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Mehr als Prävention. Politische Bildung und Extremismusprävention: Schnittmengen und Herausforderungen

In der öffentlichen Diskussion extremistischer Übergriffe und Terroranschläge werden oft hohe Erwartungen an die politische Bildung als ein Instrument der Prävention formuliert. Dabei stellt sich jedoch die Frage, was politische Bildung leisten kann und soll. Politische Bildung bietet mehr als eine Handreichung zum Umgang mit aktuellen Herausforderungen durch politische Extremismen. Ihre Kernaufgabe ist es, die aktive Teilhabe aller Menschen am politischen und gesellschaftlichen Leben zu unterstützen. Dabei leistet sie auch einen Beitrag zur Prävention. Politische Bildung und Prävention bilden keine Einheit, erzeugen aber gemeinsam einen Mehrwert für eine sich vor menschen- und demokratiefeindlichen Extremismen schützende Gesellschaft.

Das Interesse an der politischen Bildung ist besonders dann groß, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt durch extremistische Bewegungen gefährdet scheint. In solchen Momenten wird der Zweck von politischer Bildung häufig auf einen Beitrag zur Extremismusprävention reduziert. Wird sie in dieser verengten Weise verstanden, kann politische Bildung in den Verdacht der Parteilichkeit geraten. Es ist problematisch, wenn sie nur als ein Modul in einem von einer Sicherheitslogik geprägten Repertoire staatlichen Handelns wahrgenommen wird, das sich ausschließlich gegen extremistische Gewalt richtet. Denn die Funktion politischer Bildung ist eine übergeordnete: Sie greift normative Orientierungskonflikte auf und trägt sie aus, bevor es zu einer Radikalisierung von Einzelnen oder Gruppen kommt – und leistet damit in der Tat einen wichtigen Beitrag zur Extremismusprävention. Politische Bildung bildet somit einen Bestandteil der Extremismusprävention, kann in ihrer Funktion aber nicht darauf reduziert werden.

Kernaufgabe und Primärziele politischer Bildung

Unabhängig von akuten gesellschaftlichen Herausforderungen arbeitet politische Bildung daran, Menschen mit dem notwendigen Wissen und den Kompetenzen auszustatten, damit sie im politischen und gesellschaftlichen Prozess mitwirken können. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den Werten, zu denen sich eine Gesellschaft bekennt, die aber in ihrer konkreten Bedeutung immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Letzteres deckt sich nicht mit gezielter Prävention, ist für die Präventionsarbeit aber von zentraler Bedeutung.

Die spezifischen Inhalte politischer Bildung – die Vermittlung von Wissen, Kompetenzen und Werten – entsprechen in Deutschland nicht nur dem Selbstverständnis des Gemeinwesens als Demokratie, sondern sind in hohem Maße von der historischen Erfahrung der Diktatur geprägt. Menschen müssen über politisch relevante Ereignisse und Zusammenhänge informiert sein und Kompetenzen für eine aktive Teilhabe am politischen Prozess erlernen, um ihrer gesellschaftlichen Aufgabe als Teil des Souveräns gerecht zu werden. Ein Grundkonsens über konstitutive Werte ist allen demokratischen Gesellschaften gemein. Aber die Verständigung über diese Werte und ihre konkrete Bedeutung ist stets ein umstrittener Prozess.

Als Beispiele hierfür sei auf die Gebote der Gleichheit aller Menschen, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Nachhaltigkeit, der Religionsfreiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung verwiesen. Auseinandersetzungen über die Bedeutung solcher Werte gehören zum Kerngeschäft politischer Bildung in einer Demokratie und treten in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche besonders deutlich zutage. Paradoxerweise liegt es im Wesen einer demokratischen Gesellschaft, dass auch der als Kern des Zusammenhalts erachtete Wertekonsens für immer neue Aushandlungsprozesse offen bleiben muss. Vor diesem Hintergrund geht es darum, den Rahmen für einen offenen und doch von Prinzipien geleiteten Wertediskurs zu bieten und die Teilhabe aller an einem solchen Diskurs zu fördern.

Eine vorrangige Aufgabe der politischen Bildung ist es, Menschen zu befähigen, selbstgesteuert und selbstwirksam am gesellschaftlichen und politischen Geschehen zu partizipieren. Aufkeimende Ideologien und Bewegungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Wertekonsens bedrohen, fordern die politische Bildung jedoch auch als Teil einer umfassenden Extremismusprävention heraus. Politische Bildung muss in diesem Zusammenhang dazu beitragen, den gesellschaftlichen Grundkonsens über konstitutive Werte zu festigen. Ihre Einbeziehung in die konkrete (fallspezifische) Präventionsarbeit darf jedoch nicht zu Lasten der allgemeinen Bildungsarbeit gehen. Vielmehr müssen die Ziele und Inhalte politischer Bildung vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels und daraus potenziell neu entstehenden Konfliktlinien immer wieder systematisch reflektiert und erneuert werden. Nur so können einzelne Programme zur Prävention zur allgemeinen Bildungsarbeit in Bezug gesetzt werden. Dabei können aber auch Schwachstellen der allgemeinen Bildungsarbeit zutage treten.

