„Putin wird den Krieg nicht gewinnen“, versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Fernsehansprache zum 8. Mai. Viele EntscheidungsträgerInnen und KommentatorInnen äußern derzeit, welchen Kriegsausgang sie nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine erwarten, fordern oder erhoffen. Was es bedeutet, einen Krieg zu gewinnen oder zu verlieren, ist dabei aber nicht so klar, wie es zunächst scheint. Das hat Folgen für die Interpretation der entsprechenden Wünsche und Prognosen.
Ende April debattierte der Bundestag die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Einige Redebeiträge thematisierten, wie der Krieg dort enden soll. Nils Schmid von der SPD erklärte: „[N]atürlich wollen wir alle möglichst bald ein Ende des Krieges, aber … nicht um den Preis, dass der Aggressor gewinnt. Denn Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen.“ Ähnlich positionierte sich Agnieszka Brugger von Bündnis 90/Die Grünen: „[D]ie Botschaft ist, … dass Russland diesen Krieg mit seinen Verbrechen und seiner Brutalität nicht gewinnen darf.“ Einige Tage zuvor war US-Verteidigungsminister Lloyd Austin über die Forderung, Russland dürfe nicht siegen, hinausgegangen: „We want to see Russia weakened to the degree that it can’t do the kinds of things that it has done in invading Ukraine.”
In vielen Äußerungen zum Überfall Russlands auf die Ukraine fallen die eingängigen Begriffe Sieg und Niederlage, Gewinnen und Verlieren. Bei vielen AdressatInnen lösen sie konkrete Vorstellungen aus. Doch abzustecken, was etwa ein Sieg genau heißen soll, ist gar nicht so einfach, wie Norbert Röttgen bei einer Gesprächsrunde im ZDF bemerkte.
Dieser Beitrag skizziert unterschiedliche Auffassungen davon, was einen militärischen Sieg ausmacht. Zudem illustriert er mit Angaben aus einem HSFK-Projekt zu beendeten Bürgerkriegen, dass sich gewonnene Kriege teils deutlich voneinander abheben. Wie sich zeigt, lassen ähnlich klingende Aussagen zum Sieg einer Seite in der Ukraine viele Varianten des Kriegsausgangs zu.
Verständnis von militärischen Siegen und Niederlagen
Bei zahlreichen Menschen in Deutschland dürfte das Ende des Zweiten Weltkrieges die Vorstellung davon prägen, was Sieg und Niederlage bedeuten. Die Niederlage der deutschen Seite folgte auf den weitgehenden Verlust der eigenen militärischen Fähigkeiten und fand ihren Ausdruck in der bedingungslosen Kapitulation, die zum Ende der Nazi-Herrschaft und zur Besatzung durch die Siegermächte führte. Diesem Verständnis kommt die Definition eines Sieges nahe, wie sie das Uppsala Conflict Data Program (UCDP) nutzt, ein führender Anbieter von Daten zum weltweiten Geschehen organisierter bewaffneter Gewalt. Sieg heißt demnach: „One side is either defeated or eliminated, or otherwise succumbs to the power of the other (e.g. through capitulation). … With defeated the UCDP means that their military capability is destroyed to the point that is seems unlikely that they could begin the fighting again.”
Man denke aber an den Krieg in Vietnam, den die USA verloren haben, oder an den NATO-Einsatz in Afghanistan, der nach der Machtübernahme der Taliban weithin als gescheitert gilt. Die meisten dürften hier die Rede von Sieg und Niederlage für zutreffend halten, obwohl die militärischen Fähigkeiten der Unterlegenen keineswegs so weit zerstört waren, dass sie den Kampf nicht hätten fortsetzen oder wiederaufnehmen können. Der Sieg der einen Seite und die Niederlage der anderen waren hier durch den Rückzug der Letzteren aus dem Krieg und Kriegsgebiet markiert. Dabei hatte die siegreiche Seite zuvor ein Vielfaches der Verluste der Besiegten hinnehmen müssen. Wie sich die erlittenen Opfer und Schäden auf die Konfliktparteien verteilen, gibt daher nicht unbedingt Aufschluss darüber, wer den Krieg gewinnt oder verliert.
