New Presidential Compound in Ankara, AOÇ (Beştepe)
New Presidential Compound in Ankara, AOÇ (Beştepe) | Photo: Ex13 | CC BY-SA 4.0

Das Ende der Türkei, wie wir sie kannten?

Die zweite Amtszeit Recep Tayyip Erdoğans als türkischer Präsident und die gleichzeitige Ausweitung der präsidialen Regierungsbefugnisse bedeutet das vorläufige Ende des parlamentarischen Systems der Türkei. Die folgenreiche Transformation erfolgte auf der Grundlage eines Referendums im April 2017 und der auf den Juni 2018 vorgezogenen Wahlen. –  Wie ist zu erklären, dass eine Mehrheit für die Abschaffung von parlamentarischen Kontrollen und Rechten votierte und mit dem „nationalen Bündnis“ eine Ideologie stärkte, welche gesellschaftliche Spaltungen noch vertiefen wird? Neben den vorausgegangenen Einschränkungen des politischen Wettbewerbs und der als Alternative nicht überzeugenden Oppositionsallianz dürfte die ungebrochene Dominanz anderer als freiheitlicher Werte dazu beigetragen haben.

Binnen gerade mal zwei Jahren seit dem niedergeschlagenen Putschversuch ist Recep Tayyip Erdoğan der Umbau des türkischen Regierungssystems zu einem auf seine Person zugeschnittenen Präsidialsystem gelungen. Er ernennt fortan die Minister, die Mitglieder des Staatskontrollrates, die Mehrheit der Mitglieder des Verfassungsgerichts, das u. a. seine Präsidialverordnungen auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen hat, und kann gegen Gesetze der Großen Nationalversammlung ein Veto einlegen – das wiederum die Parlamentarier nur mit einer 3/5-Mehrheit aushebeln können. Dass genau diese Zentralisierung der Regierungsmacht in den vergangenen Jahren zu seiner politischen Zielvision geworden war, verbarg Erdoğan nicht. Und seine Äußerung im Juli 2016, der Umsturzversuch sei ein „Geschenk Gottes“, ließ ebenso unmissverständlich erkennen, dass der prompt verhängte Ausnahmezustand genutzt werden würde, um politische Gegner einzuschüchtern und kalt zu stellen.

Alle Gewalt geht vom Präsidenten aus

In den zwei Jahren, die auf den versuchten Umsturz vom Sommer 2016 folgten, wurde in der Türkei der Notstand sieben Mal im Vierteljahrestakt verlängert, gut 150 Medienanstalten wurden geschlossen, Zehntausende – darunter auch zahlreiche ausländische Staatsangehörige – wegen teils hanebüchener Anschuldigungen als Terrorverdächtige inhaftiert, aus dem Staatsdienst entlassen, um ihre alltäglichen Existenzgrundlagen gebracht und sogar vollständig enteignet. Die Einschränkung von Bürgerrechten und Pressefreiheit führte zudem 2017 und 2018 zu einer gravierenden Benachteiligung oppositioneller Kräfte im Wahlkampf. Zwar wurde der Ausnahmezustand jüngst beendet. Die Säuberungen im öffentlichen Dienst halten unterdessen an, und das Ende Juli 2018 für (zunächst) drei Jahre beschlossene Anti-Terrorgesetz verlängert die Beschneidung der Bürgerrechte wie z.B. der Versammlungsfreiheit auf weiter reichender Grundlage. Auch die nunmehr mit dem Referendum und einer Wahl formell legitimierte Einführung des Präsidialsystems setzt letztlich nur fort, was während des zweijährigen Notstandes bereits zum Normalzustand gemacht worden war: Regieren mit präsidialen Dekreten. Vor exakt solchen Entwicklungen hatten Kritiker aus dem In- und Ausland gewarnt – auch wenn das in der Türkei zunehmend schwieriger und persönlich riskanter wurde. Warum hörten nicht mehr türkische Wählerinnen und Wähler auf die Kassandrarufe?

