Im Dezember legte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf zur Reform des Schengen-Systems vor. Was auf den ersten Blick die Grenzkontrollen im Rahmen des Schengener Grenzkodexes harmonisieren soll, könnte zur weiteren Erosion der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen beitragen. Die Mitgliedstaaten werden primär mit Maßnahmen ausgestattet, die auf Abschreckung und Verhinderung von Asylverfahren ausgerichtet sind. Dies untergräbt letztlich das normative Fundament der Union.
Der Schengener Grenzkodex befindet sich nicht erst seit der Corona-Pandemie in einer systemischen Krise: Bereits in Folge der Migrationsbewegungen nach Europa ab 2015 und dem darauf folgenden Zusammenbruch des Dublin-Systems hatten gleich mehrere Mitgliedstaaten auf die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen gesetzt, um Sekundärmigration, also die Weiterreise aus dem europäischen Erstankunftsland in andere Mitgliedstaaten, zu verhindern. Eigentlich soll das Zusammenspiel aus Dublin-III-Verordnung und dem Eurodac-System dafür sorgen, dass sich nachprüfen lässt, in welchem EU-Mitgliedstaat Flüchtende zuerst ankommen und wo demzufolge das Asylverfahren zu führen ist. Doch die fehlende Einigung im Umgang mit steigenden Flüchtlingszahlen und der Mangel an innereuropäischer Solidarität führten zur Abkehr von den offenen Binnengrenzen. Durch den sogenannten „Kampf gegen den Terror“ nach den Anschlägen von Paris (2015), Brüssel (2016) und Berlin (2016) und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie folgten weitere massive Einschränkungen der Personenfreizügigkeit.
Ein Rettungsversuch
Der am 14. Dezember 2021 vorgelegte Entwurf möchte nun die Defizite des Schengen-Systems auf Kosten des Flüchtlingsschutzes abschwächen. Binnengrenzkontrollen sollen voraussetzungsvoller werden und den Mitgliedstaaten werden alternative Maßnahmen an die Hand gegeben, deren Prüfung der Wiedereinführung von Grenzkontrollen stets vorausgehen soll. Darunter fallen laut Entwurf etwa gezielte Polizeikontrollen, der Ausbau polizeilicher Zusammenarbeit und eine Reduktion der Grenzübergangsstellen. Die Mitgliedstaaten werden also primär mit Maßnahmen ausgestattet, die auf Abschreckung und Verhinderung von Einreise und Asylverfahren ausgerichtet sind.
Als Anlass für diesen Vorstoß nennt die Kommission die Covid-19-Pandemie, die zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus eine Kontrolle der Außengrenzen notwendig gemacht hätte. Weitere Maßnahmen seien außerdem erforderlich, um die Außengrenzen stärker zu kontrollieren, damit Situationen verhindert werden können, „in denen Migranten für politische Zwecke instrumentalisiert werden“. Der Verweis auf die Situation an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus ist eindeutig. Dass die Instrumentalisierung nur funktioniert, weil die EU ihre eigenen Rechtsnormen missachtet, bleibt hingegen unerwähnt.
Priorisierung des Grenzschutzes
Laut EU-Kommission seien die geplanten Neuerungen mit der „uneingeschränkte[n] Achtung der Grundrechte“ vereinbar. Doch die Wiederherstellung eines funktionierenden Schengen-Raumes erfolgt anhand eines Kompetenzzuwachses der nationalen Exekutivkräfte, der Militarisierung der Grenzen und einer Einschränkung des Flüchtlingsschutzes. Gerade die vorgesehene Verlängerung der Registrierungsfrist um bis zu vier Wochen führt dazu, dass Flüchtende in Zwischenstadien verharren müssen, wie derzeit an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Gemäß EU-Recht muss bisher innerhalb von maximal zehn Tagen eine Registrierung von Geflüchteten nach dem Grenzübertritt erfolgen. In der Vergangenheit wurden immer wieder Fälle bekannt, in denen Mitgliedstaaten dieses Zeitfensterdazu nutzten, um Grundrechte zu verwehren oder Geflüchtete zu inhaftieren.
Die Ausweitung der Registrierungsfrist wird möglich durch das Instrument der Fiktion der Nichteinreise. Dies illustriert, über welche Umwege die EU versucht, eigene Grundrechte außer Kraft zu setzen. Das Instrument imaginiert, dass Personen im Grenzgebiet eine Grenze noch nicht überschritten hätten, um ihnen zentrale Grundrechte, die auf diesem Territorium gelten, vorzuenthalten. Außerdem sollen alle Asylanträge künftig an den Außengrenzen bearbeitet werden. Diese Verlagerung der Bearbeitung von Asylverfahren wirft die Frage auf, wie etwa das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art. 47 GrCh) weiterhin gewahrt werden soll.
Geplant sind auch Notverfahren für die Rückführungen und ein verstärkter Einsatz der EU-Agenturen (Asylagentur der EU, Frontex und Europol). Frontex steht allerdings immer wieder wegen der Durchführung illegaler Pushbacks, einem Verstoß gegen Art. 18 der EU-Grundrechte-Charta und das in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verankerte Non-Refoulement-Gebot, auch Grundsatz der Nichtzurückweisung genannt, in der Kritik. Pushbacks bezeichnen die Zurückdrängung flüchtender Menschen vor oder unmittelbar nach dem Grenzübertritt bevor ein Asylantrag gestellt werden konnte. Ohne eine Prüfung des Asylgesuchs kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Zurückdrängung Verfolgung oder andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Herkunftsland zur Folge hat. Daher lässt sich aus dem Non-Refoulement-Gebot das Recht auf individuelle Prüfung eines Asylantrags ableiten.