Gesellschaftlicher Wandel und Konfliktlinien

In Deutschland und weltweit wird der gesellschaftliche Wandel maßgeblich durch Prozesse der Globalisierung geprägt. Mit zunehmender ökonomischer Vernetzung, europäischer Integration und geographischer Mobilität und Migration sind transnationale Identitäten entstanden, die die traditionelle Rolle der Nationalstaaten verändern. Die Globalisierung stellt so auch nationalstaatsfixierte Konzepte der politischen Bildung infrage und verlangt eine Öffnung der staatsbürgerlichen Bildung hin zu einer international ausgerichteten, am globalen Kontext orientierten Bildungsarbeit. So haben die Vereinten Nationen Global Citizenship Education zu einem der Sustainable Development Goals (SDGs von 2015) erhoben. Auch die politische Bildung in Deutschland befindet sich in einem Weiterentwicklungsprozess, weg vom traditionell nationalstaatlich geprägten Rahmen hin zu globalen und weltgesellschaftlichen Handlungslogiken.

Politische Bildung hat es gleichzeitig mit immer stärker diversifizierten Zielgruppen zu tun und hat selbst den Anspruch, Diversität als einen Wert zu vermitteln. Menschen unterscheiden sich in ihren Kenntnissen und Erfahrungen, in ihren Bedürfnissen und Erwartungen. Je diverser die Zielgruppe, desto komplexer wird die Definition der gesellschaftlichen Anforderungen an politische Bildung und ihre Ziele. Eine zielgruppenspezifische Bedarfsanalyse darf nicht zu stärkeren sozialen Ungleichheiten im Zugang zu politischer Bildung führen.

Angesichts der sozio-kulturellen Vielfalt, mit der politische Bildungsarbeit konfrontiert ist, muss sie sich selbst ständig mit der Frage auseinandersetzen, auf welche Rolle alle Menschen gleichermaßen vorbereitet werden sollen und welches Wissen, welche Kompetenzen und welcher Wertekonsens dazu nötig sind. Dies sollte ein Prozess sein, in den die Menschen eingebunden werden. In diesem Sinne geht es auch darum, zielgruppenspezifische Anforderungen an die politische Bildungsarbeit zu ermitteln, sichtbar zu machen und zu diskutieren, welchen Raum diese in der politischen Bildung einnehmen sollten. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit Akteur.innen der Sozialen Arbeit, der Religionsgemeinschaften, des Strafvollzugs, der Kinder- und Jugendhilfe, mit Arbeitgeber- und nehmerverbänden und den allgemeinen Bildungseinrichtungen nötig, da sie die Brücke zu politisch und gesellschaftlich häufig marginalisierten Gruppen schlagen können.

Mit der rasanten technologischen Entwicklung und den damit einhergehenden neuen Möglichkeiten verändern sich auch die Programmformate in der politischen Bildung. Zum einen führen die Digitalisierung, der Bedeutungsgewinn neuer Medien und die Nutzung virtueller Bildungsformate dazu, dass die inhaltlichen Ziele hinsichtlich Medien- und Teilhabekompetenz angepasst werden müssen. Zum anderen ermöglichen technologische Entwicklungen aber auch die Entwicklung neuer Formate politischer Bildung.

Schnittstelle zur Extremismusprävention

Was folgt daraus für das Verhältnis der politischen Bildung zur Extremismusprävention? Wenn es in der politischen Bildung primär um die Förderung von Teilhabekompetenzen durch Engagement, Verantwortungsübernahme und politische Urteils- und Handlungsfähigkeit geht, so leistet sie dennoch bzw. gerade dadurch einen wichtigen Beitrag zu einer Persönlichkeitsentwicklung, die einer problematischen Radikalisierung vorbeugen soll. Politische Bildung ist nicht darauf beschränkt, einen Kanon von staatsbürgerlichem Wissen zu vermitteln und das Bekenntnis zu den konstitutiven Werten der Gesellschaft im Allgemeinen zu fördern. Sie setzt sich in ihren Maßnahmen auch mit konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander, die ihre eigenen Grundlagen zerstören würden. Politische Bildungsarbeit muss dabei aber immer wieder im Hinblick auf die ihr zugrunde liegenden Werte und Ziele überprüft werden. Mit Blick auf Prävention muss stets klar sein, in welchem Bezug Maßnahmen an der Schnittstelle zur Extremismusprävention zu den Primärzielen von politischer Bildung stehen.

Zugleich bieten die Maßnahmen an dieser Schnittstelle auch einen Mehrwert für die politische Bildung. Zielgruppenorientierte Angebote, die auch für die politische Bildung typisch sind, profitieren von den Erfahrungen und Formaten von Träger.innen aus der Extremismusprävention, die sich verstärkt der politischen Bildung zuwenden. Ein Beispiel hierfür sind Maßnahmen zur allgemeinen politischen Bildung, die im Strafvollzug durchgeführt werden. Gemeinnützige Organisationen, Fachstellen, aber auch Sicherheitsbehörden verfügen über eine hohe eigene Expertise in der Präventionsarbeit und erkennen zunehmend den Wert der politischen Bildungsarbeit, die frühzeitig versucht, extremistische Haltungen zu verhindern.