Neben dem weitgehenden Verlust der militärischen Fähigkeiten oder dem Rückzug aus dem Kriegsgebiet bieten sich weitere Marker dafür an, ob ein Krieg gewonnen wurde und, falls ja, von welcher Seite. Dazu zählt der Blick darauf, wieweit die Beteiligten am Ende des Krieges ihre erklärten Ziele erreicht haben. Ein Nachteil dieses Kriteriums besteht darin, dass der geäußerte Ehrgeiz der Kriegsparteien über die Kategorisierung entscheidet. Der gleiche Kriegsausgang erscheint bei bescheidenen Zielen als Sieg, doch bei weiterreichenden Ambitionen vielleicht sogar als Niederlage derselben Konfliktpartei.
Als letzten Indikator für den Sieg einer Seite möchte ich Veränderungen im Vergleich zur Vorkriegszeit nennen. Diese Verschiebungen müssen nicht an den erklärten Zielen der Konfliktparteien abgelesen werden. Aufschluss geben kann etwa auch, welche Seite Gebiete unter ihrer Herrschaft oder Kontrolle auszudehnen vermochte. Ob für diese territorialen Gewinne so hohe Kosten anfielen, dass sie die vermeintlich siegreiche Konfliktpartei eher schwächen als stärken, steht dabei auf einem anderen Blatt.
Ungleiche Siege
Wenn schon die Ansichten darüber auseinandergehen, was einen militärischen Sieg ausmacht, dann können deutliche Unterschiede zwischen gewonnenen Kriegen nicht überraschen.
Dem Bild eines vollständigen Sieges, wie es die UCDP-Definition zeichnet, entspricht der Triumph der Regierung Sri Lankas über die Liberation Tigers of Tamil Eelam im Jahr 2009. Die Aufständischen verloren nicht nur alle von ihnen zuvor kontrollierten Gebiete, sondern wurden militärisch zerschlagen, was ihrem Anführer das Leben kostete wie auch fast ihrer gesamten militärischen und politischen Führung.
Nicht ganz so weit ging der Sieg der Rebellenallianz 1997 im damaligen Zaire. Die staatlichen Sicherheitskräfte leisteten gegen das Vorrücken der Rebellen bis in die Hauptstadt Kinshasa keinen größeren Widerstand. Diktator Mobutu Sese Seko wurde gestürzt und starb wenig später im Exil.
Im 1998 wiederausgebrochenen Krieg in Angola drängten die Regierungstruppen die Rebellen weitgehend zurück, ohne sie ganz zerschlagen zu müssen. Nachdem Rebellenführer Jonas Savimbi im Kampf getötet worden war, endete der Krieg wenig später. Da dies in Form eines Friedensabkommens geschah, sieht UCDP, im Gegensatz zu weiten Teilen der Fallliteratur, den Krieg nicht durch den Sieg der Regierung beendet.
Ob der Krieg mit einem Sieg oder Friedensabkommen endete, lässt sich für den 2000 erneut eskalierten Konflikt in Liberia noch weniger eindeutig beantworten. Die Regierung von Charles Taylor sah sich vor großen Problemen, ihre Truppen zu bezahlen, musste die Belagerung der Hauptstadt durch Rebellen hinnehmen und wurde dadurch entscheidend geschwächt, dass westafrikanische Friedenstruppen eine große Waffenlieferung beschlagnahmten. Wie von den Aufständischen gefordert, trat Taylor im August 2003 zurück und ging ins Exil. All das markiert den Sieg der Rebellen. Doch formal endete der Krieg mit einem Friedensabkommen. Im weiteren Friedensprozess verloren die Rebellen schnell ihre militärische und politische Bedeutung. Das spricht dagegen, sie als Sieger aufzufassen.
