Die "Sofagate"-Affaire: Ursula von der Leyen, Charles Michel, Recep Tayyip Erdoğan und Mevlüt Çavuşoğlu, der türkische Außenminister
Multilaterale Institutionen in der zweiten Reihe: Der hohe Einfluss der Staatschefs in der EU steht häufig in der Kritik. | Foto: Necati Savaş/European Commission via Wikimedia Commons | © European Union, 2022

Zeitenwende: Die nationale Sicherheitsstrategie und die multilaterale Einbettung deutscher Sicherheitspolitik

73 Jahre nach der Gründung ihrer zwei Teilstaaten gibt sich Deutschland erstmals eine nationale Sicherheitsstrategie. Was dies bedeutet und wie weit die Bundesrepublik den Weg gehen wird, den der Titel andeutet, ist dabei alles andere als klar. Unklar ist insbesondere, inwieweit eine nationale Perspektive die bisherige sicherheitspolitische ‚Philosophie‘ der Einbettung in immer engere multilaterale Strukturen von EU und NATO verändert. Trotz aller Kontinuität, so die These dieses Beitrages, wird die Sicherheitsstrategie das spannungsreiche Verhältnis zwischen nationaler Verantwortung und multilateraler Einbettung weiter verschieben. Statt multilaterale Institutionen als Akteur zu begreifen, treten die Staaten, die innerhalb der Institutionen handeln, ins Rampenlicht der deutschen Wahrnehmung.

Feste Tradition multilateral orientierter Sicherheitspolitik

Auf den ersten Blick steht die Rot-Grün-Gelbe Koalitionsregierung fest in der Tradition multilateral orientierter deutscher Sicherheitspolitik. Wie frühere Regierungen auch, bekennt sich die jetzige im Koalitionsvertrag  zum Ziel, die „strategische Souveränität Europas“ zu erhöhen (113), die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stärken und hierzu Mehrheitsabstimmungen in der GASP zu erreichen sowie den Europäischen Auswärtigen Dienst auszubauen und ihn einer echten „EU-Außenministerin“ bzw. einem echten „EU-Außenminister“ zu unterstellen (108). Weiterhin bekennt sich die Koalition zur NATO „als unverzichtbare Grundlage unserer Sicherheit“ und dazu, „die gegenüber der Allianz eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen“. (114) Das Versprechen, „im ersten Jahr der neuen Bundesregierung eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie“ vorzulegen (114), geht bei dem wortreichen Bekenntnis zur multilateralen Einbettung deutscher Sicherheitspolitik fast unter.

Tatsächlich ist deutsche Sicherheitspolitik schon heute stark durch die Vorgaben europäischer und transatlantischer Organisationen geprägt. Dies gilt in besonderer Weise für Bereiche wie die Cybersicherheit, die Energiesicherheit oder die Handels- und Sanktionspolitik. Aber auch im Kernbereich der Sicherheitspolitik wird deutsches Handeln durch den multilateralen Rahmen geprägt. Die Entscheidungen zur Intervention in Afghanistan und Mali waren etwa ohne den politischen Druck, den Deutschlands Partner im Namen der Bündnissolidarität ausüben konnten, kaum vorstellbar. Dennoch wurden Spannungen zwischen nationaler Verantwortung und internationaler Einbettung in der politischen Debatte in Deutschland lange Zeit kaum wahrgenommen. Erst spät und dann auch nur am Rande thematisierten einzelne Beiträge dieses Spannungsverhältnis unter dem Stichwort der „Multilateralismusfalle“.