Der kollektive Wunsch nach Stärke

Obwohl die politische Bilanz der türkischen Regierung der letzten Jahre keinesfalls positiv ist, haben die Krisenphänomene der enormen Beliebtheit Recep Tayyip Erdoğans nichts anhaben können. Um die Beziehungen zur EU und zu den USA steht es so schlecht wie selten zuvor, wirtschaftlich kriselt es schon seit längerem, die Lira ist im freien Fall, und innenpolitisch steht die zu Beginn der AKP-Ära erhoffte Einigung mit den Kurden schlicht nicht mehr auf der Agenda der Regierung. Das außenpolitische Projekt einer „Null Probleme“-Politik der Türkei mit allen Nachbarn ist längst Geschichte, und die an ihrer Stelle forcierte Annäherung an Russland zieht weitere Konfrontationen mit den transatlantischen und europäischen Bündnispartnern nach sich. Der türkische Präsident nutzt deren brüskierte Reaktionen, um die Türkei als selbstbewusste Regionalmacht darzustellen, die sich nicht länger gängeln lässt, sondern in einer multipolaren Welt an Einfluss gewinnt. Auch wenn die faktische finanzwirtschaftliche Abhängigkeit seines Landes eine Einigung erwarten lässt, befördert Erdoğans anti-westliche Rhetorik das Bild, der Türkei werde selbst im Bündnis vor allem Missgunst entgegengebracht und die nötige Anerkennung verweigert. Über die Hälfte der türkischen Bevölkerung war laut Umfragen schon 2015 der Meinung, der Türkei solle in der Welt größerer Respekt entgegengebracht werden.

Der Istanbuler Sozialpsychologe Murat Paker attestiert seinem Land derweil eine Massenpsychose: Andersdenkende würden als Gefahr wahrgenommen, Dissens als Verrat gedeutet. Derartige Zuspitzungen – etwa, wer nicht für das Präsidialsystem stimme, schade dem Vaterland – hat die AKP-Führung über die letzten Jahre gezielt vorangetrieben. Das anhaltende Beschwören von inneren und äußeren Feinden von PKK bis IS und Gülen hat auch nach Ansicht des türkischen Wahlforschers Hakan Bayrakci diffuse Verunsicherungen in der türkischen Gesellschaft wachsen lassen. Was große Teile der Bevölkerung sich in solchen Zeiten der Angst wünsche, seien nicht demokratische Freiheiten, sondern ein starker Beschützer und Führer. In der Tat wiesen repräsentative Umfrageergebnisse des Pew Research Centers bereits 2015 aus, dass diese Einstellung wachsenden Zuspruch fand: Obwohl seinerzeit noch eine Mehrheit von 56% der Befragten eine demokratische Regierung bevorzugte – 12% weniger als 2012, war die Präferenz eines starken Führers gegenüber 2012 von 26 auf 36% gestiegen. Die zuletzt 2012 erhobenen Werte der World Values Survey fanden in der Türkei mit über 40% weitaus mehr Zuspruch für den Wert der Aufrechterhaltung der nationalen Ordnung als für die Relevanz demokratischer Mitbestimmung und freiheitlicher Bürgerrechte (hohe Wertschätzung bei lediglich etwas mehr als 20% respektive nur 10% der Befragten); zugleich wurde die demokratische Qualität im Land bereits vor 6 Jahren im Mittel für höher eingeschätzt als die objektivierten Indikatoren der komparativen Demokratieforschung es hergaben (Kruse/Ravlik/Welzel 2017). Die in dieser Hinsicht voranschreitende Erosion, die beispielsweise in den EU-Fortschrittsberichten beklagt wurde, wurde im Land selbst mithin nicht in gleicher Weise wahrgenommen.

Das lange Jahrhundert des Kemalismus

Auch wenn dies weder global noch regional eine Sonderheit darstellt: Die Konzentration auf einen starken Führer und der Glaube, der Zusammenhalt der Nation berge das größte Heilsversprechen, zählen zu den Geburtsfehlern der türkischen Republik vor gut 100 Jahren. Mit dem erfolgreichen Befreiungskämpfer Mustafa Kemal, der sich sogar ausdrücklich als Vaterfigur der Nation „Atatürk“ verstanden wissen wollte, wurden der Personenkult und eine Verquickung der republikanischen Ordnung mit einer doktrinären Leitideologie – seinerzeit der Kemalismus – Grundsteine der modernen Türkei, die das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem „Vater Staat“ (devlet baba)anhaltend prägten. Dieses Konzept knüpfte erfolgreich an Denkgewohnheiten aus den vorangegangene Zeiten des Sultanats an, statt sie praktisch zu revidieren und normativ zu delegitimieren. Zwar ist die AKP dem Kemalismus der Staatsgründerpartei CHP wegen dessen rigorosen Laizismus und der staatswirtschaftlichen Tendenzen politisch entgegen getreten. Die überwiegende Indifferenz der türkischen Wählerschaft gegenüber autoritären Entwicklungen zeigt aber, dass Recep Tayyip Erdoğan vom etablierten Verständnis des Staates als eines quasi paternalistisch geführten Familienunternehmens profitiert hat.

