würden allerdings in den Augen der Gesellschaft oft nicht zählen, kritisieren Wigger et al. mit Blick auf den zumeist im Diskurs verwendeten Partizipationsbegriff. Dieser begrenze „Partizipation“ auf formal institutionalisierte Beteiligungsformate schließe somit die von Jugendlichen präferierten Formate aus. Dieses einengende Verständnis verleite dazu, auf „Defizitzuschreibungen“ zurückzugreifen und zu behaupten, Jugendlichen mangle es an Motivation, Information oder Kompetenz.
Die Studien machen deutlich, dass die Jugend das Problem des wahrgenommenen fehlenden Einflusses nicht selbst angehen und beheben kann, indem sie sich einfach mehr zu Wort meldet und mehr partizipiert. Es ist Aufgabe des (politischen) Umfelds, die Chancen für jugendliche Partizipation zu vergrößern und alternative Formen der Beteiligung (z. B. Internetaktivismus oder Demonstrationen) stärker zu berücksichtigen – nicht nur während der Corona-Krise.
Häufig wird in den Debatten um beispielsweise (digitale) Unterrichtskonzepte für die Zeit der Pandemie offenbar vergessen, dass Mitsprache und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen kein optionaler Luxus sind, sondern ein Recht – festgeschrieben in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Obwohl es in Deutschland eigentlich eine breite Zustimmung dafür gab, scheiterte die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz im Juni 2021 jedoch an Uneinigkeiten zwischen den Bundestagsfraktionen über die Formulierung. Eine tiefergehende Betrachtung des rechtlichen Aspekts in weiteren Aufsätzen scheint lohnenswert.
Es droht ein neuer Generationenkonflikt
Die faktisch nicht vorhandene Beteiligung junger Menschen während der Corona-Krise führt bei ihnen zu Resignation, Ohnmachtsgefühlen und sehr viel Frust – schließlich greifen die über ihre Köpfe hinweg getroffenen Entscheidungen massiv in ihr Leben ein. Ändert sich nichts an diesem permanenten Ignorieren der jungen Stimmen durch die Politik, könnte dies längerfristig zu einem neuen Generationenkonflikt führen: die – pointiert gesprochen – aus demokratischen Prozessen ausgeschlossenen Jungen gegen die ignorant und bisweilen arrogant (siehe Kretschmann-Zitat) agierenden Älteren. Möchte sich die deutsche Gesellschaft eine Spaltung entlang dieser Linie leisten? Zunehmende Polarisierung bedroht den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt und zieht immer neue Konflikte mit sich. Soll die Vermeidung dieses Generationenkonfliktes kein Lippenbekenntnis bleiben, muss die Jugend stärker beteiligt werden. Mitsprache und Mitbestimmung junger Menschen ist auf der Basis von Demokratie und Solidarität unbedingt geboten – und verhindert drohende Konflikte.