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Zwischen diffusen Motivlagen und mentaler Gesundheit – Die Debatten nach den jüngsten Anschlagsereignissen

30. Oktober 2025

Nach den Gewalttaten in Aschaffenburg (2025), Mannheim (2025) und Magdeburg (2024) kreiste die öffentliche Debatte vermehrt um die unklare Motivlage und die mentale Gesundheit der Täter. In allen drei Fällen war kein eindeutiges Motiv, wohl aber eine psychische Erkrankung von den ermittelnden Sicherheitsbehörden festgestellt worden. Aus der Politik gab es daraufhin mehrere Vorstöße zur sicherheitsbehördlichen Erfassung von Menschen in psychiatrischer Behandlung und einer Erweiterung der „Gefährder“-Kategorien. In der Forschung werden schwer kategorisierbare Erscheinungsformen extremistischer Gewalt und die Rolle mentaler Gesundheit schon seit einigen Jahren diskutiert. Die jüngsten Verschränkungen von mentaler Gesundheit und Gefahr greifen jedoch zu kurz. 

In den letzten drei Jahren kam es zu einer Häufung öffentlicher Gewalttaten in Deutschland – inwiefern sie extremistisch motiviert waren, war nicht immer eindeutig. Während einige Taten, wie der Anschlag auf ein Stadtfest in Solingen 2023, einem Phänomenbereich (hier: islamistischer Terrorismus) zugeordnet werden konnten, ließen sich andere, wie etwa die Tat von Magdeburg 2024, schwieriger in bekannte Schemata einordnen. Hinzu kam, dass unklar war, welche Rolle die mentale Gesundheit der Täter*innen spielte.  

Unklare Motivlagen, mentale Gesundheit und die Rolle der Sicherheitsbehörden

Die Politik reagierte darauf mit unterschiedlichen Vorstößen, in denen die Faktoren Motivlage und psychische Gesundheit in Zusammenhang gebracht und ein repressives Vorgehen gefordert wurde. So wurde etwa aus der Unionsfraktion nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg die sicherheitsbehördliche Erfassung psychisch erkrankter Gewalttäter und in diesem Zuge eine neue „Gefährder“-Kategorie gefordert. Auch die Innenministerkonferenz forderte in diesem Jahr ein „Integriertes Risikomanagement bei Menschen mit psychischen Erkrankungen“. Die hessische Landesregierung geriet zuletzt unter Druck, nachdem sie einen umstrittenen Gesetzentwurf in den Landtag einbrachte, der das hessische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes (PsychKHG) um eine Vorschrift zur Weitergabe von Daten aus Psychiatrien an Sicherheitsbehörden ergänzen soll. Die Maßnahme sei ein notwendiger Beitrag zum „Schutz der betroffenen Menschen und der Gemeinschaft“. Kritik an derartigen Vorstößen kam sowohl aus der breiten Bevölkerung als auch aus der fachlichen Praxis. Man würde durch solche Maßnahmen „erkrankte Menschen stigmatisieren und die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen wirksame Behandlung suchen, reduzieren“, so die Bundes-Psychotherapeuten-Kammer. Auch in der Anhörung des gesundheits- und familienpolitischen Ausschusses im hessischen Landtag zur geplanten Änderung des PsychKHG überwog die Kritik an der anvisierten Meldepflicht.    

Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese Vorgänge insofern interessant, als dass sich in ihnen bestehende, aber zunächst getrennte Debatten aus dem Feld der Extremismusforschung spiegeln. Im Zentrum stehen unter anderem Fragen zur Klassifizierung von Anschlagsmotiven und „Gefährdern“, zum Einbezug mentaler Gesundheit sowie zu Zuständigkeiten und den Grenzen (präventiver) Maßnahmen. Besonders zwei Aspekte sollen hier genauer betrachtet werden: Die Verknüpfung von psychiatrischer Versorgung und Gefahrenabwehr sowie die Erweiterung des bereits ambivalenten Begriffs „Gefährder“.  

Einerseits: Mentale Gesundheit, Gewalt und sicherheitsbehördliche Logiken

Nach Anschlagsereignissen wird in öffentlichen Diskursen neben der Ideologie und der zugeschriebenen Herkunft von Täter*innen oft auch deren mentale Gesundheit thematisiert. Daneben spielt das Thema auch für die Strafverfolgungsbehörden bei der Ermittlung der Motivlage und der Bewertung der Tat eine Rolle – was zugleich ihre Einordnung erschweren kann. In der Forschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass sich politisch motivierte Gewalt nicht durch einen einzelnen Faktor erklären lässt. Wege in die Gewalt verlaufen komplex und vielschichtig, die mentale Gesundheit kann dabei eine von vielen Komponenten sein. Besonders bei öffentlichen Gewalttaten wird deutlich, wie eng Gesellschaft, Politik, Weltbilder und Psyche miteinander verflochten sind. 

