Blick auf die Innenstadt von Grbavica, einem Stadtteil von Sarajevo, am Ende der Belagerung
Blick auf die Innenstadt von Grbavica, einem Stadtteil von Sarajevo, am Ende der Belagerung | Photo: Lt. Stacey Wyzkowski | Public Domain

Blick zurück nach vorn: Was droht bei einer Belagerung ukrainischer Städte?

Bei ihrem Überfall auf die Ukraine sind die russischen Truppen auf größeren Widerstand gestoßen als von ihrer Führung offenbar erwartet. Kiew und andere Städte stehen weiterhin unter Kontrolle ukrainischer Kräfte. Wie das russische Militär darauf reagieren wird, ist offen. Möglicherweise sieht es zunächst von Versuchen ab, stark verteidigte Städte vollständig einzunehmen, und setzt stattdessen auf deren Belagerung, die mit massivem Beschuss einhergeht. Was dann den Menschen in Kiew und anderswo in unmittelbarer Zukunft droht, zeigt ein Blick zurück auf die Belagerungen von Sarajevo in Bosnien-Herzegowina sowie Ost-Ghouta und Aleppo in Syrien.

Es ist nicht ausgemacht, dass die russischen Truppen die von Putin vorgetragenen Ziele mittels Belagerungen zu erreichen suchen. Womöglich halten sie weitgehend am Vorgehen der ersten Tage fest, setzen dabei aber noch mehr Menschen und Waffen ein. Ein direktes und umfassendes Vordringen in die Städte würde für sie mit dem Risiko eines verlustreichen Häuserkampfes einhergehen. Die russische Führung ist vielleicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Eine andere Option wäre, bei anhaltendem Widerstand nicht weiter auf urbane Gebiete vorzurücken, sondern die Städte verstärkt aus der Distanz zu beschießen. Sie in Schutt und Asche zu legen, könnte aber in Spannung dazu stehen, über diese Städte herrschen zu wollen. Eine andere schreckliche Option besteht darin, die Städte zu belagern und deren Bewohnerinnen und Bewohner auszuhungern, um sie zur Aufgabe zu zwingen. Die Belagerung kann mit massivem Beschuss aus der Luft oder durch Artillerie einhergehen, aber auch mit Angriffen, die es nicht auf umfassende physische Zerstörung anlegen, sondern die Bevölkerung vor allem terrorisieren sollen.

Der folgende Beitrag blickt zurück auf die Belagerung von Sarajevo, die großes internationales Entsetzen ebenso auslöste wie Anstrengungen, das Leid der Menschen zu lindern. Zudem thematisiert er die Belagerungen von Ost-Ghouta und Aleppo im Zuge des Bürgerkrieges in Syrien, dem die internationale Friedenspolitik weit hilfloser begegnete als dem Krieg in Bosnien-Herzegowina. Diese Rückblenden geben Aufschluss darüber, was die Menschen in den ukrainischen Städten bald erleiden könnten.

Die Belagerung von Sarajevo

Vor fast genau 30 Jahren votierten in einem Referendum die bosniakischen und kroatischen Bürgerinnen und Bürger nahezu geschlossen für die Unabhängigkeit der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina von Jugoslawien. Die meisten Serbinnen und Serben blieben dieser Abstimmung fern. Im Frühjahr 1992 eskalierte der Konflikt zum Krieg. Ausgerüstet und unterstützt von der Jugoslawischen Volksarmee, brachten serbische Truppen in den ersten Monaten des Krieges rund zwei Drittel des Landes unter ihre Kontrolle. Sie versuchten, auch große Teile Sarajevos einzunehmen, was ihnen nur teilweise gelang. Daraufhin belagerten sie die Hauptstadt von den umliegenden Bergen aus mit bis zu 1.100 Geschützen. An einem Tag schlugen bis zu 1.000 Geschosse in Sarajevo ein. In den serbisch kontrollierten Stadtteilen im Talkessel terrorisierten Heckenschützen die Bevölkerung, die vor dem Krieg rund eine halbe Million Menschen umfasste.

