Von Gegnern als antisemitisch kritisiert, von Unterstützern als wirksames Mittel gegen die israelische Besatzung gepriesen – die palästinensische Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions, kurz BDS, hat sich zu einer der wohl kontroversesten Protestbewegungen unserer Zeit entwickelt. In den vergangenen Jahren zogen jährlich im Schnitt rund sechs ausländische Fonds und Firmen ihre Investitionen aus Israel oder dort tätigen Unternehmen ab. Doch welchen Einfluss haben die Boykottaufrufe der Kampagne auf diese Entscheidungen? Ein Blick auf die Desinvestitionen sowie deren Begründungen lässt Zweifel aufkommen an der Unterstützung, die die BDS-Kampagne für sich reklamiert.
Die BDS-Kampagne und ihre Hintergründe: Wurzeln, Ansichten und Ziele
Als BDS-Kampagne versteht sich ein 2005 ins Leben gerufener Schulterschluss von insgesamt 170 Organisationen, Gewerkschaften, Verbänden und Vertretern der palästinensischen Zivilgesellschaft. Diese hatten sich nach der zweiten Intifada formiert, um ihrem Protest gegen die Lebenssituation der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und in Israel eine gemeinsame Stimme zu verleihen.
Knapp 14 Jahre später ist die Kampagne zu einem globalen Netzwerk gewachsen, das eine Vielzahl lokaler Initiativen und Projekte weltweit umspannt. Dabei beruft sich die Bewegung auf den Befreiungskampf der südafrikanischen Zivilgesellschaft gegen die Apartheid. Ähnlich der Rassentrennung im Buren-Regime empfinden Unterstützer von BDS die gegenwärtige Situation in Israel-Palästina als eine Gesellschaft zweier Klassen, in der Palästinenser benachteiligt und ihrer Rechte beraubt werden.
Um dies zu ändern und „Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit“ zu erreichen, fordert die Bewegung von der internationalen Gemeinschaft und der weltweiten Zivilgesellschaft – wie ihr Name sagt – Boykotte, Desinvestitionen, also den Verkauf von Unternehmensanteilen und die Rücknahme investierter Gelder, sowie letztlich staatliche Sanktionen gegen Israel. Dabei verfolgt BDS drei Ziele:
- Zunächst verweist die Kampagne auf die völkerrechtlich umstrittene Besetzung der palästinensischen Gebiete im Westjordanland, in Ost-Jerusalem, Gaza sowie den Golan-Höhen. Israel soll die Besetzung beenden und die Mauern zur Westbank und dem Gaza-Streifen abbauen.
- Weiterhin fordert die Kampagne die Garantie gleicher Rechte für die palästinensischen Staatsbürger Israels, die innerhalb der Waffenstillstandslinien von 1949 und außerhalb der Besatzungsgebiete leben.
- Als drittes, wohl weitreichendstes Ziel beansprucht die Bewegung die Durchsetzung der UN-Resolution 194 von 1948 und damit ein Rückkehrrecht für alle palästinischen Flüchtlinge und deren Nachkommen in das Staatsgebiet Israels. Insgesamt beläuft sich deren Zahl laut Angaben des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge heute auf rund fünf Millionen Menschen.
Für diese Vorhaben begegnet der Bewegung weltweit heftiger Gegenwind: Frankfurts Bürgermeister Uwe Becker, zahllose Organisationen, Regierungen und Gemeinden rund um den Globus – sie alle werfen der Kampagne Antisemitismus vor. So gehe es BDS nicht darum, Frieden zu schaffen. Vielmehr gefährde die Bewegung das Existenzrecht Israels. Denn die Rückkehr aller Flüchtlinge und ihrer Nachkommen würde den weiteren Bestand des Staates mit seinen derzeit rund acht Millionen Einwohnern massiv in Frage stellen. Zudem würde der Boykottaufruf eine Form der Kollektivstrafe gegen alle in Israel lebenden Menschen anstreben, unabhängig von deren politischer Position. Diese Verurteilung einer ganzen Gesellschaft, so Kritiker, laufe letztendlich darauf hinaus die Gesellschaftsordnung und den Staat als Ganzes zu delegitimieren. Weiterhin, so der Vorwurf, verharmlose die Bezeichnung Israels als Apartheidregime das damalige Unrechtssystem in Südafrika. Auch dies untergrabe die Legitimation des bestehenden demokratischen Rechtsstaates in Israel.
Unter dem Druck der internationalen Kampagne scheint derweil auch die Divestment-Dimension der BDS-Forderungen Gestalt anzunehmen: Nach und nach ziehen immer mehr Firmen und Investoren Gelder und Produktionsmittel aus Israel ab. Zudem müssen internationale Unternehmen wie Caterpillar, Motorola oder Hewlett-Packard, die in Israel tätig sind und von BDS attackiert werden, den Abzug investierter Gelder verschmerzen. Doch inwiefern stellen die Desinvestitionen tatsächlich ein Echo der BDS-Kampagne dar?
