US-Präsident Joe Biden äußert sich zu Russlands unprovoziertem Angriff auf die Ukraine
US-Präsident Joe Biden äußert sich zu Russlands unprovoziertem Angriff auf die Ukraine | Photo: The White House | CC BY 3.0

Tanz auf tektonischen Platten: Biden und die US-Anti-Interventionisten in der Ukraine-Krise

US-Präsident Joe Biden hat sich in der Ukraine-Krise klar als Anführer des westlichen Widerstands gegen die russische Aggression positioniert und damit auch der NATO und dem Westen insgesamt zu neuer Geschlossenheit verholfen. Bidens Amtsvorgänger hingegen macht Schlagzeilen mit seiner offenen Parteinahme für Wladimir Putin. Und auch jenseits von Donald Trumps Provokationen zeigt die inneramerikanische Debatte über die aktuelle Krise, dass sich die Konturen der amerikanischen Außen- und Verteidigungspolitik unaufhaltsam weiter verschieben und alte transatlantische Gewissheiten von neuen Prioritäten – allen voran China – überlagert werden. Diese geopolitische Plattentektonik hat Folgen sowohl für Bidens Ukraine-Strategie als auch für Deutschland und Europa.

Schon nach Wladimir Putins Ankündigung, die Separatistengebiete der Ostukraine als unabhängige Staaten anzuerkennen und „Friedenstruppen“ zu ihrer Unterstützung zu entsenden, war die Reaktion des Westens bemerkenswert einmütig. EU, USA, und Großbritannien verhängten schnell erste Sanktionen gegen russische Individuen und Banken, und auch der langjähre transatlantische Stein des Anstoßes, die Nordstream 2-Pipeline, war überraschend schnell auf Eis gelegt. Nicht nur in dieser Frage hatte die US-Regierung auf eine harte Linie gegenüber Russland gedrängt (Stichwort Waffenlieferungen) und damit die traditionelle Führungsrolle der USA innerhalb des NATO-Bündnisses neu belebt. Putins Angriffsbefehl in der Nacht zum Donnerstag lässt den Westen nun noch näher zusammenrücken. Und wieder ist es Biden, der ankündigt, die USA und ihre Verbündeten würden Russland „zur Verantwortung ziehen“. Und doch sind trotz aller ostentativen Geschlossenheit in der US-Debatte politische Risse zu Tage getreten, die von größeren und langfristig unaufhaltsamen strategischen Verschiebungen zeugen.

Spätestens Trumps Lobeshymne für das „Genie“ Putins hat auch der deutschen und europäischen Öffentlichkeit klar gemacht, dass Biden die amerikanische Politik und Gesellschaft keineswegs geschlossen hinter sich weißDas Nachkriegs-Diktum des US-Senators Vandenberg, die Parteipolitik ende am Meeresufer („Politics stops at the water’s edge“), gilt nur noch eingeschränkt. Bidens aktuelle Russlandstrategie steht auf einem schwankenden innenpolitischen Grund.

Neben Trump macht auch der einflussreiche rechte Fox-Moderator Tucker Carlson Stimmung gegen eine Einmischung der USA im Konflikt um die Ukraine und bedrängt seine – republikanischen – Talkshow-Gäste mit den immer gleichen Fragen: warum die Ukraine wichtig für die USA sei, was die Solidarität mit europäischen Verbündeter dem Durchschnittsamerikaner eigentlich bringe und warum man nicht eher Truppen an die Südgrenze der USA als an eine europäische Grenze verlegen solle? JD Vance, republikanischer Kandidat für einen Senatorenposten in Ohio, bedient ähnliche Ressentiments. Die Ukraine sei ihm „egal“, ein viel wichtigeres Problem sei etwa Drogenhandel über die mexikanische Grenze hinweg. Als früherer Soldat der US-Marines sehe er nicht ein, dass man jetzt gegen Putin kämpfen müsse, „nur weil der nicht an Transgender-Rechte glaubt“.