Am 3. Juli 1992 richteten die Vereinten Nationen eine Luftbrücke nach Sarajevo ein. Ab April 1993 wurde sie von einem Flugverbot über ganz Bosnien-Herzegowina abgesichert, mit dessen Durchsetzung die NATO beauftragt wurde. Bis zum 5. Januar 1996 wurden nach UN-Angaben Hilfsgüter im Umfang von 160.677 Tonnen nach Sarajevo geflogen, davon 144.827 Tonnen Nahrung. In vielen Monaten des Kriegs brachte die Luftbrücke 85% aller Hilfslieferungen nach Sarajevo. Noch vor der Luftbrücke hatten die Vereinten Nationen begonnen, auf dem Landweg Hilfskonvois nach Sarajevo und in andere Gebiete zu schicken. Blauhelme erhielten etwas später das Mandat, Zwang einzusetzen, um Hilfslieferungen an ihr Ziel zu bringen, wovon sie oft aber keinen Gebrauch machten.

In einer weiteren Reaktion auf die Belagerung wurde Sarajevo im April 1993 zunächst zur „safe area“, später zur Schutzzone deklariert. Zur Verteidigung dieser Zone autorisierte der Sicherheitsrat den Einsatz aller notwendigen Mittel, doch bis Ende August 1995 kam es nur zu sporadischen Luftangriffen der NATO. Die Belagerung dauerte bis zum Kriegsende fort.

Nach Angaben des Untersuchungs- und Dokumentationszentrum Sarajevo kamen in der belagerten Stadt fast 12.000 Menschen durch direkte Gewalteinwirkung ums Leben. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Hauptstadt mussten eine lange Zeit der Not erleiden. Der Mangel an nahezu allem ließ die Preise explodieren. Laut Sarajevo Survival Guide kostete 1993 ein Kilo Zwiebeln 20 DM, und für fünf Liter Wasser waren 30 DM fällig. Die internationale Hilfe hatte einen großen Anteil daran, dass die Einwohnerinnen und Einwohner Sarajevos nicht massenweise an Unterversorgung mit Nahrung oder Medikamenten starben. Damit trug sie auch dazu bei, einen Sieg der serbischen Truppen und eine Zerschlagung von Bosnien-Herzegowina zu verhindern. Im November 1995 setzte der Kompromissfrieden von Dayton dem Krieg ein Ende.

Belagerungen in Syrien

Belagerungen von Städten und Stadtteilen gab es in Syrien nahezu seit Beginn des Bürgerkrieges. Beispiele dafür sind Homs (2011-2014), Darayya und Muadamiyat (2012-2016), Ost-Ghouta (2013-2018) und Ost-Aleppo (2016). Mit dem Eintritt Russlands in den Krieg auf Seiten der syrischen Regierung im September 2015 wurden Belagerungen noch stärker eingesetzt. Zudem ließ die syrische Regierung keine Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen an andere von der Opposition kontrollierte Gebiete zu. Zweieinhalb Millionen Menschen, d.h. 10% der syrischen Vorkriegsbevölkerung, wurden laut der Organisationen PAX Opfer von Belagerungen. Im Bezirk Ost-Ghouta am Stadtrand von Damaskus wurden etwa 450.000 Menschen belagert, in Ost-Aleppo bis zu 300.000. Die folgenden Schilderungen beschränken sich auf diese beiden Fälle in Syrien.

Ost-Ghouta

Die syrische Armee belagerte das von Rebellengruppen kontrollierte Ost-Ghouta ab 2013. Im Juli 2017 gab das russische Verteidigungsministerium eine Vereinbarung mit den syrischen Oppositionsparteien über eine Deeskalation in Ost-Ghouta bekannt, dennoch beschoss die syrische Armee das Gebiet weiterhin mit Artillerie. Im November 2017 intensivierten sich russische und syrische Luftangriffe. Allein im November 2017 gab es mehr als 400 Luftangriffe auf Ost-Ghouta. Die Kriegsführung setzte auf das Aushungern der Bewohnerinnen und Bewohner. Russische und syrische Luftangriffe zielten mit geächteten Streubomben auf Zivilisten und zivile Infrastruktur, darunter Krankenhäuser und Märkte. Dies verknappte Lebensmittel, Medikamente, Strom, Gas und andere Güter der Grundversorgung. Während der fünfjährigen Belagerung waren einige Bewohnerinnen und Bewohner auf Blätter von Bäumen als Nahrungsersatz angewiesen, um zu überleben.