Das ausgeprägte Bekenntnis zur multilateralen Einbettung ist Teil der sicherheitspolitischen Kultur Deutschlands. Deren Grundlagen wurden in der Nachkriegszeit gelegt. Der junge westdeutsche Staat konnte eine aktive Verteidigungspolitik nur unter der Voraussetzung betreiben, dass die deutschen Streitkräfte umfassend in die unter amerikanischer Führung stehende NATO integriert wurden. Sicherlich fiel der Verlust an nationaler Autonomie leichter, weil Deutschland ihn gegen effektive Mitsprache im Bündnis eintauschte. Die multilaterale Einbettung fiel aber auch deshalb leicht, weil sie eine interne Stimmungslage bediente, nämlich das verbreitete Misstrauen gegenüber dem eigenen Staat. Vor diesem Hintergrund avancierte die Doktrin der Westbindung zum Allheilmittel gegen die scheinbar allerorts dräuende Gefahr des Sonderweges. Im östlichen Teilstaat vollzog sich die Entwicklung zwar institutionell ähnlich, aber unter größerem externem Zwang. Sobald sich das Ventil im Kessel öffnete, war hier die Tendenz zum Nationalen stärker. Dennoch änderte sich die sicherheitspolitische Kultur der multilateralen Einbettung im vereinten Deutschland nur langsam und zunächst nur aufgrund äußerer Anstöße. Die NATO als die Organisation, der Deutschland seine Sicherheitspolitik anvertrauen konnte, stand spätestens in dem Moment in Frage, als Präsident Bushs Verteidigungsminister Rumsfeld die Allianz zu einem Werkzeugkasten degradierte, aus dem sich handelnde Koalitionen von Mitgliedern situationsbedingt passende Instrumente heraussuchen können. An der Hoffnung auf umfassende multilaterale Einbettung änderte sich aber zunächst nichts. Denn an die Stelle der NATO rückte im deutschen Vorstellungshorizont die EU. Unter dem Eindruck des Brexit- und Trump-Schocks verknüpften Entscheidungsträger und Beobachter hierzulande viel stärker als in anderen EU-Ländern den Neustart der de facto intergouvernemental organisierten Europäischen Verteidigungspolitik mit der Vision einer Europäischen Armee. Und erst auf Nachfrage räumten etwa Vertreter des Auswärtigen Amtes ein, das mit der europäischen Armee sei eher metaphorisch gemeint. Und tatsächlich klafft zwischen der Vision und der Realität eine unüberbrückbare Lücke: nämlich die geringe Chance, der Staatswerdung der EU, die aber die zentrale Voraussetzung für eine gemeinsame Armee wäre. Die EU führt zwar das „ever closer“ nach wie vor auf ihrer Fahne, wurde aber de facto “ever larger“ und heterogener.

Perspektivwechsel hin zu einem Multilateralismus, der Staaten in den Mittelpunkt stellt

Daher verschiebt sich auch in Deutschland die Wahrnehmung. An die Stelle der Institutionen als immer autonomere und handlungsfähigere Akteure, an die sich nationale Verantwortung delegieren ließe, treten die Staaten als die eigentlichen Akteure, die innerhalb von Institutionen handeln. Dieser Wandel deutete sich schon mit dem Bekenntnis führender Entscheidungsträger auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 an, Deutschland wolle künftig mehr globale Verantwortung übernehmen. Daran knüpft Annalena Baerbock auf der jüngsten Botschafterkonferenz an. Transatlantisch will sie das 1989 von Bush Senior erstmals unterbreitete Angebot einer „Partnership in Leadership“ aufgreifen. Und in Bezug auf die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung verspricht sie: „Wir sind bereit, dafür auch „in the lead“ in die Verantwortung zu gehen, in Solidarität mit unseren Freundinnen und Freunden in Verantwortung zu führen.“ Und Christine Lambrecht legt in ihrer Grundsatzrede, die im Kern „das Rollenverständnis Deutschlands als Nation“ thematisiert, zunächst die Nachkriegskultur ad acta, um dann zu ergänzen, „Deutschlands Größe, seine geographische Lage, seine Wirtschaftskraft, kurz: sein Gewicht machen uns zu einer Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht. Auch im Militärischen“.

