Eine Frankreichfahne mit Aufschrift „Ensemble pour la République“ der vereinigten Linken
Die vereinigte Linke verhinderte den Sieg der Rechtsextremisten. | Foto: Jeanne Menjoulet XY via flickr | CC BY 2.0 Attribution 2.0 Generic Deed

Von Frankreich lernen und mehr Demokratie wagen

Frankreich steckt in einer beispiellosen Regierungskrise, aus der wir lernen können. Die Abstrafung der Regierungsführung Macrons bei der Parlamentswahl zeigt: Wer den Anliegen der eigenen Wählerschaft zu wenig Respekt zollt und sich bei seiner Wiederwahl zu sehr auf die Dämonisierung des Gegners stützt, kann nicht damit rechnen, als Sieger hervorzugehen. Eine lebendige demokratische Kultur fürchtet die Wähler nicht, sondern nimmt ihr Votum als Ausgangspunkt für politisches Handeln und Verhandeln.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seinem dirigistischen Regierungsstil den gaullistischen Pakt der V. Republik gebrochen (Gori 2018; Fottorino 2018), welcher dem direkt gewählten Präsidenten weitreichende Befugnisse einräumt, damit er die volonté génerale des Volkes umsetzen kann. Die französische Verfassung gibt dem Amtsträger aufgrund seiner hohen Legitimation große Handlungsspielräume (François 2008). So soll garantiert werden, dass sich die Regierungspolitik nicht nach den Partikularinteressen politischer Fraktionen richtet, sondern den übergeordneten Interessen der Nation unterordnet. Unfähig, emotional Kontakt zur französischen Gesamtbevölkerung herzustellen und ihre Stimmung in die Regierungspolitik aufzunehmen, verprellte Emmanuel Macron jedoch vor allem jene Wählerschaft, die ihn nicht wegen seiner Agenda gewählt hatte, sondern weil er in ihren Augen das kleinere Übel war. Es gelang ihm daher nicht, aus der Mitte heraus zu regieren und darüber hinaus reichende Teile der Bevölkerung politisch einzuschließen (Raynaud 2021).

Die deutsche Politik leidet unter einem ähnlichen Verlust an „Legitimitätsglauben“ unter den Bürgern, wie es Max Weber nennen würde (Weber 1985). Trotz ordnungsgemäßer Verfahren nehmen die Anerkennung und Wertschätzung des politischen Systems ab. Die konstitutionellen Unterschiede (Marsch et al. 2015) zwischen dem auf Mehrheitswahlrecht basierenden französischen Präsidialsystem und dem deutschen Parlamentarismus nach Prinzip der Verhältniswahl  rücken angesichts der gemeinsamen Herausforderungen, vor denen die demokratische Kultur in beiden Ländern steht, in den Hintergrund. Auch hierzulande, wo ein starkes Parlament und der Zwang zur Koalitionsbildung dafür sorgen sollen, dass die Regierungsarbeit weite Teile der Bevölkerung berücksichtigt und im Wählerwillen verankert bleibt, ist die Politikverdrossenheit enorm, wovon vor allem die politische Rechte profitiert (siehe auch Mullis 2024).

Wahrnehmung eines abgehobenen und bürgerfernen Establishments

Während die Berliner Republik als Sinnbild für parteipolitischen Klientelismus in Verruf geraten ist, schäumt in Frankreich seit Jahren die Wut auf die Pariser Polit-Elite und ihre trans-aktionären Netzwerke. Macrons Mangel an Sensibilität für brisante politisch-soziale Entscheidungen hat das Land in den letzten Jahren immer wieder destabilisiert. Die von ihm angeordnete Erhöhung des Benzinpreises löste 2018 die „Gelbwesten“ Bewegung aus, die strengen Anordnungen seines Innenministers führten 2022 in Sainte-Soline zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen demonstrierenden Klimaaktivisten und Polizisten und verstärkten die Aufstände in den Banlieues. In Frankreich wie in Deutschland zeigen Studien, dass die Polarisierung wächst, der Zusammenhalt und die Identifikation als politische Gemeinschaft hingegen abnimmt. In beiden Ländern verfestigt sich die Wahrnehmung, dass das „Establishment“ abgehoben und losgelöst von den eigentlichen Bedürfnissen der Bevölkerung agiert (Pincon und Pincon-Charlot 2022).

