Als inhaltsleer wurde der gegenwärtige Wahlkampf schon oft und nicht zu Unrecht geschimpft. Doch auch wenn in den letzten Wochen Sachthemen stärker in den Vordergrund getreten sind, fällt eine eklatante Leerstelle ins Auge: Trotz Klimanotstand und Afghanistandesaster finden außenpolitische Themen kaum Eingang in die öffentlichen Auseinandersetzungen der Kandidat.innen und ihrer Parteien. Wie diese Blogserie zur Bundestagswahl aber zeigt: Es herrscht kein Mangel an außen- und sicherheitspolitischen Handlungsbedarfen und die Wahlprogramme decken diese oft eher pflichtschuldig, selten tiefgründig ab. Dabei kann sich Deutschland eine solche Leerstelle nicht leisten. Außenpolitik ist zu zentral, um öffentlichen Streit darüber zu vermeiden!
Wir leben in aufgeregten, in nervösen Zeiten, in denen schon kleine Fehler, Missverständnisse und Meinungsunterschiede größere Verwerfungen nach sich ziehen. Das lässt sich in unseren innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen beobachten, wenn etwa die Mimik von Kanzlerkandidat.innen den Wahlkampf zwischenzeitlich beherrscht oder Fragen der angemessenen Ansprache gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen nahezu explodieren lassen. Auch international wird die Zündschnur immer kürzer, so wie jüngst in der Konfrontation zwischen Frankreich auf der einen, den USA, Großbritannien und Australien auf der anderen Seite über die Aufkündigung eines U-Boot-Deals zwischen Australien und Frankreich, weil die australische Regierung sich im Zuge eines engeren Sicherheitsbündnisses mit den USA und Großbritannien (AUKUS) lieber Atom-U-Boote der USA anschaffen möchte. Auch die Vergeltungsdiplomatie, die die chinesische Regierung gegenüber empfundenem oder realem Fehlverhalten anderer Nationen oder ihren Unternehmen und Journalist.innen ausübt, zeigt dies auf.
Man muss diese Konflikte und Begebenheiten nicht klein reden. Ein geplatzter 31 Mrd. Euro Rüstungsdeal ist zweifellos ein herber Verlust für die französische Rüstungsindustrie, aber deswegen Botschafter abzurufen? Unter engen NATO-Verbündeten ist das eine außergewöhnliche Reaktion. Und natürlich kann man auch aus Mimik oder Lebensläufen von Anwärter.innen auf ein politisches Amt Schlüsse ziehen wollen auf ihre persönliche Eignung, aber sollten dies die zentralen Themen sein, um die sich politische Auseinandersetzungen der Gegenwart drehen?
Multilaterale Regelsysteme unter Druck – es gibt Handlungsnotwendigkeiten
Wir leben in aufgeregten Zeiten, weil die Zeiten aufregend sind: Schon seit geraumer Zeit verschieben sich die globalen Machtverhältnisse. Mit China ist eine Großmacht herangewachsen, die ordnungspolitische Visionen hat und zunehmend die Ressourcen, um sie umzusetzen (vgl. Friedensgutachten 2020). Die Konflikte zwischen China und den USA, der schwächelnden Führungsmacht, nehmen in vielen Handlungsfeldern der internationalen Politik zu und auch Europa kann sich diesen Konflikten nicht entziehen. Zugleich erfordern zahlreiche Krisen ein koordiniertes und noch mehr ein gemeinsames internationales Handeln: Der Klimawandel ist abseits einiger Unverbesserlicher ein Faktum geworden, das wir in Extremwetterereignissen immer deutlicher spüren und für das wir dringend Lösungen benötigen. Die Covid19-Pandemie ist nicht ausgestanden und noch immer ist unklar, wie eine gerechtere Verteilung von Vakzinen zwischen den Nationen erreicht werden kann. Es gibt keine Fortschritte hinsichtlich der Befriedung zentraler Konfliktgebiete, etwa in der Ostukraine, im Jemen oder in Syrien (vgl. dazu auch das Friedensgutachten 2021). In Mali verschlechtert sich die Sicherheitslage kontinuierlich und nach einer zwei Jahrzehnte dauernden multinationalen Intervention in Afghanistan kamen die Taliban in wenigen Wochen zurück an die Macht. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind in vielen Regionen dieser Erde, auch in Europa unter Druck und teils auf dem Rückzug und es fehlen effektive Mittel, um auch nur EU-Mitgliedsländer zu einem Bekenntnis zu den Werten und Prinzipien der EU-Charta zu zwingen, geschweige denn zu einer gemeinsamen Migrations- und Fluchtpolitik.
Die multilateralen Organisationen, die gegründet wurden, um die großen Kooperationsprobleme der Menschheit zu managen – Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit, Umwelt – wirken oftmals gelähmt. An die Wand gedrückt durch Austritte und Austrittsdrohungen, durch Budgetkürzungen oder einfach in ihren Beschlüssen und Entscheidungen ignoriert von den Staaten. Die auf Multilateralismus basierende internationale Ordnung, so konstatiert das von der Bundesregierung im Frühjahr 2021 veröffentlichte Weißbuch Multilateralismus lapidar, sei unter Druck.
