Das Bild zeigt den US-Präsidenten Clinton, französischen Präsidenten Chirac und russischen Präsidenten Jelzin beim NATO-Russland-Gipfel 1997. Clinton und Chirac schütteln Hände.
Am 27. Mai 1997 wurde die NATO-Russland-Grundakte unterzeichnet. | Photo: NATO photos

Vom Scheitern der Bündniskooperation mit Russland. Am 27. Mai wird die NATO-Russland-Grundakte 25 Jahre alt

Die NATO-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 wird 25 Jahre alt. Angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im März 2014 und der Destabilisierung der Ostukraine ab April 2014 durch russische Aufständige sowie dem völkerrechtswidrigen Angriff  auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 ist das anstehende Jubiläum der Grundakte kein Grund zum Feiern, sondern besiegelt das Scheitern der Bündniskooperation mit Russland. Wie kam es dazu und was sind die Gründe dafür?

Aus der Rückschau wird deutlich, dass beide Seiten Mitverantwortung für die Entwicklung zu einem neuen Ost-West-Konflikt in Europa tragen. Keines der aus heutiger Sicht erkennbaren Versäumnisse  rechtfertigt allerdings den Eroberungs- und Zerstörungskrieg Putins gegen die Ukraine – zumal Russland im Budapester Memorandum von 1994, das die Übergabe der sowjetischen Atomwaffen von Weißrussland, Kasachstan und Ukraine an Russland regelt, zusammen mit Großbritannien und den USA zugesagt hat, die territoriale Souveränität der Ukraine zu schützen und zu verteidigen. Schon 2014 hat Russland mit der illegalen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine dieses Memorandum verletzt.

Das Ende des Ost-West-Konflikts führte zu keiner stabilen Neuordnung europäischer Sicherheit

Der Ende der 1960er Jahren begonnene KSZE-Prozess (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und die vom sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow gestarteten Reformen Ende der 1980er Jahre beendeten zwar den Ost-West-Konflikt, führten aber zu keiner stabilen Neuordnung europäischer Sicherheit. Die Sowjetunion und später Russland waren im neuen Europäischen Haus immer auf der Suche nach ihrem angemessenen Platz. Die USA betrachteten dabei den KSZE-Prozess mit Zurückhaltung. Keinesfalls sollte er zu einer neuen europäischen Sicherheitsorganisation führen und damit die NATO als zentrales amerikanisches Einflussinstrument in Europa schwächen. Das akzeptierte 1991 auch die Sowjetunion. Zwar wurde versucht, die KSZE 1995 zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufzuwerten, die USA verweigern ihr aber bis heute die Unterschrift für deren Anerkennung als legale regionale Sicherheitsorganisation.

Auch die Stabilisierung der militärischen Lage mittels Rüstungskontrolle und Abrüstung gelang nur begrenzt. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) regelte die militärische Parität für die Land- und Luftstreitkräfte zwischen beiden Bündnissen durch gemeinsame Obergrenzen für die Anzahl großer Waffensysteme (Panzer, gepanzerter Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge) und führte damit zum Abbau der Waffenbestände. Doch er war schon zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens 1992 veraltet. Das östliche Militärbündnis hatte sich schon 1990/91 während der KSE-Verhandlungen aufgelöst. Die Allianzparität wurde deshalb zu einer annähernden Parität zwischen NATO und Sowjetunion umdefiniert. Doch mit der folgenden Auflösung der Sowjetunion 1991/92 verlor auch diese Anpassung ihre stabilisierende Bedeutung. Damit standen dem westlichen Bündnis plötzlich 16 neue unabhängige Staaten (ohne vier asiatische Nachfolgestaaten der UdSSR) mit einem dominanten, wenn auch deutlich geschwächten, Russland als 17. Staat in Osteuropa gegenüber. Eine schnelle Anpassung der konventionellen Rüstungskontrolle wäre geboten gewesen. Da aber die USA fürchteten, dies könne zur Auflösung des eigenen Bündnisses führen, wollten sie erst den Abschluss aller KSE-Reduzierungen bis Ende 1995 abwarten.

Ersatzweise initiierte daher die NATO 1994 die „Partnerschaft für den Frieden“ für diese Staaten, um durch vermehrte militärische Kooperation untereinander mehr Sicherheit zu vermitteln. Auch Russland trat 2004 bei. Für Polen und andere ostmitteleuropäische Staaten bot das aber zu wenig Sicherheit, denn die Beistandsgarantie der NATO galt weiterhin nur für Allianzmitglieder. Zudem stärkten die wankelmütigen Demokratisierungsversuche unter Präsident Boris Jelzin kaum das Vertrauen in Russland, zumal sie Ende der 1990er Jahre weitgehend scheiterten. Die NATO begann sich daher ab Ende 1995 für die osteuropäischen Staaten zu öffnen – trotz wachsender Kritik Moskaus.

