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Europäische Diplomatie braucht Wissenschaft – unabhängig und frei

10. Oktober 2025

Die Europäische Union plant in einer neuen Initiative, Forschungsbeziehungen und Forschungsergebnisse strategischer in die Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden. Angesichts der zunehmenden geopolitischen Rivalität soll die europäische Forschung einen stärkeren Beitrag zur diplomatischen Resilienz leisten. Als außenpolitische Zielsetzung ist dies durchaus richtig – dennoch entstehen, so argumentiere ich in diesem Blog, Risiken für die Resilienz der Wissenschaft selbst. Wenn auch nicht beabsichtigt, so bergen die vorgeschlagenen Konzepte die Gefahr, die Unabhängigkeit und die Freiheit der Forschung zu gefährden.

Bislang galt in der europäischen Politik insbesondere China als „Partner, Wettbewerber und Rivale“. In den Unterlagen zu einer aktuellen Sondierung der Europäischen Kommission heißt es nun ganz allgemein, „dass Länder gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemische Rivalen sein können.“ Diese Erweiterung ist offensichtlich von der Wahrnehmung geprägt, dass die Zahl der echten Partner geringer wird und die der Wettbewerber und Rivalen sich erhöht. Die EU und ihre Mitglieder erkennen sich selbst in einer internationalen Umgebung, die durch Rivalität und Polarisierung geprägt ist, und sie sehen die Notwendigkeit, sich strategisch hierfür besser zu rüsten.

EU-Konsultation zur Wissenschaftsdiplomatie

Dies ist der Hintergrund für eine geplante Empfehlung des Rates der Europäischen Union für die strategischere Ausrichtung der Wissenschaftsdiplomatie. Solche Ratsempfehlungen sind nicht rechtlich verbindlich, sie dienen aber als wichtige Zielvorgaben für die Mitgliedstaaten. Auf dem Wege der Sondierung sind „Stakeholder“ – in dem Fall also Akteure aus Wissenschaft, forschungsnaher Industrie, Zivilgesellschaft und der öffentlichen Verwaltung – aufgerufen, Rückmeldungen zu geplanten Initiativen zu geben, um die normative und rechtliche Tragweite einer geplanten Maßnahme besser abschätzen und ggf. anpassen zu können.

In diesem Fall wurde die Sondierung am 6. Oktober geöffnet, noch bis zum 3. November können die Stakeholder ihre Rückmeldung zu der geplanten Empfehlung des Rates geben. Der Kern der geplanten Empfehlung ist ein EU-weiter Ansatz zur besseren Koordination der Wissenschaftsdiplomatie. Sie soll im Kontext der geopolitischen Polarisierung als Gegenstrategie gegenüber Wettbewerbern dienen, die Forschung schon jetzt strategischer nutzen und einsetzen. Das formulierte Ziel ist, die europäische Forschung in geopolitischen Einfluss umzuwandeln.

In den Unterlagen zu der Sondierung werden spezifische Fragen aufgelistet, die die Interessenträgerinnen in ihren Eingaben berücksichtigen sollen. Die dritte Frage ist in meinen Augen die Kernfrage, um die es in der weiteren Debatte gehen sollte: „Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen bei der Konzeption von Maßnahmen der Wissenschaftsdiplomatie auf EU- oder Mitgliedstaatsebene, wenn man […] die Grundsätze der akademischen Freiheit und der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung berücksichtigt?“ Mit anderen Worten: Wird eine Wissenschaft, die sich diplomatische Prinzipien und Praktiken aneignet, auch dem Wesenskern wissenschaftlicher Arbeit gerecht – nämlich Erkenntnisgewinn, Offenheit und Kommunikation ungeachtet politscher Gefälligkeit?

Was die geplanten Maßnahmen betrifft, an denen diese Frage diskutiert werden kann, verweist die Sondierung direkt auf den Expertinnenbericht „A European Framework for Science Diplomacy – Recommendations of the EU Science Diplomacy Working Groups“ und markiert damit die darin formulierten Empfehlungen und Maßnahmen als einen zentralen Referenzpunkt, zu dem in der Sondierung Stellung bezogen werden soll. Der Fokus liegt im Folgenden daher auf dem Bericht und den darin enthaltenen Empfehlungen und auf der Frage, wie diese sich mit der Wissenschaftsfreiheit vertragen.

