Die Resolution der UN-Generalversammlung fordert ein Ende der russischen Offensive in der Ukraine
Die Resolution der UN-Generalversammlung fordert ein Ende der russischen Offensive in der Ukraine | Photo: UN Photo/Loey Felipe

Totgesagte leben länger: Die Vereinten Nationen und der Krieg in der Ukraine

Die Vereinten Nationen (UN) scheinen machtlos im Krieg um die Ukraine. Die Organisation, die erschaffen wurde, um die Welt vor der „Geißel des Krieges“ zu bewahren, konnte den russischen Angriff nicht verhindern. Ist es also Zeit für einen endgültigen Abgesang auf die UN? Nein. Denn nicht zuletzt die gestrige „Uniting for Peace“-Resolution hat gezeigt: das russische Aushebeln der UN-Charta provoziert deutlichen Widerstand, getragen von vielen kleinen UN-Mitgliedsstaaten. Nun gilt es, mit ihnen in die Ordnung von Morgen zu investieren.

„Die UN wurden aus dem Krieg geboren, um Krieg ein Ende zu setzen. Heute wurde dieses Ziel nicht erreicht.“ Mit diesen Worten gestand UN-Generalsekretär António Guterres am Samstag der Welt und sich ein, was auch ohne diesen Hinweis überdeutlich war: Im dramatisch eskalierenden Konflikt in der Ukraine spielte die UN in der vergangenen Woche nicht einmal eine Nebenrolle. Schlimmer noch: Der russische Präsident Wladimir Putin verhöhnte die Weltorganisation in aller Öffentlichkeit. Mit seiner Entscheidung, den Marschbefehl just in dem Moment publik zu machen, als in New York der UN-Sicherheitsrat tagte, um über eine friedliche Lösung zu beraten, zeigte Putin demonstrativ seine Verachtung für die Organe der Vereinten Nationen. Während der UN-Generalsekretär sowie die anwesenden Botschafter:innen in ihren vorbereiteten Statements noch an Putin appellierten, seine Truppen von der ukrainischen Grenze zurückzuziehen, sickerte im Saal langsam die Nachricht des russischen Einmarsches durch. Als schließlich der Botschafter Russlands an der Reihe war, berichtete er seinen Kolleg:innen vom Beginn der russischen „Militäroperation“. Er schloss mit den Worten: „Ich wollte Ihnen das nur kurz mitteilen.“ Diplomatische Provokation auf dem Silbertablett.

Ein ohnmächtiger UN-Sicherheitsrat

Die zu erwartenden Reaktionen folgten umgehend. Diplomat:innen in New York verurteilten die russische Aggression „aufs Schärfste“ und brachten am Freitag – unter Federführung der USA und Albanien – eine entsprechende Resolution im UN-Sicherheitsrat ein, die von Russland u.a. einen sofortigen Abzug aller Truppen forderte. Die Resolution scheiterte jedoch, wie nicht anders zu erwarten, am Veto Russlands; China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich der Abstimmung. Viele Beobachter:innen werteten diese Entwicklungen – verständlicherweise – als ein weiteres Zeichen für die Nutzlosigkeit und Ohnmacht des UN-Sicherheitsrats. Wie soll man das auch anders verstehen, wenn der Straftäter selbst darüber entscheiden darf, ob er bestraft werden soll?

Es zeigt sich im Fall der Ukraine einmal mehr, dass der UN-Sicherheitsrat schlicht nicht in Konflikten aktiv wird und werden kann, in denen eines seiner fünf ständigen Mitglieder direkt involviert ist. Das mag man bedauern, aber man muss sich dabei auch immer in Erinnerung rufen, dass die siegreichen Großmächte nach dem zweiten Weltkrieg ohne diese „Sicherheitsgarantie“ in Form des Vetorechts niemals der Etablierung eines solch mächtigen Gremiums zugestimmt hätten. Der UN-Sicherheitsrat ist – ganz bewusst – nicht für solche Konflikte „gemacht“, wie wir sie gerade in der Ukraine erleben. Das erklärt die Problematik historisch, am Ergebnis ändert das jedoch auch nichts: Mit Blick auf die Ukraine ist das zentrale Entscheidungsorgan der UN in Sachen Frieden und Sicherheit machtlos.

Widerstand auf der Weltbühne

Im Lichte dieser Diskussion stellt sich die Frage: Braucht es die Vereinten Nationen dann überhaupt noch? Unsere Antwort lautet: Ja! Denn es gibt  zwei unterschiedliche Erzählungen über die Rolle der UN in der letzten Woche. Die eine ist die oben skizzierte, die Erzählung von den Vereinten Nationen als ohnmächtigem und zahnlosem Tiger, der sich den Großmächten und ihren Interessen beugen muss. Die zweite Erzählung ist jedoch eine des Widerstands: des Widerstands der vielen „kleinen“ Staaten, die sich auf der Weltbühne gegen die Unterdrückung und Dominanz eben jener Großmächte wehren und sich für ihre Rechte – und damit die Kernprinzipien der UN-Charta – stark machen.