Bereits seit Anfang 2017 ist dokumentiert, dass an den EU-Außengrenzen solche illegalen Zurückweisungen eingesetzt werden. Doch die EU hat diese massive Grundrechtsverletzung nicht etwa sanktioniert, sondern Frontex zunehmend mit Kompetenzen und Budget ausgestattet. Auch Kroatien kann bisher ungehindert Flüchtende an der Grenze zurückweisen und steht dennoch – oder deswegen? – kurz vor der Aufnahme in den Schengen-Raum. Immerhin: Die neuesten Recherchen über Menschenrechtsverletzungen an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina wurden zuletzt durch EU-Innenkommissarin Johansson scharf kritisiert.
Dichotomie des europäischen Grenzregimes
Die Genese des Schengen-Raums und die Entstehung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sind eng miteinander verbunden, denn sie bedingen sich gegenseitig. Bereits im Maßnahmenpapier für die Vorbereitung zur Abschaffung der Grenzkontrollen von 1989, dem sogenannten Palma-Dokument, betont die Koordinationsgruppe die Notwendigkeit von undurchlässigen Außengrenzen. Die Abschottung nach außen wird folglich auch zur Organisationslogik des später entstandenen GEAS. Erst der Amsterdamer Vertrag fügte 1997 die normative Dimension des Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz hinzu. Zwar geht bereits aus der Genfer Flüchtlingskonvention die Verpflichtung hervor, auf die Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs (Art. 1 A Nr. 2 GFK) zu überprüfen und nicht in Verfolgerstaaten aus- oder zurückzuweisen (Art. 33 Abs. 1 GFK, s. Anmerkung Nr. 4). Doch das Unionsrecht geht sogar einen Schritt weiter, indem es in Art. 18 der Grundrechtecharta ein Recht auf Asyl und in der sogenannten Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) einen Anspruch auf die Prüfung des individuellen Asylgesuchs garantiert.
Zwischen den beiden Polen von normativem Menschenrechts- und Flüchtlingsschutz sowie protektionistischer Politik ergibt sich ein nicht aufzulösendes Spannungsfeld, das die Probleme der politischen Integration demonstriert. Es entsteht, was Lavenex (2018) mit Rückgriff auf Nils Brunsson „organized hypocrisy“ nennt. Der Begriff beschreibt die Diskrepanz zwischen dem proklamierten Selbstverständnis einer Wertegemeinschaft und gleichzeitiger Abschottungspolitik. Insbesondere seit 2015 vollziehe sich im GEAS „the continuous de-coupling between protective aspirations and protectionist policies” (Lavenex 2018: 1196). Die im GEAS angelegten Instrumente des Flüchtlingsschutzes verschwinden seitdem zunehmend.
Ausblick
Sowohl der Schengener Grenzkodex als auch der Flüchtlingsschutz stellen integrale Bestandteile der EU und ihres Fundaments dar. Doch bereits in der ersten Harmonisierungsphase des GEAS kritisierte der UNHCR die Missachtung internationaler Standards und zu große Differenzen bei der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Dies wurde auch in der zweiten Harmonisierungsphase (2011–2013) nicht behoben. Stattdessen akzeptierte die EU die sich in nationaler Gesetzgebung vollziehende Abschottungspolitik und die Untergrabung der europarechtlichen Mindeststandards durch die Mitgliedstaaten. In Folge der 2015-2016 stark angestiegenen Migrationsbewegungen manifestierte sich diese Entwicklung schließlich auch auf EU-Ebene. Der jetzt vorlegte Entwurf der Kommission weicht davon nicht ab und macht deutlich, dass die Wahrung zentraler Grundrechte in der Priorität unterhalb derer des freien Personen- und Güterverkehrs steht.
Während sich die Mitgliedstaaten im Management der Fluchtbewegungen 2015 noch uneins waren und humanitäre sowie rechtewahrende Maßnahmen neben Abschottungstaktiken koexistierten, scheint man sich in der Stoßrichtung nun allerdings einig. Dadurch vollzieht sich jedoch keine zunehmende Integration des Politikfeldes, sondern vielmehr eine Formalisierung der De-Integration. Statt die Grenzkontrollen auf europäischer Ebene zu regeln, überlässt man es den Mitgliedstaaten, bilaterale Abkommen für die Zusammenarbeit zwischen ihren Polizeien zu vereinbaren Die Re-Nationalisierung der Grenzregime und die Aushöhlung der eigenen Mindeststandards im Flüchtlingsrecht werden damit weiter fixiert.
Der Schengener Grenzkodex wird somit verstärkt zu einem Instrument der Migrationsgovernance, das die Schwächen des Dublin-Systems auffangen soll. Statt das GEAS auf ein Fundament zu setzen, das Grundrechte wahrt und Migrationsmanagement gesamteuropäisch und solidarisch fasst, versucht man systemische Risse behelfsweise zu flicken. Beeinträchtigungen der völkerrechtlichen Grundsätze und des Selbstverständnisses einer Wertegemeinschaft scheinen dabei als Kollateralschäden verbucht zu werden.