Kakophonie im US-Kongress

Mit ihrer offenen Sympathie für Putin sind Trump, Carlson und Vance sicherlich die bizarrsten Exponenten einer gleichwohl breiteren Strömung im rechten Flügel der Republikaner, die die Verteidigung der Ukraine nicht für eine vordringliche Aufgabe der amerikanischen Außenpolitik halten. So fordert z.B. Senator Josh Hawley, strammer Trumpianer aus Missouri, in einem Brief an US-Außenminister Antony Blinken, die USA müssten ihre Unterstützung für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine beenden. Hawley spricht sich zudem dagegen aus, im Fall einer russischen Invasion mehr US-Truppen nach Europa zu verlegen. Zwar könne und solle man die Ukrainer durchaus – auch mit Waffen – unterstützen, aber US-amerikanisches Militär und Ressourcen würden in erster Linie anderswo gebraucht: im Indo-Pazifik zur Einhegung eines zunehmend „hegemonial“ auftretenden Chinas. Ganz ähnlich argumentiert auch Elbridge Colby, der unter Trump einen hohen Posten im Pentagon bekleidete und jetzt die – dem militärisch-industriellen Komplex nahestehende – Denkfabrik „Marathon Initiative“ leitet. Die Ukraine-Krise nennt er eine „Ablenkung von Taiwan“ und argumentiert gegen zusätzliche US-Truppen in Europa.

Die Entwicklung bei den Republikanern ist für Amerikas europäische Verbündete an sich schon beunruhigend – die nächsten Präsidentschaftswahlen stehen schon 2024 an. Wie sehr sich die innenpolitischen Grundlagen der US-Außenpolitik derzeit verschieben, wird aber vor allem in einer erstaunlichen Zweck-Allianz zwischen rechten Republikanern und „progressiven“ Demokraten deutlich. So unterzeichneten die demokratischen Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez und Cori Bush einen gemeinsamen Brief mit rechten Republikanern wie Paul Gosar, in dem Präsident Biden aufgefordert wird, vor einer möglichen Entsendung von US-Truppen in die Ukraine die Zustimmung des Kongresses einzuholen. Da Biden einen solchen Schritt ohnehin kategorisch ausschließt, ist der Brief in erster Linie als Signal an die zunehmend interventions-kritische Basis beider Parteien zu werten und ist auch Teil einer breiteren Debatte über die „War powers“ von Kongress und Präsident. Bernie Sanders, immer noch eine Ikone der linken Demokraten, erinnert derweil an die Monroe-Doktrin und frühere US-Interventionen in Mittel- und Südamerika, um – etwas verquer – zu folgern, man sei zwar für die ukrainische Souveränität, aber es sei doch heuchlerisch von den Amerikanern, das von Putin vorgebrachte Argument einer russischen „Einflusssphäre“ abzulehnen.

Diese auf den ersten Blick unwahrscheinliche neue Allianz von Russland-„Tauben“ (Doves) bestimmt (noch) nicht die aktuelle US-Politik – im Senat dominieren auf beiden Seiten nach wie vor die „Falken“ (Hawks), die eher noch härtere Maßnahmen verlangen. Allerdings konnte sich auch der Senat vergangene Woche nur mit großer Mühe auf eine überparteiliche Resolution einigen, die Russland zwar mit Sanktionen drohte, dabei aber unverbindlich blieb. Der Versuch, ein großes Sanktions- und Militärhilfeparket in verbindliche (Gesetztes-)form zu gießen, war nach langen Verhandlungen gescheitert – auch am Widerstand des libertären und anti-interventionistischen Republikaners Zwar kann Biden auch ohne den Senat Sanktionen verhängen, aber eine Unterstützung der Kammer hätte ein klareres Zeichen der Abschreckung gesandt.

Neue Perspektiven der Denkfabriken

Und auch außerhalb des Kapitols, in den mit der Politik zum Teil eng verzahnten Denkfabriken und Universitäten, gewinnen solche Stimmen an Bedeutung, die entweder grundsätzlich gegen Interventionen und für außenpolitische Zurückhaltung argumentieren – wie etwa das eigens zu diesem Zweck gegründete Quincy Institute for Responsible Statecraft – oder die Auseinandersetzung mit China priorisieren. Zu letzteren zählt neben Colby auch John Mearsheimer, führender Vertreter der „neorealistischen“ Denkschule. Bereits 2014 schrieb der Chicagoer Professor, die Krim-Annexion durch Russland sei letztlich „die Schuld des Westens“, denn dieser habe in einem „liberalen Größenwahn“ versucht, Russlands Hinterhof – die Ukraine – in eine Bastion des Westens zu verwandeln. Heute fordert er, Amerika müsse es den Russen „schriftlich geben“, dass die Ukraine nie Teil der NATO werde, und prophezeit, sobald das passiere, sei die Krise vorbei. China sei für die USA die größere Herausforderung, und Russland eigentlich ein „natürlicher Verbündeter“. Zwar findet letztere Einschätzung keine breite Zustimmung im politischen Washington, doch Mearsheimers Analyse einer fehlgeleiteten westlichen Politik gegenüber Russland wird seit längerem weithin geteilt, nicht nur von konservativen Analysten wie George Beebe (Center for the National Interest) oder Josh Shifrinson (Boston University), sondern auch von liberalen und Europa-freundlichen Stimmen wie Charles Kupchan (Council on Foreign Relations) oder dem langjährigen demokratischen US-Diplomaten und heutigen CIA-Direktor Bill Burns.