Der Druck auf die multilateralen Regelsysteme und Organisationen kommt nicht allein von autoritären Spielverderbern, die der liberalen Weltordnung gegenüber feindlich gesonnen sind, wie viele meinen. Es sind nicht allein China, Russland oder der Iran, die multilaterale Regelsysteme ignorieren oder umzubauen gedenken. Auch aus den heartlands dieser Ordnung, von liberalen Demokratien, die sie einst mitbegründet haben, baut er sich auf: Länder, wie die USA[1] oder Großbritannien ziehen sich aus Regelwerken zurück oder reklamieren Ausnahmetatbestände für sich. Beispiele gibt es genug: Die Bestreitung der Geltung des internationalen Folterverbots durch die USA in ihrem Global War on Terror, Israels Grenzmauerbau trotz eines eindeutigen Gutachtens des internationalen Gerichtshofs oder die kollektive Unterbietung der Zusagen im aktuellen Klimaprozess.
Die multilaterale Ordnung wird mithin von außen und innen bedroht. Von innen, weil sich ihre Verteidiger von den Institutionen, die sie einst mitbegründet haben, abwenden und glauben, ihre Interessen besser ohne sie verwirklichen zu können. Von außen, weil neue Herausforderer auf die Bühne getreten sind, die stark genug geworden sind, um die alte Ordnung nun offen herauszufordern, weil sie dringend benötigte Ressourcen zu globalen Problembewältigung besitzen, oder aber jene, die wie Russland ihre verbliebene Stärke nutzen, um durch Obstruktionspolitik die alte Ordnung so zu schwächen, dass sie neue Handlungsspielräume erobern können.
Diese Entwicklung ist schon für sich genommen problematisch, denn die multilateralen Institutionen und Regelwerke haben neben ihrer spezifischen Problemlösungskompetenz auch eine allgemeine Kompetenz: Sie sollen Berechenbarkeit zwischen Staaten erzeugen und darüber vermittelt Vertrauen und die Chance eines friedlichen Miteinanders erhöhen. Multilateralismus ist aktive Friedenspolitik. Wird er geschwächt, wie das gegenwärtig allenthalben zu beobachten ist, steigt die Krisenanfälligkeit. Die „kurze Zündschnur“, die gegenwärtig in so vielen Konfliktfeldern zu sehen ist, ist ein Indikator für die nachlassende Bindekraft multilateraler Regeln und Organisationen. Konflikte werden zunehmend außerhalb dieser Regelsysteme und der etablierten Foren ausgetragen.
Deutschland benötigt eine außenpolitische Kontroverse
Gerade für ein Land wie Deutschland, das keine Großmacht ist, ist diese Entwicklung besonders ungünstig: Mittelmächte sind auf regelbasierte Ordnungen angewiesen, weil sie ihre Ziele und Interessen nicht auf Macht gründen und durchsetzen können. Wollen sie nicht zum Spielball der Mächtigen werden und in deren Auseinandersetzungen zerrieben werden, sind starke multilaterale Regeln und Organisationen zentral, die ihre Rechte schützen und ihre Interessen berücksichtigen. Das heißt nicht, dass multilaterale Regeln und Institutionen garantieren, dass die Interessen Schwächerer gleichermaßen berücksichtigt werden. Viele Studien (etwa hier und hier) haben gezeigt, dass das Recht jene begünstigt, die es hervorgebracht haben und das sind eben zumeist jene, die über entsprechende Machtressourcen verfügen. Aber selbst eine asymmetrische Berücksichtigung ihrer Interessen ist für die ohne Macht besser als gar keine.
Umso bedenklicher ist es, dass diese Entwicklungen im aktuellen Wahlkampf um die zukünftige Regierungspolitik nahezu keine Rolle spielen. Zwar gibt es durchaus Positionen zu themenspezifischen internationalen Problemlagen auf Seiten der Parteien, genauso wie ein generelles Bekenntnis zur multilateralen regelbasierten internationalen Ordnung fast aller Parteien (siehe die Beiträge in dieser Blogserie, die diese Positionen systematisch aufarbeiten). Aber die grundlegende Problematik, wie Deutschland sich in einer Weltordnung behaupten will, die ihr Zentrum nicht länger in Europa sucht, sondern in Asien, wird ausgeblendet.
Die letzten vier Jahre mit einem US-Präsidenten Donald Trump waren ein sneak preview, wie es sich in einer Ordnung lebt, in der Europa und Deutschland am Rand und nicht mehr im Zentrum stehen. Die globalen Machtverschiebungen sind mit dem Ende von Trumps Präsidentschaft nicht gestoppt worden und auch ein kooperationsfreundlicherer US-Präsident Joe Biden wird seine Aufmerksamkeit vor allem auf den indopazifischen Raum richten, wie seine Allianzbildung mit Großbritannien und Australien zeigt. Umso dringlicher stellen sich die Fragen, welche Normen und Regeln unverzichtbar für Deutschland und Europa sind und welche man gegebenenfalls preiszugeben bereit wäre, wenn es zum Konflikt kommt. Welche Partner braucht Deutschland, um diese Regeln und Normen zu verteidigen?
Wer sich diesen Fragen nicht stellt, sondern sich nur in Farbenlehre ergeht, um seine Machtpositionen auszuschöpfen, verspielt die Zukunft.
[1] Am eklatantesten ist das sicher für die USA zu beobachten, die in den letzten Jahre gleich aus mehreren Institutionen und Vertragswerken aus und zuletzt teils auch wieder eintraten – beispielsweise der UNESCO, dem UBN-Menschenrechtsrat, der WHO, dem Pariser Klimaabkommen oder dem Iran-Nuklearabkommen.