Die Belagerung löste zwar international Entsetzen und Solidaritätskampagnen mit der Bevölkerung aus. Zu einer Flugverbotszone und Luftbrücke kam es allerdings nicht. Der russisch-syrischen Militäroperation gelang es schließlich, die Opposition zu besiegen. Das Gebiet Ost-Ghouta wurde vollständig evakuiert.  Rund 20.000 oppositionelle Kämpfer und 100.000 Zivilisten wurden in das Grenzgebiet von Idlib im Nordwesten Syriens verbracht. Etwa die Hälfte der evakuierten Bewohnerinnen und Bewohnern durfte nach einer „Sicherheitsüberprüfung“ in ihre Häuser zurückkehren.

Einige Kriegsakteure zogen Profit aus der Belagerung von Ost-Ghouta. So erhob die mächtigste Rebellengruppe Jaysh al-Islam Steuern auf Waren, die über den Grenzübergang Wafideen und durch Tunnel zwischen Ost-Ghouta und Damaskus geschmuggelt wurden. Zivilisten, die die belagerte Zone verlassen wollten, mussten dafür exorbitante Gebühren zahlen. Ähnliches geschah in Aleppo. Laut einem UN-Bericht war Ost-Ghouta nach Aleppo das am zweitstärksten vom Krieg betroffene Gebiet in Syrien. 34.000 Gebäude wurden zerstört oder beschädigt. In einigen Gebieten, wie Jobar, lag die Zerstörungsrate bei 93%. Es ist unklar, wie viele Menschen durch die Belagerung von Ost-Ghouta ihr Leben verloren haben. Insgesamt sind dem Syrienkrieg bis Ende 2021 mindestens 350.000 Menschen zum Opfer gefallen.

Aleppo

Der Kampf um Aleppo dauerte von Juli 2012 bis Ende 2016 und ging mit Flächenbombardierungen auf militärische und zivile Ziele und einer systematischen Belagerung einher. Im Juli 2016 begannen syrische und verbündete Truppen, das von der bewaffneten Opposition kontrollierte Ost-Aleppo von Versorgungslinien in die Türkei abzuschneiden. Es fehlte an Treibstoff für Generatoren. Zudem konnten humanitäre Hilfsorganisationen nicht mehr in den Osten Aleppos gelangen. Anträge auf Hilfslieferungen, gestellt von der UN-OCHA Zentrale in Damaskus, wurden regelmäßig von der syrischen Regierung verweigert oder ignoriert. Selbst wenn sie genehmigt waren, wurden Konvois bürokratisch oder physisch seitens der Regierung an der Weiterreise gehindert. In den seltenen Fällen, in denen humanitäre Hilfskonvois belagerte Gemeinden erreichten, wurden ihre Lieferungen von den Regierungstruppen bei „Inspektionen“ an den Kontrollpunkten oft entfernt oder „unbrauchbar gemacht“, bevor sie weiterfahren durften. Zudem wurde regelmäßig der Großteil der medizinischen Hilfsgüter aus den Lastwagen entnommen. Das hatte zur Folge, dass Lebensmittel immer knapper wurden, und für die noch vorhandene Nahrung stiegen die Preise drastisch. So kosteten vor dem Konflikt sieben Stück Fladenbrot 15 Syrische Pfund. Während der Belagerung wurden sie in Paketen von sechs Stück geliefert und kosteten im Durchschnitt 451 Syrische Pfund.