Der Blick in die Presse: Die Kampagnenarbeit scheint zu greifen
Blickt man auf die Zeitspanne seit Gründung der Kampagne im Juli 2005 bis Ende des vergangenen Jahres 2018, so lassen sich anhand der internationalen Berichterstattung insgesamt 77 Fälle aufzeigen, in denen Fonds und Firmen Israel oder dort tätigen Unternehmen den Rücken kehren und die von BDS als Erfolge verbucht werden.
Diese setzen sich einerseits aus 61 Divestment-Entscheidungen transnationaler Investoren und Fonds zusammen, die ihre Anteile israelischer oder in den Palästinensergebieten tätigen Unternehmen veräußerten. Anderseits finden sich in dem Zeitraum weitere 16 Abwanderungen von Niederlassungen aus Israel-Palästina beziehungsweise Vertragskündigungen mit Unternehmen, die dort tätig sind. Im Schnitt entspricht dies insgesamt einer Quote von rund sechs (5,5) Divestment-Entscheidungen jährlich seit 2005.
Nimmt man die zeitliche Verteilung dieser Divestment-Entscheidungen ins Visier, lässt sich der Betrachtungszeitraum grob in zwei Abschnitte einteilen – vor dem Jahr 2014 und danach. Im ersten Zeitraum zogen durchschnittlich 4,5 Fonds und Firmen ihre Investitionen aus Israel und den dort tätigen Unternehmen ab. Hier markiert das Jahr 2010 einen chronologisch ersten Höhepunkt mit sieben relevanten Divestment-Entscheidungen.
Ein deutlicher Anstieg lässt sich daraufhin ab dem Jahr 2014 kennzeichnen: Bis 2019 entschieden sich seither durchschnittlich acht Fonds und Firmen im Jahr für den Abzug ihrer Gelder und Produktionsmittel. 2014 sind zudem mit einer Anzahl von zehn die meisten Divestment-Entscheidungen pro Jahr zu finden. In den Folgejahren 2015 und 2016 entschieden sich daraufhin jeweils weitere neun Fonds und Firmen, ihre Gelder abzuziehen.
Auf den einschlägigen Internetseiten der weltweiten Kampagne werden diese zunehmenden Desinvestitionen als Erfolg des jahrelangen Protests vermarktet. Beim Blick auf die Zahlen scheint es, als gelänge es der BDS-Kampagne, über Zeit ihre Wirkung zu entfalten.
Der Blick auf die Motivation: Umfassende BDS-Unterstützung sucht man vergeblich
Will man dieser vermeintlichen Erfolgsquote nun auf den Grund gehen, lohnt sich der Blick auf die Pressestatements von Fonds und Firmen. Hier finden sich öffentliche Erklärungen, Kommentare und Rechtfertigungen, die die unterschiedlichen Desinvestitionen näher begründen. Ein einheitliches, deutlich BDS zuzuordnendes Bild zeichnet sich hier jedoch nicht ab.
Insgesamt bestimmen bei den insgesamt 60 innerhalb des untersuchten Zeitraums gefundenen Erklärungen zwei Argumentationslinien das Bild: Einerseits beinhalten 34% der Statements Verweise auf das Völkerecht und die „illegale Besatzung“ der Palästinensergebiete durch Israel; andererseits begründen 23% der Abwanderer ihre Desinvestition mit sozialer oder ethischer Konzernverantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR). Hier finden sich Verweise auf die Lebenssituation der Palästinenser, mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen oder den Kriegszustand in Israel-Palästina. Die übrigen Kommentare verweisen auf das Geschäftsklima in Israel oder etwa betriebswirtschaftliche Entscheidungen.
Spiegelt man diese Ergebnisse mit den drei Zielen von BDS, zeigt sich, dass sich die Motivation etwa eines Drittels der Desinvestierenden unmittelbar mit dem ersten Kampagnenziel deckt. Mit Blick auf die zweite Argumentationslinie der Konzernverantwortung lassen sich Bezüge auf die benachteiligte Lebenssituation der Palästinenser innerhalb Israels zwar in Teilen mittelbar konstruieren, konkret genannt wird dieses Ziel jedoch an keiner Stelle. Auch die Forderung des Rückkehrrechts für alle Palästinenser, wie es das dritte Kampagnenziel vorsieht, ist in keiner der gefundenen Erklärungen enthalten.
Klarheit, ob die Desinvestitionen als Folge der BDS-Kampagne zu betrachten sind, lässt sich hieraus nicht gewinnen. Denn auch unmittelbare Bezüge auf die Kampagne sucht man im Großteil der Statements vergeblich: In nur 10 % der betrachteten Fälle wird BDS überhaupt namentlich erwähnt, bei der Hälfte dieser Nennungen distanzieren sich Unternehmen und Investoren von der Bewegung. Nur vier Statements enthalten eindeutigen Zuspruch für BDS. Eine umfassende Unterstützung für BDS, wie es die PR der weltweiten Kampagne vermuten ließe, sieht anders aus.