Die NATO-Erweiterung hätte dabei, wäre sie auch für Russland wirklich offen gewesen, temporär als politische Ersatzinstitution für die europäische Sicherheit dienen können. Während die USA unter Clinton offen für einen Beitritt Russlands waren, scheiterten die Versuche (zwei unter Jelzin und einer unter Putin) am Widerstand einiger europäischer Staaten. Sie misstrauten Moskau und fürchteten eine destruktive Bündnispolitik Russlands. Auch der im Juni 2008 vom russischen Präsidenten Medwedew vorgeschlagene Sicherheitsvertrag für Europa war für die westlichen Staaten nicht akzeptabel, weil Moskau damit über die Allianzerweiterungen mitbestimmen wollte. Damit wäre jedoch das zuvor auch von Russland akzeptierte Prinzip der Koalitionsfreiheit etwa im KSE-Vertrag oder in der Pariser Charta ausgehebelt worden.

Versuche der Stabilisierung

Mit der NATO-Erweiterung rückte die Allianz näher an Russland heran. Den dadurch wachsenden russischen Sicherheitsbefürchtungen wollte das Bündnis konstruktiv begegnen. Dazu dienten drei Instrumente. Erstens sollte das Verhältnis zwischen NATO und Russland mit der neuen NATO-Russland-Grundakte politisch verbindlich geregelt, zweitens mit dem neuen NATO-Russlandrat ein regelmäßiges Dialogforum und dies drittens mit den neuen Begrenzungen im noch zu verhandelnden adaptierten KSE-Vertrag (AKSE) rechtlich abgesichert werden. Über 40 Prozent der Grundakte sind im sicherheitspolitischen Teil dem AKSE gewidmet, ein Aspekt der leider häufig übergangen wird. Der AKSE sollte den KSE ablösen und die labile europäische Sicherheitsordnung stabilisieren helfen. Als Vorlage dafür diente der 2+4-Vertrag von 1990, der die deutsche Einheit und die von Moskau akzeptierte NATO-Zugehörigkeit Deutschlands regelt. Das vereinte Deutschland gehört zwar zur NATO, aber bis auf die Bundeswehr werden im Frieden keine Allianzstreitkräfte in Ostdeutschland stationiert. Damals hatten hochrangige westliche Politiker der Sowjetunion mündlich versichert, eine weitere Ausdehnung des Bündnisses sei nicht geplant

In der NATO-Russland-Grundakte verständigten sich beide Seiten darauf, das Bündnis hauptsächlich politisch und weniger militärisch zu erweitern. Russland verpflichtete sich zu ähnlicher militärischer Zurückhaltung. In den neuen Bündnisstaaten sollten im Frieden keine Nuklearwaffen und keine militärisch substanziellen Kampftruppen der NATO stationiert, sowie lediglich die Infrastruktur der Allianz ausgebaut werden. Jedoch gab es keine gemeinsame Definition für die substanziellen Kampftruppen der Land- und Luftstreitkräfte. Aus Expertensicht ist jedoch ab einer Brigade/Regiment der Land- und einem Geschwader/Regiment der Luftstreitkräfte von substanziellen Kampftruppen zu sprechen. Parallel wurden im adaptierten KSE-Vertrag die nationalen Obergrenzen der Landstreitkräfte zur Verbesserung der militärischen Stabilität weiter abgesenkt und mit den neuen territorialen Obergrenzen auch die Stationierungsstreitkräfte in den Vertragsstaaten begrenzt. Für Manöver und Krisensituationen war eine temporäre (153 Kampfpanzer, 241 gepanzerte Kampffahrzeuge und 140 Artilleriesysteme) und eine überprüfbare außerordentliche temporäre Überschreitung (459 Kampfpanzer, 723 gepanzerte Kampffahrzeuge und 420 Artilleriesysteme) der territorialen Obergrenzen erlaubt. Grenznahe Transparenz- und Beschränkungsmaßnahmen erhöhten die Sicherheit für Länder ohne Bündnis.

Der adaptierte KSE-Vertrag wurde von allen KSE-Vertragsstaaten Ende 1999 in Istanbul unterzeichnet und sollte später für alle europäischen Staaten offen sein. Seine Ratifizierung verzögerte sich aber, weil Russland seit September 1999 selbst angezeigt hatte, dass es mit dem 2. Tschetschenienkrieg temporär die Obergrenzen der KSE-Flankenregel überschritt. Die Ratifikation sollte daher erst mit ihrer Wiedereinhaltung ab 2001 beginnen.

