Vor wenigen Wochen wurde in New York der erste Global Sustainable Development Report (GSDR) vorgestellt. Im Auftrag des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (UN) bewertete eine unabhängige Gruppe von internationalen Wissenschaftler*innen den Umsetzungsstand der Agenda 2030 und der Sustainable Development Goals (SDGs) auf Grundlage aktuellster Forschungsergebnisse. Der Bericht weist allerdings einen großen „blinden Fleck“ auf: Politische Konflikte und Gewalt spielen im gesamten Report kaum eine Rolle. Das ist ein Problem, schließlich ignoriert der Bericht somit ein zentrales Querschnittsthema, das für die Erreichung aller 17 SDGs eine entscheidende Rolle spielt. Die deutsche Bundesregierung sollte deshalb dafür werben, dass bei der anstehenden Nominierung der nächsten GSDR-Expertengruppe dieser bisherigen Leerstelle – auch personell – Rechnung getragen wird.
Im Jahr 2015 einigten sich die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf ein neues globales Rahmenwerk, die Agenda 2030. Kernstück der Agenda ist ein ambitionierter Katalog von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz SDGs), die eine nachhaltige ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung in allen Mitgliedsländern bis 2030 sichern sollen. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Millenniums-Entwicklungszielen (MDGs) betonen die SDGs dabei stärker das Thema Nachhaltigkeit. Aber auch die Vermeidung und Vorbeugung von Gewalt, verankert beispielsweise im SDG 5 (Geschlechtergerechtigkeit) und prominenter noch im SDG 16, spielen eine wichtige Rolle in der vereinbarten Agenda. SDG 16 sieht etwa die Förderung friedlicher und inklusiver Gesellschaften, körperliche Unversehrtheit sowie den Schutz durch ein stabiles Rechtssystem vor. Als oberstes Unterziel ist darin die weltweite Reduzierung aller Formen von Gewalt und Todesraten festgehalten. Damit ist der internationalen Gemeinschaft ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung gelungen: Ein solch deutliches commitment zur Reduzierung sowohl personeller als auch kollektiver Gewalt gab es unter den MDGs noch nicht. In seiner Antrittsrede vor den VN setzte der designierte VN-Generalsekretär Antonio Guterres das Thema “Frieden” entsprechend sogar an den Anfang aller Ziele der Weltgemeinschaft: “Peace must be our goal and our guide”.
Der Global Sustainable Development Report
Im Zuge der Verhandlungen für die Agenda 2030 wurde schnell deutlich, dass der ambitionierte Zielkatalog komplex ist und seine Umsetzung einen interdisziplinären und intersektoralen Ansatz verlangt, der nicht zuletzt einen intensiven Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis voraussetzt. Um diesen zu stärken und das “Silodenken” in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu überwinden, forderten die Mitgliedstaaten einen alle vier Jahre erscheinenden Bericht, der die Generalversammlung über die Fortschritte der SDGs informiert. Dieser sollte von einer vom Generalsekretär ernannten unabhängigen Gruppe von 15 Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Institutionen erarbeitet werden. Auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse sollte der Report die bisherigen Fort- und Rückschritte bei der Erreichung der SDGs ermitteln und konkrete Policy-Empfehlungen formulieren. Im September 2019 ist nun der erste Global Sustainable Development Bericht erschienen: The Future is Now: Science for Achieving Sustainable Development.
Auf über 250 Seiten widmet sich dieser erste GSDR aktuellen Entwicklungen in den unterschiedlichsten Feldern: “Sustainable Economies”, “Food Systems”, “Decarbonization”, “Urban Development” – die behandelte Themen-Palette ist breit und vielfältig. Ein wichtiges Thema fehlt jedoch: Politische Konflikte und Gewalt spielen im gesamten Report kaum eine Rolle.
Blindspot Konflikt im aktuellen GSDR
So wird Gewalt im Bericht auf interpersonelle Gewalt reduziert, vor allem auf sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen (S. 16), und bleibt in ihrer kollektiven Dimension vage und ohne genauere Kontextualisierung als ‘sustainable development challenge’ (S. 115). Auch im Abschnitt zu least developed countries (LDCs) wird als größte Herausforderung zur Überwindung der Armut lediglich auf wirtschaftliche Indikatoren verwiesen sowie abstrakt auf weitere Entwicklungshemmnisse wie Krankheiten, physische und sexuelle Gewalt, Zugang zu Schulbildung sowie Anteile von Frauen in Führungspositionen. Dass sich jedoch unter genau diesen Ländern vor allem jene mit den schwersten gewalttätigen Konflikten der Welt finden lassen (Afghanistan, Yemen, Südsudan, Somalia etc.), wird ignoriert.
