Seit dem Abschluss des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerrilla Ende 2016 sind die Morde an sozialen Aktivist*innen deutlich angestiegen. Daran hat sich auch unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie nichts geändert. Häufig wird diese Gewalt allein auf die Präsenz bewaffneter, nichtstaatlicher Akteure und deren Kampf um die Kontrolle illegaler Ökonomien zurückgeführt. Sie hat aber zugleich eine dezidiert politische Seite und spiegelt konkret die Funktionsweise lokaler autoritärer Ordnungen in Kolumbien. Diese politische Logik anzuerkennen, ist wichtig, um Gegenstrategien zu entwickeln.
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Die exakten Zahlen sind umstritten, der Trend ist es nicht: Seit das historische Friedensabkommen zwischen dem kolumbianischen Staat und den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) Ende 2016 in Kraft getreten ist, ist die Gewalt an sozialen Aktivist*innen angestiegen. Nach Angaben des nichtstaatlichen Instituto de Estudios Para el Desarrollo y la Paz (INDEPAZ) sprang die Zahl der ermordeten Aktivist*innen von 132 (2016) auf 208 (2017). In den Jahren 2018 und 2019 wurden 298 bzw. 279, im laufenden Jahr (bis 21. Oktober) bereits 237 Aktivist*innen ermordet.
Wenn in Kolumbien von líderes y lideresas sociales die Rede ist, ist ein breites Spektrum nicht-staatlicher Akteure gemeint: Repräsentant*innen lokaler Bürgerkomitees (Juntas de Acción Comunal), indigener, afrokolumbianischer und bäuerlicher Verbände sowie sozialer Bewegungen und Organisationen, die sich z.B. für Menschenrechte, Landreform oder die Umwelt engagieren. Die Gewalt trifft also just diejenigen, die insbesondere auf lokaler Ebene für die Belange und Rechte benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen eintreten. Damit konterkarieren die Morde – und die Attacken und Drohungen gegen soziale Aktivist*innen im Allgemeinen – nicht nur grundsätzlich die Idee des Friedensprozesses, sie unterminieren auch ganz konkret die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016. In Ergänzung zur Demobilisierung und Reintegration der FARC sah dieses insbesondere eine Reihe sozialer und politischer Reformen vor, über die „von unten“, aus den vom Gewaltkonflikt betroffenen Regionen selbst und unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung ein dauerhafter Frieden aufgebaut werden sollte. Diejenigen, die sich vor Ort für die Umsetzung dieser Reformen engagieren, werden nun aber zum Ziel der Gewalt.
Das politische Gesicht der Gewalt
Auf der Suche nach Erklärungen für die Gewaltwelle gegen soziale Aktivist*innen betonen sowohl Regierung als auch zahlreiche Beobachter*innen die Bedeutung illegaler Ökonomien und nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen. In der Tat hat die Demobilisierung der FARC in einigen marginalisierten Regionen zur Expansion des Koka-Anbaus, der Kokain-Produktion und auch des illegalen Bergbaus geführt. Um die Kontrolle der entsprechenden Ressourcen und Territorien kämpft ein fragmentiertes Spektrum nichtstaatlicher Gewaltakteure, darunter die verbliebene ELN-Guerrilla (Ejército de Liberación Nacional), diverse Abspaltungen der FARC, die sich der Demobilisierung entzogen haben, verschiedene Nachfolgeorganisationen der seit 2006 offiziell aufgelösten Paramilitärs sowie schlicht kriminelle Banden. Für die illegalen Aktivitäten all dieser Gruppen stellen lokale Gemeinschaften und soziale Organisationen, die sich etwa für Landrechte oder alternative Entwicklungsstrategien engagieren, ein Hindernis dar.
Gemäß dieser Analyse besteht das Grundproblem in der prekären Präsenz des kolumbianischen Staates in der breiten Fläche des Landes. Offensichtlich ist der Staat nicht in der Lage, wirksam gegen kriminelle Strukturen vorzugehen und die eigene Bevölkerung zu schützen. Lösungsvorschläge konzentrieren sich dementsprechend darauf, bestehende Maßnahmen zum Schutz sozialer Anführer*innen (Schutzwesten, Bodyguards u.ä.) auszubauen, die Präsenz staatlicher Sicherheitskräfte in den betroffenen Regionen zu stärken sowie illegale Strukturen effektiver zu bekämpfen.