Wie die letzten beiden Beispiele zeigen, können militärische Siege mit Verhandlungen einhergehen. Einige Abkommen besiegeln oder vervollständigen den Triumph einer Konfliktpartei. Im Krieg um Berg-Karabach in den 1990ern eroberte die armenische Seite vollständig das umstrittene Gebiet und zudem sieben umliegende Bezirke Aserbaidschans. Trotz dieses Sieges gilt weithin das im Mai 1994 vereinbarte Waffenstillstandsabkommen als Ende des Krieges.
Beim 1995 erneut eskalierten Krieg in Kroatien brachten Regierungstruppen innerhalb weniger Tage drei von vier Rebellengebieten unter ihre Kontrolle. Um das vierte Gebiet mussten sie nicht mehr kämpfen. Ein Abkommen legte fest, es für eine Übergangszeit von den Vereinten Nationen verwalten zu lassen und es dann der Regierung zu übergeben.
Implikationen für den Krieg in der Ukraine
Zum Schluss möchte ich die Aussagen zum erwarteten oder gewünschten Ausgang des Krieges in der Ukraine mit den skizzierten Varianten von Siegen zusammenbringen. Die diskutierten Implikationen will ich nicht als Prognosen oder Empfehlungen verstanden wissen.
Russland werde oder dürfe nicht gewinnen: Bezieht man diese Aussage auf die strikte Definition von Siegen, dann heißt das, Russland werde oder dürfe nicht die militärischen Fähigkeiten der Ukraine bis zu deren Kampf- oder Wehrlosigkeit zerstören. In einer anderen Lesart bliebe Russland der Sieg versagt, solange sich die Ukraine nicht aus dem Konflikt(gebiet) zurückzöge. Dabei wäre noch zu unterscheiden, ob das alle Gebiete in der Ukraine beträfe oder nur den besonders im Fokus stehenden Süden und Osten.
Legt man die Erreichung der zu Kriegsbeginn erklärten Ziele zugrunde, dann würde Russland nicht siegen, solange es keines dieser Ziele realisiert. Zu fragen wäre hier, ob es alle Ziele verwirklichen müsste oder nur einige davon. Angesichts der angerichteten Verheerungen könnte Putin behaupten, er habe das Ziel der Demilitarisierung der Ukraine erreicht. Doch genügt das, um als Sieger zu gelten? US-Außenminister Antony Blinken griff bei einer Zwischenbilanz Ende April ein weitgehendes Ziel Russlands heraus: „Russia is failing, Ukraine is succeeding. Russia has sought as its principal aim to totally subjugate Ukraine”.
Setzt man in der Bewertung auf einen Vergleich mit der Vorkriegszeit, wäre Russland siegreich, solange die ukrainische Regierung weniger Gebiete kontrolliert als am 23. Februar 2022, dem Tag vor dem Überfall. Russland einen derart verstandenen Sieg zu verwehren, reicht der britischen Außenministerin Liz Truss nicht aus. Sie schaut auf die Eroberungen seit 2014, wenn sie als Ziel formuliert, „to push Russia out of the whole of Ukraine.“
Wie festzuhalten bleibt, sind Aussagen, Russland werde oder dürfe nicht gewinnen, mit einem recht breiten Spektrum möglicher Kriegsausgänge vereinbar. Auch der Blick auf andere Konflikte zeigt, dass es innerhalb der Kategorie gewonnener Kriege beträchtliche Unterschiede gibt. Zudem verläuft keine scharfe Linie zwischen Kriegen, die mit dem Sieg einer Seite oder mit irgendeiner Form von Verhandlungen enden. All das gilt es zu beachten, wenn man Aussagen zum erwarteten oder geforderten Ausgang des Krieges in der Ukraine einordnet. Stellungnahmen wie „Russland darf nicht gewinnen“ sind weniger eindeutig als es zunächst scheint. Gerade EntscheidungsträgerInnen dürften bewusst versuchen, genauere Festlegungen zu vermeiden. Das enthebt sie aber nicht von der Aufgabe, sich verschiedene Arten von Siegen zu vergegenwärtigen, um Szenarien der weiteren Entwicklung und deren Risiken zu durchdenken.