Die stabile Kontrolle der NATO-Erweiterung scheitert

Gleichzeitig verschlechterten sich aber die Rahmenbedingungen. Mit der Wahl von George W. Bush Junior zum US-Präsidenten kamen 2001 die Republikaner an die Macht. Sie betrachteten Rüstungskontrolle eher als Hindernis denn als ein Gestaltungsmittel ihrer Weltmachtrolle. Deutlich wurde dies beispielsweise 2002 mit der Kündigung des für die nuklearstrategischen Stabilität so wichtigen ABM-Vertrags. Auch an der Ratifikation des AKSE-Vertrags waren die USA kaum interessiert. Seit 2001 beriet die NATO darüber, ob die Ratifikation des AKSE auch an die Regelung der unregulierten Territorialkonflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gebunden werden sollte, zumal Moskau diese zunehmend auch als Instrument gegen die NATO-Erweiterung nutzte. Hier machte die Bundesregierung den schweren Fehler, auf dem Prager NATO-Gipfel 2002 dieses rüstungskontrollfremde Junktim zu akzeptieren. Auch der stellvertretende US-Außenminister Richard Armitage (2001-2005) räumt inzwischen in seinen Memoiren ein, dass die Vereinigten Staaten für die konventionelle Rüstungskontrolle mehr hätten tun müssen, zumal Putin in vielen Gesprächen darauf drängte.

Anfangs schien Putin sich auf dieses neue Junktim zuzubewegen. Er begann russische Munition aus der Entität Transnistrien in Moldau abzuziehen und bot mit dem Kozak-Plan 2003 den Rückzug aller russischen Truppen aus Transnistrien bis 2020 an. Die dort vorgeschlagene Föderationslösung stieß aber bei der EU, den USA und in Chişinău auf Kritik und wurde Ende 2003 von Moldau abgelehnt. Daher stellte Putin 2004 den Munitionsabzug vorläufig ein. Er setzte sich außerdem nach der Rosenrevolution in Georgien 2003 dafür ein, dass die Entität Adscharien von Präsident Saakaschwili 2004 in Georgien eingegliedert werden konnte, stellte aber klar, dass dies für die übrigen Entitäten Südossetien und Abchasien nicht passieren werde. Zudem ratifizierten Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine 2004 den AKSE-Vertrag in der Hoffnung, die westlichen NATO-Staaten würden folgen.

Parallel stieß der 2. Irakkrieg 2003 in Russland auf Kritik, zumal der offizielle Kriegsgrund der USA sich bald als Ausrede entpuppte. Hinzu kamen ab 2005 und 2006 die bilateralen Stationierungsverträge von US-Rotationsverbänden in Bataillonsstärke mit Rumänien und Bulgarien sowie die bilateralen Pläne der USA mit Polen und Rumänien für ein neues Raketenabwehrsystem in Europa, das in erster Linie gegen iranische Raketen gerichtet sein sollte. Für die dadurch wachsenden russischen Sicherheitsbesorgnisse fand man jedoch im 2002 nochmals aufgewerteten NATO-Russlandrat keine zufriedenstellenden Kompromisse. Dort sollte ohne Bündniszwang miteinander debattiert werden, trotzdem traten die NATO-Staaten immer mit einer abgestimmten Position an. Zudem schritt die NATO-Erweiterung (1999: Polen, Tschechien, Ungarn; 2004: Slowakei, Litauen, Estland, Lettland, Bulgarien, Rumänien) ungehindert voran, während sich seit dem zweiten NATO-Junktim zur AKSE-Ratifikation für ihre rüstungskontrollpolitische Kontrolle nichts mehr tat.

Putin kündigte daher als ernstes sicherheitspolitisches Warnsignal auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2007 die Suspendierung des KSE-Vertrags für Ende 2007 an, sollte es bis dahin keine Lösung für die Ratifizierung des AKSE geben. Im Sommer begannen dazu Gespräche, die aber keinen Durchbruch brachten. Im Dezember begann sich die US-Regierung, den kommenden NATO-Gipfel in Bukarest 2008 im Blick, auf die NATO-Erweiterung umzuorientieren. Darauf suspendierte im Dezember Russland den KSE-Vertrag und leitete damit das sich bis 2014 hinziehende Ende des KSE- sowie des AKSE-Vertrags ein. Die militärische Kontrolle der NATO-Erweiterung mittels Rüstungskontrolle war somit gescheitert. Zwar starteten Griechenland 2009 und Deutschland 2016 neue Initiativen, um den Prozess der militärischen Vertrauensbildung und konventionellen Rüstungskontrolle wiederzubeleben, jedoch ohne großen Erfolg.

