Mit dem Eintritt der radikal-nationalistischen MHP in die türkische Regierung könnte sich die feindliche Stimmung gegen die christlichen Minderheiten im Lande noch verstärken. Gleichzeitig erzielte mit der pro-kurdischen HDP eine Partei beachtliche Ergebnisse, die sich explizit mit ihrem Programm und auch ihren Kandidat/innen für mehr Rechte der verschiedenen christlichen Gruppierungen einsetzt.
Entgegen vieler Prophezeiungen feierte das nationale Koalitionsbündnis zwischen der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) und der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) in den türkischen Parlamentswahlen vom 24.06.2018 einen deutlichen Sieg. Dabei tritt die AKP das erste Mal seit ihrem Machtantritt im Jahre 2002 in eine politische Partnerschaft. Das Bündnis mit der rechtsradikalen MHP verstärkt die nationalistische Ausrichtung der türkischen Regierung. Damit erlebt die Türkei eine Wiederbelebung der „Türkisch-Islamischen Synthese“, die im kollektiven Gedächtnis stark mit der Militärdiktatur der 1980er Jahre verbunden ist. Nichtsdestotrotz konnte auch die pro-kurdische Halkların Demokratik Partisi (HDP) einen Achtungserfolg einfahren und in das türkische hohe Haus einziehen. Im Gegensatz zu ihren Kontrahenten, widmet sich die Partei programmatisch den Anliegen von religiösen wie ethnischen Minderheiten in der Türkei und schickte auch selbst einige Vertreter dieser Gruppen ins Rennen um Sitze im Parlament. Gerade für die Angehörigen nicht-muslimischer Minderheiten spielen die Ergebnisse der Wahlen eine zentrale Rolle, da sie teils ohne konstitutionell verankerte Minderheitenrechte besonders leicht unter die Räder des zunehmend türkisch-nationalistischen Autoritarismus unter Recep Tayyip Erdoğan und seinen neuen Bündnispartnern geraten könnten.
Der türkische Nationalismus und seine Auswirkungen auf christliche Minderheiten in der Türkei
Christliche Minderheiten stellen in der Türkei nach den Aleviten die größte religiöse Minderheit dar. Schätzungen zufolge leben in der heutigen Türkei noch ca. 60.000 Armenier, 25.000 syrisch-orthodoxe (Suryoye), 3.000 Chaldäer und 2.000 griechische Christen. Auch nach den Massakern von 1915 erfuhren sie in der türkischen Republik Gewalt und Ausgrenzung. Selbst im säkular ausgerichteten System Mustafa Kemal Atatürks fanden die christlichen Konfessionen keinen Platz im türkischen Nationalgedanken. Vielmehr wurden die türkischen Christen stets als „einheimische Ausländer“ angesehen. Eine Folge dieser Exklusion aus der imaginierten Volksgemeinschaft war die konstant anhaltende Abwanderung von Christen aus der Türkei, insbesondere der syrisch-orthodoxen Christen aus dem Südosten des Landes. Anders als Armenier und Griechen kamen sie nie in den Genuss von konstitutionellen Minderheitsrechten.
Erdoğan dagegen galt in seiner frühen Regierungszeit als Hoffnungsträger nicht nur für religiöse Minderheiten wie die christlichen Gemeinschaften, sondern etwa auch unter Kurden: Suryoye, welche mehrheitlich in der Diaspora verstreut leben, versprachen sich durch die von der AKP in Aussicht gestellte Beilegung des Kurdenkonfliktes eine Rückkehr in ihre Heimat im Tur Abdin; Die armenische Community nahm erfreut wahr, dass es regelmäßige Kondolenzen Erdoğans zu den Jahrestagen der Massaker von 1915 gab.
Die AKP sendet selbst seit den Parlamentswahlen 2015 auch einen armenischen Kandidaten, Markar Esayan, in die türkische Nationalversammlung. Auch wenn dies von hoher symbolischer Bedeutung für die Armenier sein mag, belegt aber gerade die Amtszeit Esayans als Parlamentarier die Bedeutungsleere der AKP-Politik für die christlichen Minderheiten. Esayan, der als „christliches Feigenblatt“ für seine Partei zu dienen scheint, konnte, wie auch die AKP allgemein, in der Vergangenheit nur wenig des Versprochenen umsetzen.
Seit den Wahlen im Frühjahr 2015 und der ersten Annäherung zwischen AKP und MHP finden sich gerade die Christen als Verlierer der zunehmenden religiös aufgeladenen Identitätspolitik der herrschenden AKP wieder. Nicht zuletzt nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahre 2016 und der danach einsetzenden Verfolgung der Gülen-Bewegung, wurden Christen als vermeintliche Unterstützer des misslungenen Coup d’etats zur Zielscheibe der AKP, aber auch des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli und seiner MHP. Der nun endgültig vollzogene Schulterschluss zwischen den Parteien wird diese feindliche Haltung weiter festigen. Da der Islam aus Sicht der AKP-Führung und vieler MHP-Anhänger ein fundamentaler Pfeiler der türkischen Nationalität ist, gewinnt das Narrativ von den Christen als „einheimische Ausländer“ im „nationalen Bündnis“ erneut an Relevanz. Diese radikale Ideologie wird Erdoğans AKP weiter bedienen, um im Parlament eine regierungsfähige Mehrheit zu behalten. Für die christlichen Minderheiten der Türkei lässt diese Konstellation daher eine fortschreitende Marginalisierung befürchten.