Die Franzosen haben sich bei der Parlamentswahl am 7. Juli 2024 trotzdem klar dafür entschieden, den Rechtsextremisten die Pforten zur Macht nicht zu öffnen. Die Kräfte der „republikanischen Font“ setzten sich durch und verhinderten eine Mehrheit des „Rassemblement National“ (RN, zuvor „Front National“). Dies hat bereits seit 2002 Tradition: als Jean-Marie Le Pen sich gegen Jacques Chirac für den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl qualifizierte, verhinderte ein breites republikanisches Bündnis seinen Sieg. Die Besonderheit am jüngsten Wahlergebnis liegt in der Einigung der seit Jahren zerstrittenen Linken. Eine politische Sensation, mit der niemand gerechnet hatte. Sie böte Anlass dafür, dass sich Analysten, die sich des Durchmarsches des RN sicher waren, ihre Verunsicherung eingestehen und künftig demütiger auf demokratische Prozesse blicken, in Deutschland wie in Frankreich.

Denn die französischen Wähler*innen wiesen nicht nur die extremen Rechten in die Schranken. Sie verwehrten sich auch erfolgreich dagegen, von ihrem Präsidenten machtpolitisch instrumentalisiert zu werden. Vergebens wiederholte Macron, was ihm bei seiner Wiederwahl und den letzten Wahlen zur Assemblée Nationale in 2022 geglückt ist. Sein abermaliger Versuch, nach der Europawahl die eigene Macht zu sichern, indem er das französische Volk mit der sonst drohenden Machtübernahme durch die extreme Rechte erpresst, scheiterte. Es ist ein demokratisches Lehrstück, das auch in Deutschland mehr Beachtung verdiente. Denn auch hier setzt man zur Abwehr des Rechtsrucks vor allem auf Diskreditierung und Angsteinflößung. Doch diese Masche zieht nicht mehr.

Auch Außen- und Sicherheitspolitik spielten im Wahlkampf keine Rolle. Stattdessen sorgen sich die Bürger über die schwindende Kaufkraft, chaotische Migration und fragile Sicherheit. Es sind ähnliche politische Themen, die auch in Deutschland in Umfragen hohe Werte erzielen. Macron hat auch verloren, weil ihm sein Ablenkungsmanöver, Russland als Frankreich existentiell bedrohenden äußeren Feind darzustellen, dem nur er durch die Forderung nach Bodentruppen in der Ukraine mit der gebotenen Vehemenz entgegentritt, nicht abgekauft wurde. Auch die Warnung vor den „extremen“ politischen Lagern als innere Feinde und vor einem Bürgerkrieg in Frankreich verfing nicht. In Deutschland versuchte es die Kanzlerpartei bei der Europawahl ebenfalls mit außenpolitischen Themen, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Vergebens profilierte sich die SPD als Friedenspartei, die einen kühlen Kopf bewahrt. Doch wer die heißen Eisen der Innenpolitik nicht anpackt, kann die hochgekochten Gemüter der Wähler nicht abkühlen.

Chance für Neuanfang mit Pragmatismus und Kompromissbereitschaft nutzen

Die französischen Parlamentswahlen haben außerdem demonstriert, wie wichtig Pragmatismus und Einigkeit sind, um breitere Unterstützung unter den Wählern zu finden. Die unvorhergesehene Geschlossenheit der Linken und Emanzipation von Teilen des Macron-Lagers „Ensemble pour la République“ machten dem Präsidenten und dem sich schon siegend wähnenden „Rassemblement National“ einen Strich durch die Rechnung. Vor allem dank jener Kandidaten aus dem „Nouveau Front Populaire“ und dem Camp von „Ensemble“, die zur Verbesserung der Erfolgsaussichten ihrer demokratischen Mitstreiter im zweiten Wahlgang auf ihre eigene Kandidatur verzichteten. Die Franzosen belohnten diesen Pragmatismus und staatsbürgerlichen Anstand mit einer historisch hohen Wahlbeteiligung und einem unmissverständlichen Bekenntnis zur Demokratie. Zugleich statteten sie keines der drei großen Lager (sozialistisch-grün, liberal, rechtsextrem) mit einer absoluten Mehrheit aus. Die Bedenkenträger und Nörglerinnen in Deutschland und Frankreich können mit dieser Offenheit wenig anfangen. Ungeachtet ihrer Fehlprognosen sehen sie sich bestätigt und versorgen die Öffentlichkeit mit weiteren Warnungen vor Labilität und Paralyse.