Die Folgen für die US-Politik und Europa

Die langfristigen und grundsätzlichen Verschiebungen im amerikanischen politischen Diskurs haben Folgen sowohl für Bidens aktuelle Ukraine-Strategie als auch für Europa und Deutschland. Biden ist – trotz seiner persönlichen transatlantischen Überzeugungen – durch die Argumente seiner Kritiker gleich in mehrfacher Hinsicht verwundbar. Zum einen kommt ihm die Ukraine-Krise mindestens ungelegen, nachdem seine Administration eigentlich mit einem „Laser-Fokus“ auf China gestartet war. Trotz der scharfen Rhetorik des Augenblicks hat Biden also weiterhin ein Grundinteresse an der Verständigung mit Russland, um sich der aus seiner Sicht langfristig größeren asiatischen Herausforderung zuwenden zu können.

Zum anderen impliziert das ebenfalls von ihm ausgerufene Motto einer „foreign policy for the middle class“, dass die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Durchschnittsamerikaner oberste Priorität der Außenpolitik sein muss. Insofern verwundert es nicht, dass Biden auch im Hinblick auf die neuesten Russland-Sanktionen betont, diese würden die Wirtschaft Russlands treffen, „nicht unsere“. Sollte Biden dennoch zu den drakonischsten Strafmaßnahmen greifen, die einen wirtschaftlichen Kollaps Russlands nach sich ziehen und schwerwiegende Folgen für die Weltwirtschaft haben könnten, könnte dies hohe politische Kosten für ihn haben und seine Handlungsspielräume an anderer Stelle einschränken. Die ohnehin schon hohe Inflation zehrt bereits jetzt an seinen Zustimmungsraten und an den Chancen der Demokratien bei den wichtigen Midterms.

Für Europa und insbesondere Deutschland hat diese inneramerikanische Gemengelage unangenehme Folgen. Aktuell ist fraglich, ob Biden angesichts der eigenen wirtschaftspolitischen Zwänge sein Versprechen einlösen kann, die Europäer effektiv vor russischen Gegenmaßnahmen (insbesondere auf dem Gasmarkt) zu schützen. Langfristig sollte den Europäern vor allem Sorgen machen, worüber praktisch alle US-Analysten über das politische Spektrum hinweg sich einig sind: dass die künftigen politischen Prioritäten der USA – sei es die Erneuerung der amerikanischen Demokratie, die Wirtschaft oder China – es zwingend erfordern, die Verteidigung Europas zunehmend in europäische Hände zu legen. Aus deutscher und europäischer Sicht ist letztlich egal, ob Bidens rechte und linke Kritiker US-Truppen lieber an die mexikanische Grenze verlegen, in den Indo-Pazifik schicken oder zugunsten der heimischen Infrastruktur reduzieren wollen. In Europa werden sie so oder so fehlen, nicht kurz- aber sicher langfristig. Wenn Europa diese tektonischen Verschiebungen trotz der momentan wieder erstarkten US-Führungsrolle erkennt und rechtzeitig darauf reagiert, indem es jetzt in seine gemeinsame Verteidigung investiert, dann liegt in der gegenwärtigen Krise auch eine Chance.

Caroline Fehl

Caroline Fehl

Dr. Caroline Fehl ist Vorstandsmitglied an der HSFK wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich „Internationale Sicherheit“. Ihre Forschung konzentriert sich auf internationale Normen, Institutionen und Organisationen im Bereich der Rüstungskontrolle, Völkerrecht und internationale Strafjustiz. // Dr Caroline Fehl is Member of the Executive Board at PRIF and Senior Research Fellow at the Research Department “International Security”. Her research focuses on international norms, institutions and organizations in the fields of arms control, humanitarian law and international criminal justice. | Twitter: @CarolineFehl

Caroline Fehl

Dr. Caroline Fehl ist Vorstandsmitglied an der HSFK wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich „Internationale Sicherheit“. Ihre Forschung konzentriert sich auf internationale Normen, Institutionen und Organisationen im Bereich der Rüstungskontrolle, Völkerrecht und internationale Strafjustiz. // Dr Caroline Fehl is Member of the Executive Board at PRIF and Senior Research Fellow at the Research Department “International Security”. Her research focuses on international norms, institutions and organizations in the fields of arms control, humanitarian law and international criminal justice. | Twitter: @CarolineFehl

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