Seit 2021 fanden im mittelsächsischen Freiberg über 60 „Spaziergänge“ gegen die Coronapolitik statt. Wie im ganzen Freistaat wurden die Proteste von den extrem rechten „Freien Sachsen“ dominiert. Auch Mandatsträger:innen von Parteien unterstützten sie. Die Kommunalpolitik reagierte nur zögerlich. Erst ein Appell der Zivilgesellschaft veränderte die Situation: Der Oberbürgermeister distanzierte sich deutlich und wurde wiedergewählt. Nun braucht es politische Antworten auf anhaltende Polarisierung und Demokratieverdruss in der Region.
Proteste gegen die Maßnahmen zum Schutz vor einer Infektion begleiteten die Corona-Pandemie von Beginn an. Die sächsische Universitätsstadt Freiberg steht exemplarisch für eine politische Entwicklung, die auch die erzgebirgische Kleinstadt Zwönitz und Mittelstädte wie Bautzen ergriffen hat und zeigt die gefährlichen Auswirkungen, wenn Lokalpolitiker:innen mit extrem rechten Positionen liebäugeln. Im Verlauf des letzten Jahres konnte die rechtsextreme Kleinstpartei „Freie Sachsen“ über 60 Mal erfolgreich Freiberger:innen dazu mobilisieren, gegen die Corona-Politik auf die Straße zu gehen – eine beachtliche Intensität. Diese „Spaziergänge“ wurden kaum bei örtlichen Behörden angezeigt und verstießen häufig gegen Corona-Schutz-Verordnungen. Die Stadtgesellschaft diskutierte die „Spaziergänge“ alsbald heiß. In der Lokalpolitik herrschte jedoch über lange Zeit Schweigen. Obwohl es vonseiten der Protestierenden auch zu Gewalttaten kam, agierte die Polizei lange sehr zurückhaltend und schritt kaum ein1. In Freiberg wie auch in Sachsen insgesamt formierte sich innerhalb eines Jahres eine breite Bewegung, die von der extremen Rechten angeführt wurde und an deren Protesttradition anknüpfte2.
„Spaziergänge“ in Freiberg und die Lokalpolitik
Im ersten Jahr der Pandemie ab Frühjahr 2020 wurden Proteste gegen die Coronapolitik in Freiberg hauptsächlich von Gewerbetreibenden und Hoteliers getragen und lieferten kaum Anhaltspunkte für eine extrem rechte Ausrichtung oder Vereinnahmung3. Dies änderte sich mit dem Frühsommer 2021, als die Proteste sich ausweiteten und die „Freien Sachsen“ als Akteur auftraten. Gegründet wurde die Partei im Februar 2021 vom rechtsextremen Anwalt Martin Kohlmann, dem NPD-Funktionär Stefan Hartung und dem ehemaligen Dortmunder Neonazi Michael Brück. Sie entwickelte sich alsbald zum zentralen Player der Corona-Proteste auch in anderen Städten Sachsens4. Dabei demonstrierten in Freiberg nicht ausschließlich Neonazis oder Anhänger:innen diverser Verschwörungstheorien, die um das Virus kursieren. Vielmehr war das Bild der Teilnehmenden äußerst heterogen: Familien mit Kindern, Jugendliche und Rentner:innen, Pflegekräfte und Gewerbetreibende. Wie die Polizei gegenüber der Lokalpresse bestätigte, kamen die Protestierenden in Freiberg vor allem aus der Stadt selbst.
Zuspruch erhielten die Proteste auch aus der Freiberger Lokalpolitik. Neben AfD-Stadträten, die regelmäßig bei den Protesten auftraten, spielte besonders die örtliche CDU eine gewichtige Rolle. Sie war bereits im Jahr 2017 im Zuge der Debatten um Migration und Asyl mit den „Freiberger Thesen“ aufgefallen, die einen sofortigen Rücktritt der Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie einen Aufnahmestopp für Asylsuchende forderten. Ihr damaliger Vorsitzender, Holger Reuter, hatte bereits im Jahr 2014 den „Mut der ehrlichen Bürger“ bei PEGIDA gelobt5 und 2017 eine Zusammenarbeit mit der AfD gefordert. Im letzten Jahr war Reuter, heute Baubürgermeister in Freiberg, selbst Teilnehmer der rechten und rechtswidrigen Aufmärsche gegen die Coronamaßnahmen. Nach eigener Aussage hat ihn die kritische Auseinandersetzung mit den politischen Entscheidungen der Regierenden dazu motiviert, die „Spaziergänge“ zu besuchen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde sein Duktus radikaler: Ein „Kesseltreiben gegen Ungeimpfte“ werde „vorgenommen in einer Art und Weise, dass die Ungeimpften sich fühlen wie die Armenier damals in der Türkei, wo dann zum Teil eine Ausrottung stattfand“6. Der Vergleich zog bundesweite Aufmerksamkeit auf sich, wurde ihm jedoch kaum zum Verhängnis: Trotz allerhand Kritik aus den eigenen Reihen scheiterte ein vom Oberbürgermeister initiierter Abwahlantrag im Stadtrat – auch weil die AfD die meisten Sitze innehat. Dennoch trat Reuter im April 2022 vom CDU-Vorsitz zurück.