Diese Vielschichtigkeit von Radikalisierungsverläufen spielt für die sicherheitsbehördliche Arbeit wiederum eine nachgeordnete Rolle. Sicherheitsbehörden sind darum bemüht, Taten einer bekannten Kategorie mit Hinblick auf Tatbestand und Phänomenbereich zuzuordnen. Im Vordergrund steht der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Das unterscheidet sich von den Zielsetzungen der psychologischen Versorgung. Dort steht der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung im Zentrum, die durch Vertrauen und Wertschätzung gekennzeichnet ist. Psychotherapeut*innen wie auch Psychiater*innen sind zunächst der Gesundheit ihres/ihrer Patient*in verbunden und unterliegen dabei der Schweigepflicht (§203 StGB, § 11 Abs. 1 BO-H). Die Verschwiegenheit steht jedoch unter dem Vorbehalt der Sicherheit des/der Patient*in sowie dritter Personen. Insofern sind Therapeut*innen und Psychiater*innen verpflichtet, geplante Straftaten oder andere Gefahren für höherwertige Rechtsgüter zu offenbaren (§ 138 ff. StGB, §11 Abs. 2 BO-H). Dieser Sicherheitsmechanismus ist in der Praxis psychosozialer Versorgung bereits fest verankert.  

Psychiater*innen mit Aufgaben der repressiven Gefahrenabwehr zu betrauen oder Sicherheitsbehörden Zugriff im Bereich der Versorgung zu erteilen, droht die Prinzipien psychiatrischer und psychotherapeutischer Arbeit zu unterlaufen.
Internationale wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass eine solche Versicherheitlichung von psychischer Gesundheit den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen erschweren und Hemmnisse beim Aufsuchen psychotherapeutischer Hilfe hervorrufen kann. In Deutschland fehlen zudem vielerorts bereits jetzt Ressourcen und Kapazitäten, um eine umfassende psychotherapeutische Betreuung zu leisten. Statt psychosoziale und psychiatrische Versorgungskapazitäten und Zugänge im Sinne der Prävention und Intervention auszubauen, würden die angesprochenen Vorstöße jedoch auf sicherheitsbehördliche Logiken setzen und die Gefahrenabwehr erweitern.  

Andererseits: Unklare Motivlagen, „Gefährder“ und neue Kategorien

Der zweite Aspekt, der in den hier betrachteten Debatten zum Tragen kommt, ist die sicherheitsbehördliche Kategorisierung von Anschlagsereignissen. Im Fall des Magdeburger Täters lag den Ermittler*innen zufolge keine klare Motivlage vor, die eine Einordnung der Tat in das etablierte Spektrum politischer Gewalt ermöglicht hätte. Zwar fanden sich extremistische und verschwörungstheoretische Bruchstücke in Äußerungen des Täters; daraus konnten die ermittelnden Sicherheitsbehörden jedoch keine eindeutige ideologische Zuordnung treffen. Die Generalbundesanwaltschaft stufte die Tat zudem nicht als terroristisch ein. In Teilen der Wissenschaft wird dem Täter unterdessen eine rechtsextreme Ideologie zugeschrieben. 

Weltweit fallen immer mehr politische Gewalttaten aus dem traditionellen Raster extremistischer Phänomenbereiche. Das Bundeskriminalamt (BKA) verzeichnete etwa in den jüngsten Fallzahlen zur politisch motivierten Kriminalität mehr als ein Viertel des Straftatenaufkommens in der Kategorie „sonstige Zuordnung“. Die starren Kategorien rechtsextrem, linksextrem und religiös motiviert zur Einordnung politisch motivierter Straftaten werden schon länger kritisiert. Hinzu kommt eine zunehmende „Hybridisierung“ ideologischer Versatzstücke. Täter*innen beziehungsweise ihre Weltbilder sind nicht dem einen Phänomenbereich zuzuordnen und verbinden unterschiedliche ideologische Fragmente. Eine einheitliche Bezeichnung für derartige Phänomene gibt es (noch) nicht, auch weil ihre Ausprägungen so unterschiedlich sind. Während einige Autor*innen von einem so genannten „Salatbar-Extremismus“ sprechen, stellen andere verbindende Elemente wie anti-feministische und anti-semitische Narrative oder die Kritik von Staatlichkeit heraus. Wieder andere Beiträge betonen die Rolle von Verschwörungserzählungen oder digitaler Sub- und Hass-Kulturen in diesen Kontexten. Diese Entwicklungen stellen vielerorts auch die Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden vor neue Herausforderungen. In Großbritannien etwa ist die nationale Anti-Terrorismus-Strategie um die Kategorie „mixed, unclear, unstable“ ergänzt worden und in Deutschland hat der Verfassungsschutz die Klassifizierung „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ in seine Systematik aufgenommen. Da derartige Kategorisierungsversuche allerdings eher diffus sind, gleichzeitig jedoch staatliche Eingriffsmöglichkeiten erweitern, geraten sie oft in Kritik 