Drei plus Eins Typen der Wissenschaftsdiplomatie

Der Bericht führt in unterschiedliche Konzeptionen der Wissenschaftsdiplomatie ein. Demzufolge wird Wissenschaftsdiplomatie klassischerweise in drei Dimensionen unterschieden: Erstens die „Science for Diplomacy“, in der wissenschaftliche Kooperationen dazu genutzt werden sollen, Beziehungen zwischen Staaten zu verbessern. Zweitens die „Diplomacy for Science”, in der Diplomatie dazu dient, wissenschaftliche Verbindungen zu knüpfen. Drittens die „Science in Diplomacy“, also die wissenschaftliche Beratung der Diplomatie. Die Kommission schlägt nun vor, mit Blick auf die zunehmende geopolitische Rivalität und ihre wissenschaftliche Dimension einen weiteren Typen zu ergänzen, nämlich den Typ der „Diplomacy in Science“, „which refers to the use of diplomatic skills and tools in and by science.“

Nun, es ist sicher nicht zu gewagt, ohne weitere Recherche zu vermuten, dass dieser Typ in der klassischen Konzeption nicht zufällig fehlte. Denn diese Auffassung über das Verhältnis von Wissenschaft und Diplomatie widerspricht nicht zuletzt der Logik  des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und dem daraus abgeleiteten Anspruch, wie Wissenschaft kommuniziert werden sollte: Im System Wissenschaft geht es immer um den Gewinn und die Kommunikation des jeweils besten Wissens zu einer Fragestellung – die, ich möchte es betonen, nicht einmal eine gesellschaftliche Problemstellung sein muss. Zu erwarten, dass Wissenschaftlerinnen diesen Anspruch einem strategischen außenpolitischen Kalkül unterordnen sollen, ist meines Ermessens nicht mit dem Ideal einer / nicht mit der (?) wissenschaftlichen Arbeitsweise vereinbar. Natürlich gibt es viele Beispiele für eine solche Fremd- oder Selbstselektion in der wissenschaftlichen Beratung von Politik – diese sollte aber hinterfragt und nicht zu einem Konzept erklärt werden.

Kooperative und kompetitive Wissenschaftsdiplomatie

Noch deutlicher wird dies an einer zweiten konzeptionellen Unterscheidung, die der Bericht einführt. Der Differenzierung eines „kooperativen“ und eines „kompetitiven“ Modus der Wissenschaftsdiplomatie. Der kooperative Modus entspricht dem, was viele Wissenschaftlerinnen als den Normalmodus verstehen würden: unabhängige wissenschaftliche Kooperation über Grenzen hinweg, ungeachtet politischer Unterschiede, mit dem Ziel, ein „global public good“ zu fördern. Im kompetitiven Modus hingegen ist die offene Wissenschaft durch außenpolitische Interessen beschränkt. Die Wissenschaft ist hier aufgefordert, einen Beitrag dazu zu leisten, einen Wettbewerbsvorteil in der geopolitischen Rivalität zu erlangen. Dies ist eine begründete und legitime außenpolitische Strategie, die aber wenig außenwissenschaftlich ist, da sie den Erkenntnisgewinn einer außerwissenschaftlichen – und austauschbaren – Priorität unterordnet. Worum es mir hier vor allem geht, ist, dass die Rollenunterscheidungen zwischen Diplomatie und Wissenschaft in der Wissenschaftsdiplomatie erhalten bleiben müssen. Nur so können die Stärken beider Welten genutzt werden, nur so kann Wissenschaft Diplomatie am besten informieren und in Form kritischer Reflexion unterstützen.

Strategische Wissenschaftsdiplomatie und Forschungsfreiheit

Ich möchte dies an zwei Beispielen illustrieren: Erstens die internationale Klimapolitik, die der Bericht selbst als ein Erfolgsbeispiel der Wissenschaftsdiplomatie anführt. Und zweitens die deutsche Forschungs- und Außenpolitik im Kontext des Israel-Gaza-Kriegs.

Der Bericht nennt die Klimapolitik als ein Paradebeispiel für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Diplomatie: „Climate change is a best practice example where there has been a long-standing cooperation between scientists and diplomats, e.g., through the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) and the Conferences of the Parties to the United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC).” Man kann von politischer Seite zu dieser Schlussfolgerung kommen, aber nicht alle beteiligten Wissenschaftlerinnen stimmen ihr zu. Zwar ist der wissenschaftliche Prozess in der Entstehung der Langfassung der Berichte unabhängig. Aber gerade im Hinblick auf die policy-relevanten Zusammenfassungen gab es über die Jahre immer wieder kritische Hinweise auf die politische Einflussnahme auf die Formulierung der aus dem Langbericht abgeleiteten Empfehlungen. Die internationale Klimapolitik ist also ein Beispiel für die intensive politische Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse – aber auch für die nicht ausschließlich wissenschaftsgeleitete Ableitung politischer Empfehlungen aus dieser Nutzung.