Weitere Bündniserweiterungen und Georgienkrieg

Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 versuchte die US-Regierung neben der unkontroversen Erweiterung um Albanien und Kroatien auch die aus der ehemaligen Sowjetunion entstandenen Staaten Georgien und Ukraine in die Allianz aufzunehmen, ohne Moskau dazu zu konsultieren. Das scheiterte aber am Widerstand Deutschlands und Frankreichs, die den Konflikt mit Russland fürchteten. Als Kompromiss wurde die NATO-Mitgliedschaft ohne Master Action Plan und ohne jede Jahreszahl lediglich in Aussicht gestellt. Hätte die NATO damals die regelkonforme Erweiterung wirklich verabschiedet, wäre der Georgienkrieg wenig Monate später vermutlich ganz anders verlaufen.

Der Georgienkrieg im August 2008 wurde nicht von Russland, wie viele im Westen immer wieder falsch behaupten, sondern vom georgischen Präsident Saakaschwili mit dem Angriff gegen die Entität Südossetien begonnen. Denn seit seinem Erfolg bei Adscharien glaubte Saakaschwili, auch die übrigen Entitäten von Putin erhalten zu können. Unklar ist, warum die USA gerade nach der strittigen Entscheidung, die Allianz zu erweitern, diesen Krieg nicht verhinderten – war er doch zum Misserfolg verdammt und aus russischer Sicht eine Provokation. US-Außenministerin Condolezza Rice versuchte dies, aber die Rolle von US-Vizepräsident Dick Cheney bleibt dabei bis heute dubios. Angesichts der intern gespaltenen USA mussten Frankreich und Deutschland den Waffenstillstand für Georgien verhandeln. Russland bestrafte danach Georgien mit der Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien sowie kleinen Gebietsmitnahmen. Hatte Russland trotz mehrmaliger Ankündigungen seit dem Jahre 2000 seine konventionellen Streitkräfte nicht modernisiert, so waren für Putin die Schwächen der russischen Truppen in diesem Krieg der entscheidende Weckruf für ihre Modernisierung.

Trotz der russischen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine setzte Deutschland bei den im Bündnis geplanten Verstärkungsmaßnahmen auf den Allianzgipfeln in Wales 2014 und in Warschau 2016 auch weiterhin die in der NATO-Russland-Grundakte vereinbarte Beschränkung durch, keine substanziellen Kampftruppen in den neuen Bündnisstaaten zu stationieren. Konventionelle Rüstungskontrolle stand als Stabilisierungsinstrument nicht mehr zur Verfügung. Mit der revisionistischen russischen Invasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 ist diese Beschränkung hinfällig, wie die Entscheidungen auf dem nächsten NATO-Gipfel im Juni zeigen werden.

Schlussfolgerungen

Militärisch musste Putin die NATO nicht fürchten, auch nicht nach seinen illegalen politischen und militärischen Aktivitäten 2014 in der Ukraine. Trotz dieser Ereignisse und trotz ihrer mehrfachen Erweiterung verhielt sich die Allianz bis zur Invasion insgesamt militärisch eher defensiv. Das gilt aus russischer Sicht allerdings nicht für den politischen Beschluss von 2008, irgendwann Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, und es gilt auch nicht für den rüstungskontrollpolitischen Teil der NATO-Russland Grundakte, der von den westlichen Staaten trotz fortgesetzter Bündniserweiterung nicht erfüllt wurde. Dabei hat Deutschland mitzuverantworten, in Prag einem rüstungskontroll­fremden Junktim der NATO für die AKSE-Ratifikation zugestimmt zu haben. Dass 2008 der georgische Angriff auf Südossetien nicht verhindert wurde, war ein schwerer Fehler, den letztlich die USA zu verantworten haben.

Heute stellt sich die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen NATO und Russland entwickelt hätten, wenn der AKSE-Vertrag bis Ende 2007 ratifiziert worden wäre. Dann hätte er als sicherheitspolitischer Eckpfeiler bis zu einem bestimmten Grad die fehlende sicherheitspolitische Neuordnung in Europa ersetzen können. Er hätte Russland deutlich mehr Berechenbarkeit und Sicherheit gegenüber der NATO-Erweiterung geboten und das wachsende russische Misstrauen gegen die NATO-Staaten gemindert. Die Modernisierung des Wiener Dokuments wäre von Russland nicht länger blockiert worden. Das hätte sicherheitspolitisches Vertrauen und die Rüstungskontrolle in Europa zusätzlich gestärkt. Unter diesen Umständen wäre eine Aufkündigung des INF-Vertrags und des Vertrags über den Offenen Himmel politisch schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen. Er hätte zudem viel klarere Anzeichen für den von Putin vorbereiteten Krieg gegen die Ukraine geliefert, falls dieser dann aus russischer Sicht noch notwendig gewesen wäre.