Dieser Perspektivwechsel schlägt sich auch in der deutschen Debatte über die Zukunft von NATO und europäischer Verteidigung nieder. Innerhalb der NATO lancierte Deutschland schon 2014 das Rahmennationen Konzept. Danach organisieren Führungsnationen – und Deutschland begreift sich als solche – im engen Schulterschluss mit kleineren Staaten militärische Fähigkeitspakete, die dann der NATO zur Verfügung gestellt werden.

In Bezug auf die EU kommt etwa in Olaf Scholz europapolitischer Grundsatzrede vom 29. August des Jahres an der Karls-Universität in Prag die Vision einer europäischen Armee gar nicht mehr vor. Scholz wiederholt in der Rede zwar die bekannten deutschen Vorschläge für eine stärker integrierte europäische Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Mehrheitsabstimmungen in der GASP, gemeinsames Hauptquartier sowie eine integrierte und personell aufgestockte EU-Eingreiftruppe nach dem Modell der bisherigen Battlegroups. Gleichzeitig deutet sich aber in der Rede etwas anderes an. Europäische Politik, so Scholz, solle sich am Grundsatz „Form follows function“ orientieren. Bei der kollektiven Verteidigung, bei der sich eine äußere Bedrohung gegen die Sicherheit aller richtet, bleiben stärker integrierte Formen der militärischen Zusammenarbeit denkbar. Scholz erwähnt etwa die Luftverteidigung. Bei der militärischen Krisenintervention, bei der nicht automatisch die eigene Sicherheit und die Sicherheit aller auf dem Spiel steht, wäre hingegen, so ließe sich Scholz interpretieren, eine Form der institutionellen Kooperation zu wählen, bei der die nationale Entscheidung über den Einsatz von Streitkräften nicht durch multilaterale Strukturen überschrieben wird. Denn er plädiert dafür „noch viel stärker die Möglichkeit zu nutzen, Einsätze einer Gruppe von Mitgliedstaaten anzuvertrauen, die dazu bereit sind, sozusagen einer Koalition der Entschlossenen.“

Konturen des staatszentrierten Multilateralismus

Ein solcher Perspektivwechsel, wenn er denn mit der Nationalen Sicherheitsstrategie weiter vorangebracht würde, wäre natürlich keine Absage an Multilateralismus und enge Kooperation mit Partnern. Im Gegenteil, wo immer Skaleneffekte möglich sind, ohne dass Kernbereiche nationaler Entscheidungshoheit und Verantwortung ausgehöhlt werden, blieben auch in der Verteidigung integrierte Formen der Kooperation denkbar und aus Gründen der Effizienz geboten. Deutlicher würde aber, dass letztlich die Nationalstaaten die Verantwortung für Sicherheit tragen. Ihren Regierungen obliegt es, Spannungsverhältnisse zwischen Bündnissolidarität und den Erwartungen der Partner einerseits und den eigenen Zielen und Orientierungen andererseits deutlich zu machen und Entscheidungen in diesem Spannungsfeld gegenüber ihren Gesellschaften und Partnern gut zu begründen. Das gilt für das Spannungsverhältnis zwischen enger verzahnter europäischer Rüstungskooperation und nationalen Exportkontrollen – hier rufen Scholz und Lambrecht zu Recht zur Neujustierung auf – ebenso wie für das Spannungsverhältnis zwischen Bündnissolidarität und nationaler Verantwortung für den Einsatz von Streitkräften. Die nationale Sicherheitsstrategie wäre ein Ort, um für derartige Entscheidungen zumindest die groben Linien zu skizzieren.