Ohne die französische Revolution wäre es in Deutschland weder zur Mainzer Republik, noch zum Hambacher Fest oder zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gekommen. Vergegenwärtigt man sich, wie entscheidend Impulse aus Frankreich für die deutsche Demokratiegeschichte waren, erkennt man in der teutonischen Aufregung über „chaotische“ französische Verhältnisse (in Bezug auf die dort üblichen Streiks und Demonstrationen, oder eben die jüngsten Parlamentswahlen) die ihr innenwohnende Verachtung für jene Praktiken des politischen Streits und Protests, die als störend empfunden werden, aber nun einmal zur Demokratie gehören. Statt zu ergründen, welche Lektionen aus den jüngsten politischen Entwicklungen in Frankreich für uns gezogen werden können, sieht man die Franzosen auf der Schulbank sitzen, um Koalitionsbildung zu pauken, am besten nach deutschem Vorbild. Nur wenige ordneten die Ereignisse in den größeren Kontext plebiszitärer Tradition der V. Republik ein und erkennen die darin liegende Stärke an, in richtungsweisenden Fragen das Wahlvolk zu konsultieren, auch wenn dieses die Karten neu mischt.

Diese Chance des Neuanfangs muss nun von allen Parteien genutzt werden. Kaum waren die Stimmen ausgezählt, brach zunächst Streit um die Führungsrollen im linken Wahlbündnis aus. Inzwischen hat es seine Ankündigung eingelöst, sich auf eine gemeinsame Premier-Kandidatin zu einigen und Lucie Castets vorgeschlagen. Es ist nun an Emmanuel Macron, der den Demos zum Votum aufgefordert hat, dessen Ausgang zu respektieren und Zugeständnisse zu machen. Denn eine demokratische Haltung beinhaltet auch, sich trotz Interessensunterschieden und Konflikten auf eine politische Zusammenarbeit einzulassen, gerade wenn dies von Wähler*innen eingefordert wird. Durch integrative Verhandlungen und Kompromisse können sie sogar in eine produktive politische Entscheidungsfindung umgemünzt werden, die sich auf eine breite Basis berufen kann.

Die von Macron angeordnete Auflösung der Nationalversammlung war zweifellos Teil eines politischen Kalküls. Trotzdem handelt es sich um eine fundamental demokratische Handlung. Auch in Deutschland sollten politische Repräsentanten keine Angst vor dem Wahlvolk haben und schon gar nicht versuchen, die Demokratie zu retten, indem sie ihm Angst einflößen. Der Blick nach Frankreich offenbart: Mehr Demokratie wagen lohnt sich. Die französischen Wählerinnen und Wähler geben ihren Vertreter*innen die Chance, ihre Sorgen und Nöte politisch zu adressieren und neue Lösungen auszuhandeln. Sollte dies scheitern, liegt es nicht an ihnen, sondern an der fehlenden Kompetenz ihrer Vertreter*innen, politische Konflikte durch demokratische Kompromisse produktiv zu bearbeiten.

Bei diesem Text handelt es sich um die erweiterte Version eines Artikels, der zuerst am 29. Juli 2024 als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau erschienen ist.

Sascha Hach

Sascha Hach

Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF und arbeitet zu Europäischer Sicherheit, Rüstungskontrolle und Vereinte Nationen. Er ist Teil der Forschungsgruppe „PATTERN“ sowie der „Arms Control Negotioation Academy (ACONA)“. // Sascha Hach is a researcher at PRIF and his interests include European Security, arms control and the United Nations. He is part of the research group “PATTERN” and the “Arms Control Negotiation Academy (ACONA)”.
Celia Burgdorff

Celia Burgdorff

Dr. Celia Burgdorff ist Deutsch-Französin, studierte in Paris und München und war im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Deutschen Historischen Institut (DHI) Paris beschäftigt. Seit 2023 ist sie Associate Fellow des französischen Think Tanks „Fondation pour la recherche stratégique (FRS)“. // Dr Celia Burgdorff is Franco-German, studied in Paris and Munich and worked at the German Historical Institute (DHI) Paris as part of her doctoral thesis. She has been an Associate Fellow of the French think tank “Fondation pour la recherche stratégique (FRS)” since 2023.
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Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF und arbeitet zu Europäischer Sicherheit, Rüstungskontrolle und Vereinte Nationen. Er ist Teil der Forschungsgruppe „PATTERN“ sowie der „Arms Control Negotioation Academy (ACONA)“. // Sascha Hach is a researcher at PRIF and his interests include European Security, arms control and the United Nations. He is part of the research group “PATTERN” and the “Arms Control Negotiation Academy (ACONA)”.

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