Ebenso können sie die allgemeine politische Bildungsarbeit unterstützen, indem sie frühzeitig gesellschaftliche Konfliktlinien und problematische Tendenzen erkennen und darüber informieren. Die Kooperation zwischen Akteur.innen aus der Extremismusprävention und der politischen Bildung ist vielversprechend, muss aber ausgehend von den Primärzielen politischer Bildung erfolgen. Anderenfalls droht politische Bildung zum Spielball von partikularen Interessen und Zielen zu werden, die sich auf einen tagespolitischen Handlungsbedarf beziehen.

Während die grundlegenden Ziele der politischen Bildung konstant sind, bedingt der fortschreitende gesellschaftliche Wandel die stetige Veränderung ihrer konkreten Inhalte. Es ist daher Aufgabe der politischen Bildung, die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Bildungsarbeit zu erkennen, zu begleiten und zu ermöglichen. Daraus ergibt sich auch akuter Handlungsbedarf an der Schnittstelle zur Ex­tremismusprävention, insbesondere in der Früherkennung von Konfliktlinien oder in der Reintegration im Strafvollzug. Diese Aktivitäten an den Schnittstellen dürfen aber die allgemeinen Aufgaben in der positiven Begleitung des Wandels nicht verdrängen und erst recht nicht den offenen Diskurs über neue ­Ideen und Wertvorstellungen verhindern. Politische Bildung als ein Radar für Früherkennung und Mittel der Reintegration, gepaart mit dem Prinzip eines offenen Diskurses, erzeugt letztlich auch Mehrwert für Prävention.


PrEVal LogoDas Projekt „PrEval – Evaluationsdesigns für Präventionsmaßnahmen“ erarbeitet, in enger Zusammenarbeit mit der Fachpraxis, Evaluationsdesigns, unter anderem für politische Bildungsformate an der Schnittstelle zur Extremismusprävention. Auf dieses Spotlight werden 2021 vertiefende Studien zu Qualitätssicherung und Evaluation an dieser Schnittstelle folgen.

Teile dieser Bildungsformate zeichnen sich durch einen starken Präventionscharakter aus, etwa durch Lernorte im Strafvollzug oder Maßnahmen mit der erklärten Zielsetzung, Phänomenen wie Rassismus, Diskriminierung oder religiösen Extremismus vorzubeugen. Ein wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Entwicklung der Evaluationsdesigns ist es, die Maßnahmen in Bezug zu den Primärzielen der politischen Bildung zu setzen. Dabei zielt das PrEval-Projekt auch darauf ab, gemeinsam mit politischen Bildner.innen zur Weiterentwicklung des Selbstverständnisses politischer Bildung im gesellschaftlichen Wandel und im Hinblick auf die Extremismusprävention beizutragen.


Download (pdf): Schlicht-Schmälzle, Raphaela/Kroll, Stefan/Theis, Désirée (2021): Mehr als Prävention. Politische Bildung und Extremismusprävention: Schnittmengen und Herausforderungen, PRIF Spotlight 2/2021, Frankfurt/M.

 

 

 

 


Raphaela Schlicht-Schmälzle

Raphaela Schlicht-Schmälzle

Raphaela Schlicht-Schmälzle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSFK und Mitglied der Forschungsgruppe "Radikalisierung". Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Bildung und Vergleichende Bildungspolitik. / Raphaela Schlicht-Schmälzle is a senior researcher at PRIF and member of the research group "Radicalization". Her research focuses on civic education, global citizenship education and comparative education policy.
Stefan Kroll

Stefan Kroll

Dr. Stefan Kroll ist Leiter des Querschnittsbereichs Wissenschaftskommunikation und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Institutionen“. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich interdisziplinärer Normen- und Institutionenforschung, des Wissenstransfers und der politischen Bildung für Themen der Friedens- und Konfliktforschung. // Dr. Stefan Kroll is Head of Science Communication and a senior researcher at PRIF’s research department “International Institutions”. His work focuses on interdisciplinary research on norms and institutions, knowledge transfer, and political education for peace and conflict research topics. | Twitter: @St_Kroll

Désirée Theis

Désirée Theis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation im Arbeitsbereich "Unterricht und Schule". / Désirée Theis is a senior researcher at the unit "Teaching and Schooling" at DIPF | Leibniz Institute for Research and Information on Research.

Raphaela Schlicht-Schmälzle

Raphaela Schlicht-Schmälzle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSFK und Mitglied der Forschungsgruppe "Radikalisierung". Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Bildung und Vergleichende Bildungspolitik. / Raphaela Schlicht-Schmälzle is a senior researcher at PRIF and member of the research group "Radicalization". Her research focuses on civic education, global citizenship education and comparative education policy.

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