Mit dem Neuen Strategischen Konzept der NATO und darauf aufbauender Planungen wie dem New Force Model (NFM) geht Deutschland sicherheitspolitische Verpflichtungen in erheblichem Umfang ein. Angesichts des russischen Aggressionskrieges rückt sowohl innerhalb der NATO wie der deutschen Verteidigungspolitik die kollektive Verteidigung wieder ins Zentrum. Deutschland übernimmt Verantwortung als logistische Drehscheibe und sagt vorwärtsstationierte und innerhalb von 30 Tagen einsatzbereite Folgekräfte für die Verteidigung der Ostflanke in Litauen und Polen zu. Planerisch stellt Deutschland im Bedarfsfall weitere Einheiten praktisch im Umfang der gesamten Bundeswehr bereit. Die Zusage, militärische Kräfte in diesem Umfang vorzuhalten und auszurüsten, bindet die deutsche Verteidigungs- und Rüstungspolitik bereits in Friedenszeiten in erheblichem Umfang und auf viele Jahre. Im Krisen-und Kriegsfall sichert die Vornestationierung größerer Verbände, die regional arbeitsteilige Verteidigungsvorbereitung und die kurzen Reaktionszeiten zwar die Abschreckung, allerdings auf Kosten der nationalen Handlungsautonomie. Dennoch sind die deutschen Zusagen begründbar. Denn Deutschland hat ein erhebliches Interesse an der Abschreckungswirkung einer glaubwürdigen kollektiven Verteidigung und muss sich zudem auf eine Verlagerung amerikanischer Kapazitäten in den pazifischen Raum einstellen. Die Anforderungen an Deutschland, die sich aus den beiden anderen Kernaufgaben der NATO – der Krisenreaktion und der kooperativen Sicherheit – ergeben könnten, sind dagegen diffuser. Deutschland sollte durch klare Signale an seine Partner unterstreichen, dass es an Krisenreaktionseinsätzen nur fallweise und nur nach genauer Prüfung der Risiken und Erfolgsaussichten beteiligen wird und dass sein Engagement in der indo-pazifischen Region eng begrenzt bleibt.

Auch aus dem Strategischen Kompass der EU können sich Anforderungen der Partner ableiten und Spannungen mit deutschen Sichtweisen und Interessen ergeben. Kritisch ist hier insbesondere die geplante 5000 Soldatinnen und Soldaten umfassende Eingreiftruppe, die offiziell unter der EU-typischen Bezeichnung „Rapid Deployment Capacity“ läuft. Dabei handelt es sich zwar um ein Projekt, was von der letzten Verteidigungsministerin mit angeschoben wurde und zu dem die jetzige erhebliche deutsche Beiträge in Aussicht stellt. Dennoch könnte sich dies Projekt je nach Konfiguration als ein Schritt in die falsche Richtung erweisen. Problematisch wäre insbesondere ein Arrangement, bei dem sich Staaten verpflichten, mit der Bereitstellung nationaler Komponenten die Funktionsfähigkeit des europäischen Instruments zu sichern. Denn in einem Krisenfall stünden sie gegebenenfalls vor der Alternative, ihren Zusagen auch dann Taten folgen zu lassen, wenn sie für einen zweifelhaften Einsatz im konkreten Fall keine innenpolitische Unterstützung haben, oder das europäische Instrument zu blockieren. Deutschland sollte sich, und Olaf Scholz hat es angedeutet, vom Konzept integrierter militärischer Strukturen für die Krisenintervention verabschieden.

Matthias Dembinski
Dr. Matthias Dembinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Institutionen“ und Projektleiter an der HSFK. Er forscht zu Fragen von Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen, regionalen Sicherheitsorganisationen und humanitären Interventionen. Sein regionaler Schwerpunkt ist Westeuropa. // Dr Matthias Dembinski is Senior Researcher in the research department “International Institutions” and project manager at PRIF. His research interests are questions of justice in international relations, regional security organisations and humanitarian interventions. His regional focus is Western Europe.

Matthias Dembinski

Dr. Matthias Dembinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Institutionen“ und Projektleiter an der HSFK. Er forscht zu Fragen von Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen, regionalen Sicherheitsorganisationen und humanitären Interventionen. Sein regionaler Schwerpunkt ist Westeuropa. // Dr Matthias Dembinski is Senior Researcher in the research department “International Institutions” and project manager at PRIF. His research interests are questions of justice in international relations, regional security organisations and humanitarian interventions. His regional focus is Western Europe.

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