Eine kritische Betrachtung: Was gegen den Einfluss von BDS spricht
Reichen diese Ergebnisse, um der BDS-Bewegung ihren Einfluss auf die israelische Wirtschaft und die dort Investierenden abzusprechen? Oder sind die Desinvestitionen gar ganz von der BDS-Bewegung losgelöst zu betrachten?
Dafür, dass Divestment-Entscheidungen auch ohne Zutun von BDS gefallen wären, spricht zunächst der Blick auf die Zeitleiste: an ihr sind die Eskalationen im israelisch-palästinensischen Konflikt deutlich abzulesen. So markiert das Jahr 2010 einen ersten Anstieg relevanter Desinvestitions-Entscheidungen, 2014 folgt der bisherige Höhepunkt. Bei beiden Jahren handelt es sich um kritische Momente Israels in der Weltöffentlichkeit: Einerseits kam es 2010 zum sogenannten Ship-to-Gaza-Zwischenfall, der Enterung eines Aktivistenschiffes, das mit Hilfsgütern die Seeblockade nach Gaza durchbrechen wollte. Das Jahr 2014 wiederum markiert den Zeitpunkt der Operation Protective Edge, des dritten Gaza-Krieges. Bei beiden Zeitpunkten kann davon ausgegangen werden, dass die drohende politische Instabilität bei Investoren die Angst möglicher wirtschaftlicher Verluste geweckt haben wird. Zudem werden die politischen Verwerfungen Fonds und Firmen entscheidend für völkerrechtliche Bedenken und die Konzernverantwortung mit Blick auf Israel sensibilisiert haben.
Die Desinvestitionen dieser und der Folgejahre allein dem öffentlichen Druck der BDS-Kampagne zuzurechnen, scheint im Lichte der ohnehin gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit für die Situation im Land und der weithin geäußerten völkerrechtlichen Bedenken nicht plausibel.
Abseits dessen stellt wirtschaftlicher Druck auf Israel die entscheidende Strategie der Kampagne dar. Jedoch scheint sich ein solcher – trotz der wachsenden Anzahl von Desinvestitionen – mit Blick auf die Makroperspektive nicht einzustellen. Im Gegenteil: Mit Ausnahme des Jahres 2014 schnellt der Zufluss ausländischer Direktinvestments scheinbar ungehindert in die Höhe und trotzt damit der internationalen Kampagne. Die wirtschaftliche Isolation Israels gar ist in weiter Ferne. Auch dies spricht gegen den Einfluss der weltweiten BDS-Kampagne auf die Wirtschaft Israels.
Wer Desinvestitionen verstehen will, sollte BDS nicht ignorieren
Desinvestitionsentscheidungen vom Wirken der BDS-Kampagne gänzlich losgelöst zu betrachten, ist dennoch zu kurz gegriffen. Untersuchungen der Wirtschaft in Israel-Palästina sollten mögliche Einflüsse der Bewegung zumindest im Blick behalten. Hierfür sprechen drei Gründe:
- Zunächst mögen sich die ausländischen Investoren zwar nur die völkerrechtlichen Bedenken gegen die Besetzung mit der Kampagne teilen, sich aber ansonsten nicht mit BDS identifizieren. Dass sie aber einen Teil der Argumente zumindest indirekt übernehmen, verleiht der Bewegung Rückendeckung. Nicht umsonst gelingt es BDS, Divestment-Entscheidungen gegen Israel für ihr weltweites Publikum als Erfolge zu verkaufen.
- Darüber hinaus standen manche Desinvestierende – so beispielsweise Orange, G4S oder SodaStream – international selbst im Fokus der Kampagne und waren öffentlichem Druck ausgesetzt. Ihre Divestment-Entscheidungen können daher nicht losgelöst von der Kampagne erklärt werden.
- Letztlich beziehen sich die Abkehrer zwar nicht explizit auf BDS, dennoch ziehen sie ihr Geld genau dort ab, wohin der kritische Finger der Kampagne zuvor zeigte. So sind es eben jene Unternehmen, die zuvor im Kampagnenfokus standen, denen Investoren ihre Unterstützung nun entsagen. Die Kampagne kann Investierende also dort treffen, wo es sie am meisten schmerzt: in ihrer Reputation. Dies hat Folgen: Ohne die kritische Öffentlichkeitsarbeit von BDS scheint es schwer vorstellbar, dass international erfolgreiche Unternehmen wie Caterpillar, Motorola oder Hewlett-Packard für die Investmentportfolios von Fonds ein wirtschaftliches Risiko darstellen.
Insgesamt betrachtet lassen sich daraus zweierlei Schlüsse ziehen: Einerseits sollte der Blick für das internationale Wirken der Kampagne und vor allem ihre gesellschaftliche Resonanz nicht unter den Tisch fallen, will man Desinvestitionen verstehen. Andererseits lassen die hier zusammengefassten Untersuchungsergebnisse jedoch deutliche Zweifel an der BDS-Unterstützung weltweiter Unternehmen aufkommen: Denn nur ein Drittel der Desinvestitionsbegründungen decken sich mit den BDS-Zielen. Nur 5% beziehen sich gar konkret auf BDS.