Dabei wird in der Zusammenfassung des Berichts durchaus auf diese zentrale Herausforderung bei der Umsetzung der Agenda 2030 hingewiesen: Bis zum Jahr 2030 werden von offenen Konflikten und massiver Gewalt betroffene Staaten 85 Prozent der extrem armen Weltbevölkerung beherbergen – geschätzt 342 Millionen Menschen (S. xxii). Ebenso findet sich im Bericht die zutreffende Feststellung, dass extreme Armut sich zunehmend in Regionen konzentriert, die mit Gewaltkonflikten, schwachen Institutionen und hohem Bevölkerungswachstum zu kämpfen haben (S. 11). Eine konzeptionelle Verknüpfung von Konflikt und Entwicklung – und eine Antwort auf die Frage, wie sich dies konkret auf die Umsetzung der SDGs auswirkt – bleibt jedoch aus. Nur bei einigen spezifischen Themen wird oberflächlich auf konfliktverschärfende Dynamiken verwiesen, wie beispielsweise im Kapitel zur Landnutzung (S. 89). Lediglich im Kapitel zu Migration werden Gewalt, Konflikt und Fragilität prominent thematisiert und als Ursache für Flucht und Vertreibung benannt. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass 12 der 15 Staaten, die die meisten Geflüchteten aufnehmen, fragil sind (S. 42). Zwar werden somit unter dem Aspekt Migration die Dynamiken von Konflikt und Fragilität ansatzweise hervorgehoben, diese Themen bleiben jedoch allein in der Programmatik ‘Fluchtursachen bekämpfen’ verhaftet.
Die Frage, welchen Stellenwert Prävention, Konfliktbearbeitung und gesellschaftliche Teilhabe haben, um die SDGs auch in von gewalttätigen Konflikten betroffenen Ländern zu erreichen, bleibt somit offen. Konflikt und Fragilität werden im GSDR lediglich als ‘Störfaktoren’ verstanden, die es beispielsweise im Kontext der globalen Ernährungssicherung zu überwinden gilt (S. 129). Der OECD-Bericht „States of fragility 2018“ bringt hingegen die Relevanz von Fragilität und Gewalt für die Erreichung der SDGs und der Agenda 2030 auf den Punkt: Fragile Länder liegen in der Erreichung der SDGs weiter zurück als nicht-fragile Länder. Fragilität – und gewalttätiger Konflikt als gravierendste Dimension von Fragilität – haben somit einen bedeutenden Einfluss auf die Erreichung aller 17 SDGs bis 2030.
Warum eine Konflikt-Perspektive dringend notwendig ist
Diese Vernachlässigung der Themen Konflikt und Gewalt im Global Sustainable Development Report ist entsprechend ein Problem, denn dadurch ignoriert der Report ein zentrales Querschnittsthema zur Erreichung der SDGs. Damit wird der erste GSDR der Agenda 2030 nicht gerecht, in deren Präambel es nicht zufällig heißt: ‘‘There can be no sustainable development without peace and no peace without sustainable development”. Ein Report wie der GSDR, der den Anspruch erhebt, das existierende “Silodenken” zu überwinden, sollte deshalb die Diskussionen zu diesem Querschnittsthema umfassender aufarbeiten. Schließlich gibt es zu der sogenannten “Nexus-Debatte” und der Frage, wie genau Frieden und Entwicklung zusammenhängen bzw. sich gegenseitig bedingen, vielfältige Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren und Jahrzehnten.
Der „blinde Fleck“ muss behoben werden – auch personell
Dass der erste GSDR trotzdem den beschriebenen “blinden Fleck” aufweist, lässt sich sicherlich zu großen Teilen auf die Zusammensetzung der 15-köpfigen Expert*innengruppe zurückführen, die den Report verfasst hat. Zwar vereint das Team tatsächlich verschiedene Disziplinen und Institutionen, jedoch gibt es niemanden in der Gruppe, der oder die über einen politikwissenschaftlichen Background verfügt und/oder eine Friedens- und Konfliktforschungs-Perspektive einbringt. Stattdessen sind – abgesehen von einem Soziologen – vor allem naturwissenschaftliche Disziplinen vertreten: Forst- und Landwirtschaft, Biodiversität, Gesundheit, Demographie, Umweltmanagement, Klimatologie, etc. Es ist ganz natürlich, dass die einzelnen Expert*innen ein Augenmerk auf “ihre” Themen legen und dafür eintreten, dass diese prominent im Report vertreten sind – entsprechend wenig überraschend ist der identifizierte “Blindspot Konflikt”. Soll diese Lücke in Zukunft geschlossen werden, muss man die institutionellen Mechanismen, die zu dieser Lehrstelle führten, adressieren.
Der nächste GSDR wird 2023 von einer gänzlich neuen Gruppe von Wissenschaftler*innen erstellt. Das Sekretariat der Vereinten Nationen holt dafür momentan die Nominierungen der Mitgliedstaaten ein, aus denen der UN-Generalsekretär anschließend die 15 Expert*innen auswählen wird, die den nächsten Bericht erarbeiten werden. In Anbetracht der enormen Bedeutung des Querschnittsthemas Frieden/Konflikt für die Erreichung der SDGs sollte die deutsche Bundesregierung im Zuge des anstehenden Nominierungs- und Auswahlprozesses eindringlich dafür werben, dass sich im nächsten GSDR-Team eine Person mit dem entsprechenden Profil wiederfindet und der blinde Fleck entsprechend behoben wird.