Der entscheidende Anteil Russlands an der Fehlentwicklung liegt im Scheitern seiner Demokratisierung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Damit blieben auch demokratische Militärreformen der Streitkräfte und Sicherheitssektorreformen der übrigen Sicherheitskräfte aus. Das ist einer der Gründe für die zu beobachtende Barbarei der russischen Streitkräfte im Tschetschenienkrieg, in Syrien und jetzt in der Ukraine. Die zunehmend autoritären Strukturen unter Putin verknüpft mit den wachsenden revisionistischen Vorstellungen in Russlands Regierung stießen in vielen osteuropäischen Staaten und in den USA auf wachsendes Misstrauen und beförderten die NATO-Erweiterungen. Russland trug so ungewollt dazu bei, das herbeizuführen, was es eigentlich zu vermeiden trachtete. Mit den wachsenden autoritären Strukturen in Russland wurden die demokratischen Revolutionen 2003 in Georgien, 2008 und 2014 in der Ukraine, die innerrussischen Proteste gegen das Wahlergebnis von 2011 und die massiven Bevölkerungsproteste gegen das Wahlergebnis von 2015 in Weißrussland zunehmend als Bedrohung für das eigene Herrschaftssystem empfunden. Es verwundert daher nicht, dass die wachsende Demokratisierung und Westorientierung gerade im zweitstärksten sowjetischen Nachfolgestaat Ukraine von Putin als besondere Bedrohung wahrgenommen wurden; gepaart mit den revisionistischen Vorstellungen wurden sie zum zentralen Kriegsgrund. Die revisionistische Invasion war ein schwerer Fehler, der Putin die Macht kosten könnte. Denn sie stärkt die nationale Identität der Ukraine und festigt ihre Westbindung. Je länger der Krieg dauert, desto stärker wird die Ukraine ihre Streitkräfte auch auf westliche Militärtechnik umstellen. Die Ukraine wird damit zwar nicht de jure, aber fast de facto ein Mitglied der NATO.

Wie dieser Krieg ausgehen und welche Art von Waffenstillstand es geben wird, ist ungewiss. Dabei wird jede wie auch immer geartete Teilung der Ukraine für beide Seiten auf Dauer nicht stabil sein und eine Friedensregelung verzögern. Die NATO muss sich dabei dem russischen Revisionismus entgegenstellen, um weitere Revisionskriege in Europa abzuschrecken und um Russland hier mittel- und langfristig zu einer Korrektur zu bewegen. Die damit einhergehende Allianzerweiterung um Finnland und Schweden wird die Grenzlänge der NATO zu Russland von derzeit fast 1.300 auf über 2.600 km mehr als verdoppeln. Angesichts der gestiegenen militärischen Konfrontation wird dadurch zwischen beiden Seiten auch das Eskalationsrisiko wachsen. Mittel- und langfristig bedarf es daher gerade in Grenznähe zusätzlicher militärisch stabilisierender Maßnahmen um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Allianz und Russland zu vermeiden.

Letzte Änderungen vorgenommen am 25.5.2022.

Hans-Joachim Schmidt
Dr. Hans-Joachim Schmidt ist Assoziierter Forscher am Programmbereich „Internationale Politik“ der HSFK, wo er von 1982-2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich Internationale Sicherheit tätig war. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nordkorea und konventionelle Rüstungskontrolle in Europa. // Dr Hans-Joachim Schmidt is an Associate Fellow at PRIF's Research Department “International Politics”, where he was a Senior Researcher at the research department International Security from 1982-2017. His research focuses on North Korea and conventional arms control in Europe. | Twitter: @HajoSchm

Hans-Joachim Schmidt

Dr. Hans-Joachim Schmidt ist Assoziierter Forscher am Programmbereich „Internationale Politik“ der HSFK, wo er von 1982-2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich Internationale Sicherheit tätig war. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nordkorea und konventionelle Rüstungskontrolle in Europa. // Dr Hans-Joachim Schmidt is an Associate Fellow at PRIF's Research Department “International Politics”, where he was a Senior Researcher at the research department International Security from 1982-2017. His research focuses on North Korea and conventional arms control in Europe. | Twitter: @HajoSchm

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