Das Bild zeigt Putin und Lukaschenko im Kreml bei der Überwachung von Militärübungen.
Putin und Lukaschenko beobachten die Übung der Abschreckungstruppen im Kontrollraum des Kremls. | Photo: www.kremlin.ru | CC BY 4.0

Heraus aus der Abschreckungslogik: Wie der Westen mit Russlands nuklearer Bedrohung umgehen sollte

Die Angst vor einem russischen Nuklearangriff nach Putins Drohungen in seiner denkwürdigen Kriegserklärung gegen die Ukraine am 24. Februar hat in Europa eine Renaissance der nuklearen Abschreckung und Forderungen nach atomarer Aufrüstung befeuert. Russlands Angriffskrieg, so eine gängige Einschätzung, sei nur deshalb möglich gewesen, weil die Ukraine auf Nuklearwaffen und deren abschreckende Wirkung verzichtet habe. Folglich müsse nun die nukleare Teilhabe in der NATO gestärkt und die Einsatzbereitschaft der Nuklearstreitkräfte auch in Deutschland forciert werden.

Tatsächlich hat die Ukraine selbst nie Nuklearwaffen besessen. Vielmehr handelte es sich um dort stationierte sowjetische Sprengköpfe, über die Kiew nicht selbständig verfügen konnte und die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes im Zuge einer umfassenden beidseitigen Abrüstungsphase demontiert wurden. Den menschenverachtenden Krieg Putins mit einem Mangel an nuklearer Abschreckung zu erklären, greift zu kurz. Es bedeutete zu Ende gedacht, dass der einzig verlässliche Schutz gegen militärische Überfälle in der nuklearen Bewaffnung aller Staaten bestünde. Ein zweifelhaftes Argument, das in der Vergangenheit vor allem von autoritären Staaten vorgetragen und zur Rechtfertigung nordkoreanischer und iranischer Verstöße gegen den Atomwaffensperrvertrag genutzt wurde. Folgt man dieser Logik, wäre Putin schon bald nicht mehr der einzige Tyrann, der seinen Machthunger mit nuklearen Mitteln stillt.

Keine Friedensbringer

Nein, Putins Tabubruch, einen Angriffskrieg nuklear abzuschirmen, ist kein Beweis für den friedensbringenden Segen von Nuklearwaffen. Er führt uns die destabilisierenden und tödlichen Konsequenzen der Entgrenzung nuklearer Abschreckung vor Augen. Und die Unmöglichkeit, einen verantwortungsvollen Gebrauch von Nuklearwaffen auf Grundlage von „nuklearer Grammatik“, strategischem Gleichgewicht und anderen Berechnungsmodellen zu gewährleisten. Viel wurde in den vergangenen Jahren versäumt, nicht aber die nukleare Ertüchtigung und Wettbewerbsfähigkeit der Nuklearstreitkräfte. Alle Atommächte – außer Israel (vermutlich) – rüsten auf. Nicht nur Russland, auch die USA modernisieren kontinuierlich ihre Arsenale und erweitern ihre Trägersysteme. Ebenso Frankreich und Großbritannien, wobei London seine Nuklearstreitkräfte sogar zahlenmäßig ausweitete.

Die beiden größten Nuklearmächte steigerten nicht nur die Einsatzfähigkeit ihrer Hardware. Mit Ausnahme der Obama-Administration weiteten sie auch ihre Doktrinen aus. Diese schließen heute nicht nur Angriffe mit anderen Massenvernichtungswaffen als mögliche Szenarien für eine nukleare Antwort ein. Auch konventionelle Schläge des Gegners können eine nukleare Reaktion und den Ersteinsatz begründen, wenn sie die eigene, diffus definierte nationale Existenz gefährden. Washington und Moskau eröffneten sich daher zunehmend wieder Möglichkeiten zur vermeintlich begrenzbaren nuklearen Kriegsführung auf fremdem Territorium. Russlands nuklear abgesicherter Angriffskrieg setzt diese Entgrenzung der nuklearen Abschreckung auf makabre Weise fort und offenbart die ihr innewohnende Perversion.

Weitere nukleare Abschreckung bestätigt das russische Narrativ

Putin fehlte zur glaubhaften Abschreckung die dazugehörige „Glacis“, das verbündete nukleare Schlachtfeld. Die Biden-Administration ist zwar weit davon entfernt, einen nuklearen Stellvertreterkrieg in Europa auch nur zu erwägen. Doch die abschreckungspolitische Lücke im russischen Nukleardispositiv für ein solches Szenario gehört zu den wenig beachteten strategischen Hintergründen für die militärische Expansion und Raketentests Russlands in Belarus und den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Würde die NATO mit einer Ausweitung der nuklearen Abschreckung reagieren, etwa durch eine Stationierung von US-Nuklearwaffen in Osteuropa, käme dies einer Bestätigung des russischen Narratives gleich und könnte so den Weg in einen dritten Weltkrieg ebnen. Wie soll sie stattdessen auf Putins imperialen Missbrauch von Nuklearwaffen reagieren? Welche Schlussfolgerungen sind aus Russlands Erschütterung des nuklearen common sense zu ziehen?