Diese Erklärung erfasst einen wichtigen Teil des Phänomens, und ein besserer staatlicher Schutz bedrohter sozialer Führungspersönlichkeiten ist ohne Zweifel angezeigt. Der alleinige Fokus auf die Bedeutung illegaler Akteure und Strukturen ignoriert allerdings die dezidiert politischen Ursachen hinter der Gewalt gegen Aktivist*innen. Betrachtet man die nichtstaatlichen Gewaltakteure als bloße Unternehmer der Illegalität, die Einnahmen aus kriminellen Geschäften maximieren, gerät aus dem Blick, dass diese Gruppen in vielen Fällen über enge Verbindungen zu lokalen Eliten verfügen und Bestandteil lokaler soziopolitischer Ordnungen sind. In einer aktuellen, spanischsprachigen Studie argumentieren wir, dass sich die Gewalt gegen soziale Aktivist*innen zumindest teilweise auf die Funktionsweise faktisch autoritärer lokaler Ordnungen zurückführen lässt. Die Morde an sozialen Aktivist*innen sind in diesem Sinne als genuin politisches Phänomen zu sehen: Lokale Eliten, die ihre Macht durch den Friedensprozess und die Mobilisierung (neuer) soziopolitischer Kräfte bedroht sehen, reagieren darauf mit gezielter Gewalt.
Gewaltakteure, Staat und lokale Ordnungsbildung
Dass Räume mit einer prekären oder selektiven Präsenz des Staates keine „unregierten“ Räume sind, ist mittlerweile breit anerkannt. Mit Blick auf den kolumbianischen Bürgerkrieg beispielsweise ist umfassend dokumentiert, wie Guerrilla-Organisationen und paramilitärische Gruppen lokale Ordnungen aufbauen, die Maßnahmen sozialer Kontrolle mit der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen verbinden. Das Verhältnis zum Staat ist dabei unterschiedlich, manchmal wird er vollständig ersetzt, teils zeigt sich aber auch eine (faktische) Arbeitsteilung und mitunter die direkte Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen und Repräsentant*innen auf lokaler Ebene.
Ähnliches konnte für kriminelle Gruppen gezeigt werden. Auch Banden und Mafia-Organisationen, die in Drogenhandel und andere illegale Geschäfte verstrickt sind, befassen sich mit zentralen Aufgaben des Regierens lokaler Gemeinschaften. Dabei pflegen sie häufig vielfältige, mitunter kooperative Beziehungen zu staatlichen Akteuren. Auf lokaler Ebene gehen die Beziehungen zwischen politischen und kriminellen Akteuren dabei über die für illegale Märkte charakteristischen Beziehungen von „Schutz“ und „Straflosigkeit“ hinaus: Lokale Politiker*innen bilden etwa Allianzen oder Abkommen mit kriminellen Gruppen und nutzen sie, um die Bevölkerung zu kontrollieren und mit Gewalt gegen politische Rivalen vorzugehen.
Lokaler kompetitiver Autoritarismus als Gewaltursache
Das, was heute als Problem einer „prekären Präsenz“ des kolumbianischen Staates in den peripheren Regionen des Landes beschrieben wird, hat seinen Ursprung in der Art und Weise, wie dieser Staat historisch entstanden ist. Im Kern delegierten der Zentralstaat bzw. die nationalen Eliten die soziale und politische Kontrolle marginalisierter Regionen an lokale Eliten. Bei der Kontrolle dieser Territorien, die zugleich mit dem Zugriff auf vielfältige Ressourcen (Land, staatliche Finanzen, illegale Ressourcen) einherging, spielen nichtstaatliche Gewaltakteure häufig bis heute eine wesentliche Rolle. In einigen Fällen wurden sie von lokalen Eliten begründet, in anderen Fällen arbeiten sie eng mit ihnen zusammen oder haben sich selbst zur lokalen Elite aufgeschwungen. In all diesen Kontexten dient die Gewaltanwendung „krimineller“ Gruppen mindestens zum Teil dem Ziel, lokale bzw. regionale Ordnungen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.
Im Ergebnis sind viele Gemeinden Kolumbiens durch eine Form politischer Ordnung gekennzeichnet, die sich im Anschluss an Steven Levitskys und Lucan Ways Studie über Competitive Authoritarianism als subnationaler kompetitiver Autoritarismus bezeichnen lässt. Formal funktioniert Politik in diesen Gemeinden gemäß demokratischer Spielregeln – diese werden in Kolumbien auf nationaler Ebene festgelegt und lassen sich von lokalen Eliten nicht ändern. Entsprechend existieren zivilgesellschaftliche Akteure, die für ihre Belange eintreten, und es werden Wahlen abgehalten, an denen oppositionelle Gruppen, einschließlich sozialer Führungspersonen, teilnehmen. Gleichzeitig aber wird der politische Wettbewerb und damit der Zugang zur politischen Macht faktisch systematisch eingeschränkt. Hierzu dienen insbesondere informelle Kontrollmechanismen wie Klientelismus, Kooptation und eben die Gewalt gegen politische Rivalen und gesellschaftliche Herausforderer – wobei Letztere an nichtstaatliche Gewaltakteure „ausgelagert“ wird.