Auch Wasser wurde zur Kriegswaffe. Pumpstationen wurden bei den Bombardierungen beschädigt und in den meisten Teilen der Stadt gab es kein fließendes Wasser. Dies zwang die Menschen dazu, Wasser aus Brunnen und von privaten Wassertankwagen zu kaufen, das oft keine Trinkwasserqualität aufwies. Außerdem war die medizinische Versorgung betroffen, wichtige Behandlungen konnten nicht vorgenommen werden, und es fehlte an Medikamenten und Blut für Transfusionen. Medizinische Notevakuierungen fanden nur noch sehr eingeschränkt statt. Nach Angaben des Violations Documentation Center in Syria kamen zwischen Juli 2012 und Ende 2016 mehr als 31.000 Menschen in Aleppo ums Leben.

Fazit: Schreckliche Aussichten

Wie der Blick zurück zeigt, kann eine Luftbrücke noch größeres Leid in den belagerten Städten verhindern. Ein Flugverbot hilft, eine Luftbrücke aufrechtzuerhalten. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland ähnliche Maßnahmen für die Ukraine zulässt. In Syrien hat dies Russland im UN-Sicherheitsrat, oft mit chinesischer Unterstützung, stets verhindert. Eine Luftbrücke und ein Flugverbot gegen den Willen Russlands einzurichten, birgt das Risiko einer direkten militärischen Konfrontation, und die wollen westliche Staaten erklärtermaßen vermeiden. Bei Belagerungen ohne eine Luftbrücke und ohne Korridore für humanitäre Hilfe auf dem Landweg drohen in der Ukraine Entwicklungen wie in Aleppo und das in einem noch größeren Ausmaß.

Am 3. März haben die Konfliktparteien vereinbart, humanitäre Korridore in besonders umkämpften Gebieten einzurichten. Die russische Seite kann diese Vereinbarung für ihre Propaganda nutzen, sie wolle Zivilisten schonen. Auch könnte sie den Beschuss von Städten mit dem Hinweis darauf intensivieren, dass die Menschen die angegriffenen Gebiete durch die Korridore hätten verlassen können. Der ukrainischen Seite stellt die Vereinbarung in Aussicht, bedrohte Zivilisten zu evakuieren. Auch widerlegt sie den russischen Vorwurf, sie nutze Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Ob und in welchem Maß humanitäre Korridore tatsächlich eingerichtet werden, bleibt abzuwarten. Daher ist es zu früh für eine Einschätzung, inwieweit solche Korridore die Folgen von Belagerungen abmildern würden. Die Erfahrungen aus Syrien mahnen zur Skepsis. Die Syrien-Expertin Emma Beals schrieb auf Twitter: „Russia is likely to agree in principle then propose unviable or unsafe corridors and conditionalize and/or problematize any movement of goods or assistance. Attacks on aid convoys, fleeing civilians, and infrastructure are all possible and documented.“

Thorsten Gromes
Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.
Regine Schwab

Regine Schwab

Dr. Regine Schwab ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich „Transnationale Politik“ und Mitglied der Forschungsgruppe „Terrorismus“ an der HSFK. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Syrien und der Nahe Osten, Rebellengruppen und politische Gewalt. // Dr Regine Schwab is postdoc at PRIF’s Research Department “Transnational Politics” and member of the research group “Terrorism”. Her research interests are, inter alia, Syria and the Middle East, violent Islamist groups and political violence. | Twitter: @reginesonja
Mustafa Karahamad

Mustafa Karahamad

Mustafa Karahamad ist Doktorand im Programmbereich „Transnationale Politik“ und Mitglied der Forschungsgruppe „Terrorismus“ an der HSFK. Er forscht zu muslimischen religiösen Institutionen und der Legitimierung politischer Gewalt im Nahen Osten. // Mustafa Karahamad is a doctoral researcher in PRIF’s research department “Transnational Politics” and member of the research group “Terrorism”. His research interests are Muslim religious institutions and legitimization of political violence in the Middle East.

Thorsten Gromes

Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

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