Wenn das gemeinsame Verständnis von nuklearer Abschreckung weg ist, geht auch jede Berechenbarkeit verloren. Das haben die USA, NATO und Bundesregierung erkannt und sich klar um Deeskalation und eine Denuklearisierung des Ukrainekrieges bemüht. Die Gefahr eines Nuklearkrieges in Europa ist real. Deshalb ist es realpolitisch geboten, sich von Putin nicht in die nukleare Konfrontation ziehen zu lassen. Trotz aller Feindseligkeiten und entschiedener Unterstützung für die Ukraine bleiben hochrangige militärische Kontakte zwischen den USA und Russland, aber auch die Telefonate zwischen europäischen Regierungschefs und dem Machthaber im Kreml weiter unverzichtbar. Die fünf im Atomwaffensperrvertrag anerkannten Nuklearmächte einschließlich Russlands haben im Januar gemeinsam erklärt, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und deshalb nie geführt werden darf. Von allen Seiten, in den Vereinten Nationen und soweit möglich auch in Kooperation mit Staaten, die Russland unterstützen, muss an diese Erklärung erinnert und Moskau in die Pflicht genommen werden.

Den Point of No Return verhindern

Noch vor wenigen Monaten beabsichtigte die Biden-Administration, eine Wende in der US-Nukleardoktrin einzuleiten und mögliche Einsätze auf den einzigen Fall („Sole Purpose“), dass ein Gegner nuklear angreift oder dies unmittelbar bevorsteht, zu begrenzen. Tragischerweise erschwert das aktuelle Klima der Debatte in den USA und den meisten europäischen Ländern eine derartige Umkehr. Dabei zeigt der Krieg in der Ukraine, dass sie sicherheitspolitisch so nötig ist wie nie zuvor. Die Bundesregierung sollte sich deshalb im Bündnis gegen eine weit definierte nukleare Abschreckung einsetzen und auf eine Politik restriktiver nuklearer Wehrhaftigkeit hinwirken. USA und NATO sollten sich darüber hinaus ausdrücklich die Ambivalenz vorbehalten, nicht nuklear auf einen Nuklearschlag zu reagieren. Schließlich verfügen die USA über entsprechende konventionelle militärische Fähigkeiten. Damit verbunden müssen Streitkräfte entlang der Ostflanke weiter ausgebaut werden.

So kann der Westen dazu beitragen, die Dynamik umzukehren. Er würde sich dabei diplomatisch wie militärisch größere Flexibilität und Handlungsspielräume erschließen im Umgang mit der russischen nuklearen Bedrohung. Die Risiken eines nuklearen Stellvertreterkrieges in Europa würden reduziert, wovon besonders Stationierungsländer der US-Nuklearwaffen wie Deutschland profitieren würden. Die ausschließlich für solche Szenarien vorgesehenen Sprengköpfe stünden perspektivisch als Verhandlungsmasse zur Verfügung, auch um eine nukleare Teilhabe von Belarus nach sowjetischem Vorbild zu verhindern. Die Funktionsfähigkeit des US-Nuklearschirms über den Verbündeten und die Option, nuklear zu reagieren, blieben erhalten. Dass Russland aktuell Schwäche zeigt und in der Defensive ist, darf uns nicht dazu verleiten, die Politik der Begrenzung des Ukrainekrieges und nuklearen Zurückhaltung aufzugeben. Vielmehr muss sie für die Verhandlungen und eine Beendigung des Krieges unter größtmöglichen Konzessionen Russlands genutzt werden, um einen point of no return und weitreichenden Rückgriff auf Massenvernichtungswaffen zu vermeiden.


Dieser Text ist zuerst am 14. April 2022 als Gastbeitrag auf welt.de erschienen. Auf PRIF Blog wurde zudem eine englischsprachige Version veröffentlicht.

Sascha Hach

Sascha Hach

Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Programmbereich „Internationale Sicherheit“ an der HSFK. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Abrüstung und Rüstungskontrolle, Nuklearwaffen, Deutscher Außenpolitik sowie den Vereinten Nationen. // Sascha Hach is a doctoral researcher in PRIF’s research department “International Security”. His research interests include disarmament and arms control, nuclear weapons, German Foreign Policy and the United Nations.

Sascha Hach

Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Programmbereich „Internationale Sicherheit“ an der HSFK. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Abrüstung und Rüstungskontrolle, Nuklearwaffen, Deutscher Außenpolitik sowie den Vereinten Nationen. // Sascha Hach is a doctoral researcher in PRIF’s research department “International Security”. His research interests include disarmament and arms control, nuclear weapons, German Foreign Policy and the United Nations.

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