Die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 bedroht diese lokalen Machtarrangements. Das Abkommen sieht eine Reihe von Maßnahmen vor (z.B. Landreform, partizipative Entwicklungsplanung), die die Machtbasis und Einnahmequellen lokaler Eliten gefährden. Zugleich hat der Friedensprozess der Mobilisierung diverser Bevölkerungsgruppen im Namen der versprochenen Reformen Auftrieb gegeben, die ihrerseits eine Bedrohung lokaler Machtstrukturen darstellt. Die Welle der Gewalt gegen soziale Aktivist*innen seit 2016 reflektiert in diesem Sinn die Bemühungen lokaler Eliten, kompetitiv-autoritäre lokale Ordnungen im Kontext des Friedensprozesses aufrechtzuerhalten.
Um den Ursachen der Gewalt gegen soziale Führungspersonen systematisch auf die Spur zu kommen, haben wir das Vorkommen und die Intensität (Häufigkeit) von Aktivist*innen-Morden in den rund 1.100 Gemeinden Kolumbiens seit 2016 statistisch analysiert. Die Ergebnisse, die wir hier nur in aller Kürze zusammenfassen können, bestätigen unsere Lesart, die den Zusammenhang von kriminellen Strukturen und politischen Dynamiken betont. So zeigt sich im Sinne der gängigen Interpretation der Gewalt als Ausdruck krimineller Strukturen und schwacher Präsenz des Staates, dass Gemeinden mit ausgeprägter Drogenökonomie (Indikator: Koka-Anbaufläche) und solche, in denen die Demobilisierung der FARC ein Machtvakuum hinterlassen hat (Indikator: FARC-Präsenz 2010-2016), besonders gewaltträchtig sind. Zugleich allerdings bestätigt eine Reihe von Indikatoren die politische Logik der Gewalt.
Die drei Grafiken veranschaulichen den statistischen Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit der Aktivist*innen-Morde und der Wahlbeteiligung, der Anzahl politisch relevanter Parteien und der Stärke linker Parteien auf lokaler Ebene. Informationen zu den Variablen und Details zur quantitativen Analyse finden sich in der ausführlichen Studie.
Als im Schnitt besonders gewaltträchtig erweisen sich erstens Gemeinden, die eine geringe Wahlbeteiligung aufweisen – eine Größe, die von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird, im kolumbianischen Kontext aber zumindest näherungsweise faktische Restriktionen politischer Partizipationsrechte signalisiert. Besonders betroffen sind zweitens Gemeinden, in denen eine geringe Zahl von Parteien effektiv um die Macht konkurriert – im parteipolitisch hochgradig fragmentierten Kolumbien ein Hinweis auf eingeschränkten Wettbewerb.
Drittens geht ein steigender Stimmenanteil linker Parteien mit mehr Gewalt gegen soziale Aktivist*innen einher. Aufgrund der Bedeutung sozialer Aktivist*innen für die lokale Präsenz linker Parteien verweist deren relative Stärke bei Wahlen auf die Existenz gesellschaftlicher Kräfte, die dominante Eliten herausfordern (Details zur hier grafisch dargestellten Datenanalyse finden sich in der ausführlichen FES-Studie der Autor*innen). Statistisch kommt es also insbesondere in jenen Gemeinden zur Ermordung sozialer Aktivist*innen, in denen politische Macht konzentriert und der politische Wettbewerb spürbar eingeschränkt ist, und/oder in denen die relative Stärke linker Parteien eine zumindest potenzielle Gefährdung lokaler Elitenherrschaft signalisiert.
Politische Implikationen
Versteht man die Morde an sozialen Aktivist*innen in Kolumbien als im Kern unpolitisches Problem krimineller Strukturen, bietet sich der Ruf nach „der Politik“ und „dem Staat“ als Lösung an. Insofern die gezielte Gewalt gegen soziale Führungspersonen zumindest auch in der Funktionsweise lokaler politischer Ordnungen begründet ist, müssen Maßnahmen, wollen sie nachhaltig wirken, diese genuin politische Dimension mit in den Blick nehmen. Der physische Schutz von sozialen Aktivist*innen muss dann ergänzt werden um Bemühungen um eine grundlegende Demokratisierung lokaler Räume.
Letztlich geht es um eine tiefgreifende Reform des politischen Systems auf subnationaler Ebene, die – ganz im Sinne des Friedensabkommens – in den marginalisierten Regionen Kolumbiens eine Ausweitung politischer Partizipation ermöglicht und etablierte Machtstrukturen zurückdrängt, die lokale Eliten mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren verbinden.
Referenzen und weiterführende Literatur
Dieses Spotlight stützt sich auf ein gemeinsames Forschungsvorhaben der Autor*innen, das vom Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) und dem Kolumbien-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FESCOL) unterstützt wurde. Es fasst Ergebnisse der Studie „La lógica política de los asesinatos de líderes sociales: Autoritarismo competitivo local y violencia en el posacuerdo“ (dt: Die politische Logik der Morde an sozialen Aktivist*innen: Lokaler kompetitiver Autoritarismus und Gewalt seit dem Friedensabkommen) zusammen, die als Analyse der FESCOL erschienen ist. Kostenloser Download unter: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/la-seguridad/16811.pdf