Die HDP und ihre Vision der ethnischen wie religiösen Vielfalt
Trotz aller Unterdrückungsversuche und nicht zuletzt der Inhaftierung ihres Spitzenkandidatens Selahattin Demirtaş, erreichte die HDP mit 11,7% einen respektablen Erfolg in den Parlamentswahlen. Die linksgerichtete HDP definiert sich nicht wie ihre Vorgängerpartei die Barış ve Demokrasi Partisi (BDP) als demokratischer Arm der Bewegung der kurdischen Minderheit, sondern als Vertreterin aller ethnischer wie religiöser Minderheiten der Türkei. Mit ihrem Parteiprogramm liefert die Oppositionspartei eine alternative Vision für die ethnische wie religiöse plurale Gesellschaft der Türkei und agiert damit als stärkstes und einziges parlamentarischer Gegengewicht zum dominierenden exklusivistischen türkischen Nationalismus. Die Hinwendung der HDP zu den christlichen Minderheiten äußert sich insbesondere dadurch, dass sie christliche Kandidatinnen und Kandidaten aus armenischen und syrisch-orthodoxen Kreisen nominierte, denen die Rechte von Minderheiten ein politisches Anliegen sind.
Für die Suryoye schickte die HDP im Wahlkreis Mardin Tuma Çelik ins Rennen. Am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Heilbronn kritisierte Çelik deutlich den Umgang der Regierung mit der christlichen Minderheit: „Seit die AKP an der Macht ist, hat [die] Ungerechtigkeit gegen die syrischen Christen immer weiter zugenommen. […] Es zeigt sich, dass die Regierung auch heute noch jede Möglichkeit nutzt, Christen in der Türkei zu enteignen.“ Dass die HDP mit der Nominierung Çeliks einen in der Schweiz ansässigen Kandidaten ausgewählt hat, lässt vermuten, dass die Partei weniger auf die wenigen tausend verbliebenen Suryoye innerhalb der Türkei schielt, sondern auf die ca. 200.000 Wahlberechtigten in der Diaspora. Zwar gelang Çelik am 24.6. der Einzug ins türkische Parlament. Dies lag jedoch mehr an seiner guten Listenplatzierung als an einer sonderlichen Popularität der HDP unter den Suryoye. Einem Insider aus der Community zufolge gelten weite Teile der Suryoye als eher politikverdrossen.
Als erster armenischer Repräsentant in der HDP tritt das Gründungsmitglied der Partei, Garo Paylan auf. Paylan, dem die Wiederwahl gelang, ist anders als sein armenischer AKP-Kontrahent Markar Esayan, ein vehementer Verfechter armenischer Minderheitenrechte und der Anerkennung des Genozids an den Armeniern. Dass er das Thema im April 2018 offen im türkischen Parlament ansprach und eine Anerkennung durch das hohe Haus forderte, verschaffte ihm unter den Armeniern Sympathien. Die türkische Justiz hingegen drohte bereits mit dem berüchtigten Paragraphen 301 (Beleidigung des Türkentums) und dem Entzug seiner parlamentarischen Immunität.
Die starke Vertretung der HDP im türkischen Parlament kann als Hoffnungsschimmer für die christlichen Minderheiten der Türkei bewertet werden. Die Partei spiegelt selbst einen Teil der ethnischen wie religiösen Vielfalt der türkischen Gesellschaft wider und gibt Minderheiten damit eine politische Stimme. Mit dem wiederholten Überspringen der 10% Hürde gelang es der HDP überdies, einen noch stärkeren parlamentarischen Block des „nationalen Bündnisses“ zu verhindern. Nichtsdestotrotz führt die starke Repräsentanz der MHP in der neuen Regierung vermutlich zu einer Verschlechterung der Situation der christlichen Minderheiten. Unter einer Regierung, welche Nichtmuslime aus ihrem Verständnis des Türkentums ausschließt, wird deren Außenseiterrolle voraussichtlich verstärkt; zumal da das auf Erdoğan zugeschnittene Präsidialsystem die Hoffnungen auf funktionierende demokratische Strukturen in der Türkei weiter schwinden lässt.
Auch wenn die türkischen Christen nur einen sehr geringen Teil der türkischen Gesellschaft ausmachen, kann ihre Situation als Indikator für den staatlichen Umgang mit Pluralität gewertet werden. Schon jetzt treffen staatliche Repression und der konzeptionelle Ausschluss vom Türkentum nicht nur die türkischen Christen, sondern auch die ethnischen Kurden, weitere religiöse Minderheiten wie die Aleviten, Juden oder Jesiden, aber auch die LGBT-Bewegung.