Exemplarisch für diese zweite Erzählung steht der UN-Botschafter Kenias, Martin Kimani, der bereits am letzten Montag eine bemerkenswerte und viel beachtete Rede hielt. Unter eindrücklicher Bezugnahme auf die Geschichte seines eigenen Landes und vieler afrikanischer Staaten warnte Kimani den Rat vor den Gefahren eines Rückfalls in eine alte, imperiale Welt der Dominanz des Stärkeren und vor Herrschern, die Landkarten mit Gewalt neu zeichnen und nach ethnisch homogenen Staaten streben:


Our borders were not of our own drawing. […] At independence, had we chosen to pursue states on the basis of ethnic, racial, or religious homogeneity, we would still be waging bloody wars these many decades later. […] Rather than form nations that looked ever backwards into history with a dangerous nostalgia, we chose to look forward to a greatness none of our many nations and peoples had ever known. We chose to follow the rules of the OAU [Organisation of African Unity]and the United Nations charter, not because our borders satisfied us, but because we wanted something greater, forged in peace.


Dieses Statement zeigt sowohl die enorme Kraft, die (noch immer) in der Charta der Vereinten Nationen steckt, als auch die Macht, die die UN-Bühne vermeintlich „kleinen“ Staaten verleihen kann. Dabei geht es um weit mehr als nur Symbolpolitik. Auch wenn Appelle wie die von Kimani an der akuten Situation in der Ukraine vor Ort nichts verändern mögen, so sind sie trotzdem bedeutsam. Diese Bekenntnisse zu den fundamentalen Grundpfeilern des internationalen Systems – dem Gewaltverbot und der gleichberechtigten Selbstbestimmung der Völker – sind aktuell wichtiger denn je. Denn der Angriff Russlands ist nicht nur ein Angriff auf die Ukraine (oder „den Westen“), sondern ein Angriff auf die Kernprinzipien der internationalen Ordnung.

Gerade „kleine“ Staaten – wie Kenia, Albanien oder Singapur – wissen das. Für sie sind die Regeln der UN-Charta keine abstrakten Prinzipien, sondern entscheidende Garantien für die eigene Unabhängigkeit und Freiheit. Sie sind angewiesen auf eine starke UN in dem Sinne, wie sie der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld vor über 60 Jahren skizziert hat: „It is not the Soviet Union or, indeed, any other Big Powers which need the United Nations for their protection. It is all the others.” Diesen Staaten ist sehr bewusst, dass es in der aktuellen Situation ein breites weltweites Bündnis braucht, das die Prinzipien der Charta klar verteidigt – und sie sehen die Vereinten Nationen als Forum, um sich gegen jene Form der imperialen Weltordnung zu wehren, in der sie selbst untergehen würden. Dabei nutzen sie die aktuelle Situation auch um darauf hinzuweisen, dass dies nicht der erste Fall ist, in dem die UN-Charta von den Mächtigen ausgehebelt wird.

„Uniting for Peace“

In diesem Sinne ist auch die Notstandssitzung der UN-Generalversammlung in den vergangenen Tagen zu verstehen. Anfang der Woche kamen die UN-Mitgliedsländer auf Empfehlung des Sicherheitsrats zusammen, um im Rahmen der selten genutzten „Uniting for Peace“-Formel über gemeinsame Maßnahmen zu beraten. Diese 1950 während des Koreakriegs eingeführte Formel ermöglicht es der UN-Generalversammlung, „angemessene Empfehlungen“ zur kollektiven Reaktion auf Sicherheitskrisen abzugeben, wenn der Sicherheitsrat wegen fehlender Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder handlungsunfähig ist. Auch wenn diese Empfehlungen der UN-Generalversammlung – anders als Resolutionen des Sicherheitsrates – nicht rechtsverbindlich sind, so haben sie doch großes Gewicht: Sie vermitteln, was die Weltgemeinschaft in der aktuellen Situation als angemessenes Handeln ansieht. Die Empfehlungen der Generalversammlung sind gewissermaßen ein Seismograf, an dem sich sehr genau ablesen lässt, wie es um die regelgeleitete Weltordnung und die Prinzipien der UN-Charta tatsächlich steht.

Und schon während der zweitägigen Aussprache, die der Abstimmung in der Generalversammlung vorausging, machten viele UN-Delegierte deutlich, was aus ihrer Sicht aktuell auf dem Spiel steht. Der ukrainische Botschafter betonte, es gehe nicht nur um das Schicksal der Ukraine – eine Stimme für die Resolution sei eine Stimme für die UN-Charta. „Show respect to the charter!“, rief er den versammelten Staatenvertreter:innen zu und hob das kleine blaue Büchlein in die Luft. Deutschland wurde vor Ort von Außenministerin Annalena Baerbock vertreten, die dafür am Dienstagmorgen extra nach New York geflogen war. Die Völkerrechtlerin Baerbock verurteilte die russische Aggression, appellierte an die anwesenden Delegierten und warb mit den Worten Desmond Tutus für eine klare Positionierung: „Wer sich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhält, stellt sich auf die Seite des Unterdrückers.“ Aber auch viele „kleine“ Staaten brachten sich mit starken Worten in die Debatte ein.  Der Vertreter Singapurs etwa betonte, wie wichtig es für kleine Länder wie das seine sei, ein klares Signal für die Einhaltung des Völkerrechts zu senden: Eine Welt, in der das Recht des Stärkeren triumphiere, sei ein existenzielles Problem für eine kleine Nation wie Singapur.