Als weiteres Beispiel möchte ich auf Deutschland und die wissenschaftliche Kommentierung der Außenpolitik im Hinblick auf die von Israel geführten bewaffneten Konflikte in Gaza und der Region eingehen. Bundeskanzler Merz hat bei verschiedenen Gelegenheiten geäußert, dass er einen Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu trotz der Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs für möglich hält. Aus der Perspektive der Rechts- und Völkerrechtswissenschaft ist dies ein „Rechtsbruch mit Ansage.“ Diese Aussagen von Bundeskanzler Merz sind historisch begründet und folgen damit nicht ausschließlich und vordergründig einem strategischen Kalkül. Dennoch stellt sich die Frage, welche Erwartungen an Wissenschaftlerinnen gestellt werden, sich womöglich mit offener Kritik zurückzuhalten, wenn sie sich als Forscherinnen diplomatischer verhalten sollen. Ein weiteres Beispiel aus diesem Kontext – und in dem Fall einem strategischen Kalkül folgend – ist die Aussage, ebenfalls von Bundeskanzler Merz, Israel sei in Bezug auf Luftangriffe auf den Iran zu danken, da es die „Drecksarbeit“ westlicher Staaten erledige. Die Angriffe sind ziemlich eindeutig völkerrechtswidrig – und auch hier stellt sich die Frage: Ist im Rahmen der „Diplomacy in Science“ in einem solchen Fall wissenschaftliche Zurückhaltung geboten? Ein drittes Beispiel ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) der Vorgänger-Regierung, in dem Listen von Hochschullehrerinnen geführt wurden, die sich kritisch zur Israel-Gaza-Politik der Bundesregierung äußerten. Im Zuge dieser Fördermittelaffäre stand die Mutmaßung im Raum, diese Listen könnten zur Überprüfung von Förderungen durch das Ministerium genutzt werden. Ist dies im Rahmen der „Diplomacy in Science“ eine mögliche Konsequenz, wenn Wissenschaft sich kritisch und nicht diplomatisch positioniert?

Resilienz der Wissenschaft durch Unabhängigkeit und Freiheit

Die geplante Empfehlung zielt darauf ab, dass eine kohärente europäische Wissenschaftsdiplomatie „die europäische Diplomatie strategischer, wirksamer und resilienter machen werde […]“. Wie aber verhält es sich mit der Resilienz der Wissenschaft selbst? Der Bericht verweist an verschiedenen Stellen darauf, dass die Wissenschaft gegenwärtig unter Druck stehe und stärker geschützt werden müsse. Auf den ersten Blick scheint die stärkere Verflechtung mit politischen Institutionen und Akteuren im Rahmen einer ausgeweiteten Wissenschaftsdiplomatie diesen Schutz zu bieten. Betonen die Unterlagen nicht zu Recht den Status der europäischen Union als Hort der Wissenschaftsfreiheit?

Ich habe in dem vorhergehenden Absatz bewusst extreme Beispiele gewählt, die aktuell nicht das Wesen des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik in Deutschland und Europa charakterisieren. Dies gilt aber nicht für alle Länder in Europa – und auch ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt, wie fragil der Zustand einer freien und unabhängigen Wissenschaft ist. Ein Institut für Friedensforschung, wie das, in dessen Blog dieser Text erscheint, ist womöglich nur eine Wahl vor einer Schließung entfernt, wenn dessen Analysen einem strategischen Kalkül nicht mehr entsprechen. Es ist also nicht die größere Nähe zu politischen Akteuren und Praktiken, die die Resilienz der Wissenschaft erhöht, sondern institutionell und finanziell abgesicherte Unabhängigkeit und Freiheit. Politische Akteure, denen gerade dies wichtig ist, sollten für diese Unabhängigkeit und Freiheit eintreten und Strukturen schaffen, die dies auch für die Zukunft und angesichts der Möglichkeit populistischer, demokratiefeindlicher Regierungen absichert. Eine kohärente Wissenschaftsdiplomatie steht dem nicht entgegen, und ja, es braucht mehr und systematischen Dialog zwischen Wissenschaft und Diplomatie, aber eine „Diplomacy in Science“ birgt Risiken, die jetzt erkannt und gebannt werden sollten.

Autor*in(nen)

Stefan Kroll

Stefan Kroll

Dr. Stefan Kroll ist Leiter der Abteilung für Wissen­schafts­kommunika­tion und Senior Researcher im Programm­bereich Inter­nationale Insti­tutionen. Seine Arbeits­schwer­punkte liegen im Bereich inter­diszi­plinärer Normen- und Institutionen­forschung, des Wissens­transfers und der politischen Bildung für Themen der Friedens- und Konflikt­forschung. // Dr. Stefan Kroll is Head of Science Communication and a Senior Researcher at PRIF’s research department International Institutions. His work focuses on inter­disciplinary research on norms and insti­tutions, know­ledge transfer, and political education for peace and conflict research topics.. | Twitter: @St_Kroll