Ähnlich verhält es sich bei dem Begriff „Gefährder“, der auch in den Debatten nach dem Anschlag in Magdeburg häufig auftauchte. Er hat im deutschen Anti-Terror-Diskurs und der sicherheitsbehördlichen Praxis seit Beginn der 2000er Jahre immer mehr Prominenz erlangt, ist jedoch weiterhin nicht gesetzlich definiert. Diese Ambivalenz und die weitreichenden staatlichen Handlungsspielräume, die mit der Einstufung als „Gefährder“ einhergehen, sorgen dafür, dass Begriff in der Wissenschaft umstritten ist. Die Arbeitsdefinition der Sicherheitsbehörden spricht von Personen, bei denen „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung“ begehen werden. Anders als bei Straftäter*innen liegt also noch keine Rechtsgutsverletzung vor, sondern nur die Prognose einer zukünftigen Straftat. Im politischen Diskurs wurde der Begriff jedoch oft wie eine Gewissheit verwendet und insbesondere mit dem Gefahrenbild islamistischer Terrorismus verbunden. Nun eine weitere Gefährder-Kategorie einzuführen, die weniger an den extremistischen Verflechtungen, sondern an der psychischen Gesundheit einer Person ansetzt, würde den Begriff zusätzlich überdehnen und ihn für politische Vereinnahmungen anfällig machen.  

Notwendige Differenzierungen und Reaktionen mit Weitsicht

Nach den jüngsten Anschlagsereignissen wurden in den politischen Debatten in Deutschland unterschiedliche Problem-Dimensionen vermischt: die Hybridisierung extremistischer Phänomene und die Rolle mentaler Gesundheit im Kontext von Gewalttaten. Werden diese Aspekte verkürzend miteinander verknüpft, führt dies zu einer problematischen Vereinfachung der Ursachenanalyse und verkennt die Komplexität von Radikalisierungsverläufen einer- und psychischer Gesundheit andererseits. Die Einführung neuer, unscharfer Kategorien trägt dazu bei, dass die Grenzen zwischen psychosozialer Versorgung und sicherheitsbehördlicher Repression weiter verschwimmen. Der Druck auf die Politik nach Anschlagsereignissen ist groß und der Wunsch nach öffentlicher Sicherheit verständlich, Erweiterungen sicherheitsbehördlicher Kompetenzen sind jedoch kein Allheilmittel. Vorschnelle Forderungen nach derartigen Kompetenzerweiterungen unterschlagen die Vielschichtigkeit der Ursachen von politischen Gewalttaten und haben schlimmstenfalls stigmatisierende Effekte. Um Sicherheitslücken zu schließen, ist es vielmehr notwendig, die psychosoziale Betreuungssituation zu verbessern und psychotherapeutische Präventionsansätze zu stärken.   

Autor*in(nen)

Isabelle Stephanblome

Isabelle Stephanblome

Isabelle Stephanblome ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der Forschungsgruppe Radikalisierung, Terrorismus und Extremismusprävention am PRIF. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Themen wehrhafte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und dem Umgang mit Unsicherheit. // Isabelle Stephanblome is a Doctoral Researcher in the Research Group Radicalization, Terrorism and Extremism-Prevention at PRIF. Her research focuses on the topics of militant democracy, the rule of law and coping with insecurity. | Bluesky: @isabelleste.bsky.social
Laura Stritzke

Laura Stritzke

Laura Stritzke ist Doktorandin in der Forschungs­gruppe Radikali­sierung, Terrorismus und Extremismus­prävention am PRIF und Teil des Marie-Skło­dowska-Curie-Pro­motions­netzwerks VORTEX. Ihr besonderes Inte­resse gilt den Themen Frieden und Konflikt, sozialer Zusammen­halt und Emo­tionen. // Laura Stritzke is a Doctoral Researcher within the Research Group Radicali­zation, Terrorism, and Extre­mism Prevention at PRIF and part of the Marie Skło­dowska-Curie Actions Doctoral Net­work VORTEX. She is particularly interested in peace and conflict, social cohesion, and emotions.