Auch im politischen Umgang mit Diversität haben weder die Gründer der Republik noch die diversen Folge-Regierungen des 20. Jahrhunderts, ob gewählt oder an die Macht geputscht, sich um eine wirkliche Verankerung liberaler Werte im Land verdient gemacht. Gab es im Osmanischen Reich zumindest eine – fraglos hierarchisch geordnete – Anerkennung der Religions- und Volksgruppen im Imperium, konstruierte das Nationalstaatsdenken eine imagined community von Türken als Staatsvolk, die von Teilen der politischen Elite als staatsbürgerliche civic community gemeint gewesen sein mag, im vorherrschenden Verständnis und der gesellschaftlichen Praxis aber ethnisch und religiös aufgeladen war: ethnisch türkisch, religiös (laizistisch) sunnitisch und zudem nationalistisch. Dieses Konstrukt überdauerte als Norm die Jahrzehnte. Seit der Regierung Turgut Özals (1983-89)  wurde sowohl die wirtschaftliche Liberalisierung forciert als auch das demonstrative Bekenntnis zum Islam in öffentlichen Funktionen salonfähig gemacht. Die grundlegende Anerkennung religiöser, ethnischer und  politischer Diversität als einer wesentlichen liberal-demokratischen Ressource wurde indessen nie zum Anliegen einer türkischen Regierung, und auch in der Opposition widmet sich bis heute nur die minoritäre HDP konsequent diesem demokratischen Defizit der Türkei. Es ist insofern beredter Ausdruck einer Kontinuität in der politischen Kultur, dass auch die irritierende Allianz aus CHP, IYI und Saadet Partei, die sich jüngst als Alternative zum Bündnis von AKP und MHP darbot, lediglich eine Kopie der Mischung aus Nationalismus, Wertekonservatismus und Islamismus darstellte, welche die AKP dann doch mit unverkennbar größerer Strahlkraft vertritt; und mit einer Aggressivität, die offenbar bei vielen gut ankommt. Dass Recep Tayyip Erdoğan die Rehabilitierung des politischen Islam im jetzigen Bündnis mit dem extrem rechten Nationalismus der MHP zusammen gespannt hat, machte sein neo-osmanisches Projekt vermutlich sogar noch attraktiver für Wähler und Wählerinnen, die das Idealbild dessen, was die Türkei ausmacht, im Sinne eines traditionellen Wertekanons beantworten.

Die Fortsetzung der Türkei, wie wir sie kennen – was tun?

Auch wenn mit dem Übergang zu einem personalisierten Machtzentrum im türkischen Präsidentenpalast zweifellos eine neue Phase in der politischen Geschichte des Landes beginnt, knüpft diese an eine Reihe von Traditionslinien an, die der Konsolidierung und Vertiefung von freiheitlicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit über Jahrzehnte im Wege standen. Nachdem die AKP-Regentschaft während der 2000er Jahre die Hoffnung nährte, dass die Weichen im Zuge von EU-Beitrittsvorbereitungen schnell und wirksam anders gestellt würden, und das Monitoring der EU hierzu anfangs auch Fortschritte konstatierte, lässt die derzeitige dynastisch anmutende Besetzung von Schlüsselpositionen durch einen quasi allein herrschenden Präsidenten ungute Erinnerungen an den so genannten tiefen Staat hochkommen – eine klandestine Verbindung der Sicherheitsinstitutionen inklusive Geheimdienste mit Teilen der politischen Klasse, die bar jeglicher demokratischer Kontrollen zu Gunsten politischer Eigeninteressen agierte; was in der aktuellen Konstellation jedoch mit konträren ideologischen Zielen und ohne nennenswerte Geheimhaltung umgesetzt wird: Erdoğans Zentralismus, Autoritarismus und Klientelismus sind insoweit nicht das Ende der Türkei, wie wir sie kannten, sondern leider die radikalisierte Fortsetzung von allerlei etablierten Herrschaftsmitteln zur Durchsetzung anderer Interessen und Inhalte als bislang gewohnt. Das macht es allerdings nicht besser. In der Türkei hatte im Zuge der medialen und ökonomischen Globalisierung, durch einen Anstieg zivilgesellschaftlicher Initiativen und die gewachsene Mobilität vor allem junger gebildeter  Leute, aber auch als Effekt der Reformen, die der Hoffnungsträger Erdoğan in den 2000er Jahren auf den Weg gebracht hatte, eine gesellschaftliche Liberalisierung und Diversifizierung eingesetzt, die während der Gezi-Protestwelle besonders sichtbar wurde. Diese Entwicklung ist in dem politisch polarisierten Klima und unter den Druckverhältnissen des Ausnahmezustands ins Stocken geraten.