Obwohl sich im Verlauf der Debatte also bereits eine relativ breite Zustimmung ankündigte, schlug der Welt-Seismograf am Mittwoch dann tatsächlich nochmal deutlich stärker aus, als erwartet. Die eingebrachte Resolution – in der Russland aufgefordert wird, die Gewaltanwendung gegen die Ukraine unverzüglich einzustellen, alle Streitkräfte abzuziehen, und die Anerkennung der Regionen Donezk und Luhansk unverzüglich zurückzunehmen – wurde mit überwältigender Mehrheit verabschiedet: 141 Staaten stimmten für die Resolution, 35 enthielten sich, und nur 5 Länder lehnten die Resolution ab. Damit wurde die Resolution per Zweidrittelmehrheit offiziell verabschiedet, mit dem deutlichsten Ergebnis in der Geschichte von „Uniting for Peace“. Dieses klare Votum der UN-Generalversammlung ist beeindruckend: Noch vor acht Jahren hatten sich nur 100 Staaten offen gegen die Krimpolitik Wladimir Putins gestellt. Gestern wiederum standen plötzlich mit Syrien, Belarus, Eritrea und Nordkorea nur noch vier Länder an der Seite Russlands. Das ist nicht nur ein Votum gegen Putins Krieg in der Ukraine, sondern auch ein Votum für die Grundprinzipien der UN.

Gemeinsam für die Ordnung von morgen

Ja, einmal mehr haben es die UN nicht geschafft, dem Krieg ein Ende zu setzen. Sie können und werden zwar eine wichtige Rolle im Bereich der humanitären Hilfe spielen, auf die Entwicklung des Krieges in der Ukraine haben sie jedoch keinen Einfluss. Doch wer deshalb bereits den Totengesang auf die Vereinten Nationen anstimmt, ignoriert die vielen sichtbaren Zeichen des Widerstands gegen die imperiale Welt(neu)ordnung, die Putin (und anderen) vorschwebt. So ist etwa die von 141 Staaten verabschiedete „Uniting for Peace“-Resolution ein starkes Signal der Weltgemeinschaft, dass sie Russlands Bruch des Völkerrechts nicht einfach so hinnimmt. Diese Zeichen machen Mut. Sie zeigen, dass die Vereinten Nationen das einzige Forum sind, um eine auf Humanität und Friedlichkeit basierende, regelgeleitete Ordnung der Welt zu verteidigen. Die Vereinten Nationen sind noch lange nicht tot. Aber für und über sie muss gestritten werden. Angesichts der jüngsten Ereignisse in Zukunft noch viel mehr.

Gerade die vermeintlich „kleinen“ Staaten, denen oftmals Macht und Handlungsfähigkeit abgesprochen werden, haben dabei gezeigt, dass sie nicht tatenlos zusehen werden, wenn sich die Großmächte über internationale Regeln hinwegsetzen. Sie haben sich als verlässliche Partner für die Verteidigung der regelgeleiteten Ordnung und der Prinzipien der Charta gezeigt. Die an den Mächtigen orientierten Strukturen der UN – allen voran des Sicherheitsrats – lassen diese Bemühungen allzu häufig diplomatisch verhallen. Das muss sich ändern. Unabhängig von der Unterstützung der lange überfälligen Reform des Sicherheitsrates sollte die deutsche Bundesregierung stärker in langfristige politische Partnerschaften mit diesen Ländern investieren, ihre Interessen ernst nehmen und ihre Bedeutung für eine regelbasierte Weltordnung anerkennen. Die „Zeitenwende“ verlangt auch eine neue Investition in Diplomatie. Denn die Ordnung von morgen wird ohne geteilte Werte nicht funktionieren.

Ben Christian

Ben Christian

Ben Christian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Programmbereich „Internationale Institutionen" an der HSFK. Er forscht zu internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, sowie zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit. // Ben Christian is a doctoral researcher at PRIF’s research department “International Institutions”. His research focuses on international organizations, especially the United Nations, as well as development cooperation. | Twitter: @_BenChristian
Antonia Witt
Dr. Antonia Witt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Forschungsgruppe „African Intervention Politics“ im Programmbereich „Glokale Verflechtungen“ der HSFK, wo sie zu afrikanischen Regionalorganisationen und zur Afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur forscht. // Dr. Antonia Witt is a Senior Researcher and Leader of the Research Group “African Intervention Politics” at PRIF’s Research Department “Glocal Junctions” where she is working on African regional organizations and the African Peace and Security Architecture.

Ben Christian

Ben Christian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Programmbereich „Internationale Institutionen" an der HSFK. Er forscht zu internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, sowie zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit. // Ben Christian is a doctoral researcher at PRIF’s research department “International Institutions”. His research focuses on international organizations, especially the United Nations, as well as development cooperation. | Twitter: @_BenChristian

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