Die politischen Prozesse und Säuberungen der vergangenen zwei Jahre schüchtern ein, sie sorgen für einen brain drain, und lassen sicherlich viele davor zurückschrecken, sich gegenüber Regierungspolitik kritisch zu positionieren. Dennoch bleibt im Kern das zivilgesellschaftliche Leben die wichtigste Handlungsebene, auf der Impulse für eine nachhaltig demokratischere Gesellschaft entstehen, ob in der Türkei oder andernorts. Die herkömmlichen diplomatischen Wege und weiteren Instrumente, die der deutschen Regierungspolitik zur Verfügung stehen, sind hinsichtlich ihrer möglichen Wirkung auf Ankara aktuell begrenzt. Bürgergesellschaftliche Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und vom Staat unabhängige Medien und Bildungsträger, welche die Pluralität der Türkei vermitteln, benötigen deshalb gezielte Unterstützung und Solidarität, denn sie sind es, die die identitätspolitische Erzeugung der Nation als Narration diskursiv konterkarieren können: „Die Menschen bilden weder Anfang noch Ende der nationalen Erzählung. Sie stellen die Scheidelinie dar zwischen den totalisierenden Kräften des ‚Gesellschaftlichen‘ als homogene Konsensgemeinschaft und denjenigen Kräften, die eine ganz bestimmte Ausrichtung auf strittige, ungleiche Interessen und Identitäten in der Bevölkerung erkennen lassen.“ (Homi Bhabha)

Dieser Beitrag beschließt unsere Reihe zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 in der Türkei. Bisherige Beiträge der Reihe sind:

  • New Alliances and Old Traditions in Turkish Politics (Sezer İdil Göğüş)
  • Die Wahlen vom 24.06.2018 und ihre Auswirkungen auf die christlichen Minderheiten der Türkei (Johannes Meerwald)
  • The HDP’s Performance in Turkey’s Authoritarian Electoral Campaign (Francis Patrick O’Connor)
Sabine Mannitz
Dr. Sabine Mannitz leitet den Programmbereich „Glokale Verflechtungen“, ist Mitglied des Vorstands der HSFK und PI im regionalen Forschungszentrum Transformationen politischer Gewalt (TraCe). Sie forscht u.a. über Prozesse des Wandels politischer Kultur, soziale Identität und Erinnerungskultur(politik). // Dr Sabine Mannitz is head of the research department “Glocal Junctions”, a member of PRIF's executive board and PI in the regional Research Center “Transformations of Political Violence” (TraCe). Her research fields include processes of change in political culture, social identity and practices of remembrance/remembrance politics.

Sabine Mannitz

Dr. Sabine Mannitz leitet den Programmbereich „Glokale Verflechtungen“, ist Mitglied des Vorstands der HSFK und PI im regionalen Forschungszentrum Transformationen politischer Gewalt (TraCe). Sie forscht u.a. über Prozesse des Wandels politischer Kultur, soziale Identität und Erinnerungskultur(politik). // Dr Sabine Mannitz is head of the research department “Glocal Junctions”, a member of PRIF's executive board and PI in the regional Research Center “Transformations of Political Violence” (TraCe). Her research fields include processes of change in political culture, social identity and practices of remembrance/remembrance politics.

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