Solche Sympathien reichen über die CDU hinaus: Nachdem Volker Didzioneit das Geschehen zunächst als Beobachter verfolgt hatte, trat er im Februar 2022 aus der Fraktion der Grünen aus, um sich den Protesten anzuschließen7. Damit verloren die Grünen ihren Fraktionsstatus im Freiberger Stadtrat. Defizite lokaler demokratischer Institutionen traten hervor: Während in den Straßen der Stadt montags hunderte, manchmal tausende Demonstrierende unterwegs waren, wurden die Tagesordnungspunkte der Stadtratssitzungen straff abgearbeitet, ohne dem Umgang mit den Protesten Raum zu geben. Erst jetzt soll auf Initiative des Ältestenrats eine „aktuelle Stunde“ eingeführt werden. Aus unserer Sicht kommt dieser Schritt, nachdem die „Freien Sachsen“ den Protest nun schon ein Jahr anführen, leider zu spät. Die politischen Auseinandersetzungen finden in Freiberg längst an anderer Stelle statt.
Ein Oberbürgermeister zwischen den Stühlen…
Sven Krüger, seit 2009 Oberbürgermeister der Stadt, hatte allerhand zu tun, die Situation zu entschärfen: Erst initiierte er Bürgerdialoge zwischen Protestorganisator:innen und Befürworter:innen der Coronapolitik und seit Dezember 2021 eine Kampagne, um das angeschlagene Image der Stadt zu verbessern. Inzwischen grenzt er sich ausdrücklich von den Protesten ab. Dass diese Distanzierung spät kam, gibt er selbst zu. Noch 2021 hatte er die Polizeieinsätze gegen die mitunter gewalttätigen Demonstrant:innen als „nicht immer angemessen“8 bezeichnet und betont, dass die Teilnahme seines Baubürgermeisters an den Aufmärschen der „Freien Sachsen“ eine Privatangelegenheit sei9. Zugleich übte er wiederholt Kritik in Wort und Tat an den auf Bundes- und Landesebene gefassten Beschlüssen zur Eindämmung der Pandemie. Im August 2021 klagte er mit seiner Stadt gegen die Auflagen der Landes- und Bundesregierungen für Großveranstaltungen und verlor. Daraufhin vierteilte er das Veranstaltungsgelände des „Freiberger Bergstadtsommers“ und zog Absperrungen zwischen den Sitzreihen ein, um die zulässige Besucher:innenzahl zu erhöhen10. Im November drohte er erneut, wegen der Absagen der Weihnachtsmärkte zu klagen, die kurzfristig durch die sächsische Landesregierung verfügt worden waren.
Für die Stadt war das zweifellos einschneidend, die Weihnachtsmärkte sind laut Krüger „Teil einer erzgebirgischen Tradition“. Die einen fühlen sich der Traditionspflege verpflichtet, die anderen wollen vor allem etwas verändern, die Stadtgesellschaft ist gespalten. Vertreter:innen der lokalen Zivilgesellschaft, die sich gegen Rechts engagieren, beschreiben gar eine über Jahre gewachsene Feindschaft gegenüber fortschrittlichen Ideen und Veränderungsbereitschaft. Während politische Verantwortliche und demokratische Institutionen schwiegen, suchten viele Freiberger:innen andere Wege der Auseinandersetzung – auch aufseiten der Gegner:innen der „Spaziergänge“. Das zivilgesellschaftliche Bündnis „Freiberg für Alle“ veröffentlichte im Dezember 2021 einen offenen Brief, dem sich innerhalb kürzester Zeit mehrere tausend Personen anschlossen. Diese sprachen aus, was viele umtrieb: „Wir fordern die Spaziergänger auf, dieses weitere Befeuern der Pandemie zu unterlassen. Von der Politik erwarten wir, diese illegalen Demonstrationen nicht länger zu dulden“11. Die bis dahin leise Gegenstimme wurde lauter, zorniger und wohl deshalb gehört. Schließlich unterschrieb auch der Oberbürgermeister. Während sich das Bündnis „Freiberg für Alle“ bei Veranstaltungen an die bestehenden Einschränkungen hielt, zogen regelmäßig tausende „Spaziergänger:innen“ an ihnen vorbei, überschritten die zulässige Teilnehmer:innenzahl und überschütteten ihre Gegner:innen mit Spott und Häme. Freiberg schien aus zwei Welten zu bestehen, in denen unterschiedliche Regeln für legitime Partizipation galten und grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie aufeinanderprallten.
Bei unseren Gesprächen in der Freiberger Altstadt mit Passant:innen und Gewerbetreibenden wurde diese Polarisierung im Alltag deutlich. Die einen sehen ihre Gesundheit und Zukunft durch die Proteste bedroht, andere hingegen sehen die Schuld für ihre schwierige wirtschaftliche Situation bei den Eliten. Viele fühlen sich benachteiligt und suchen Antworten im Dagegensein – gegen „die Politiker:innen“, gegen „die Medien“ und ihr Bild von Freiberg. Diese verbreitete Stimmung ist nicht nur Folge der Pandemie wie frühere Proteste, etwa gegen die Aufnahme von Asylsuchenden, zeigen. Im Jahr 2015 wurde in Freiberg die Anreise eines Sonderzugs mit Geflüchteten blockiert. Wie auch andernorts in Sachsen kam es zu Gewalt und die lokale Politik bezog keine klare Position gegen den Protest und seine Forderungen. In der Folge dominierten eher diese rechten Stimmungslagen politische Entscheidungen. Beispielsweise verfügte ein Stadtratsbeschluss im Jahr 2018 einen lokalen „Aufnahmestopp für Flüchtlinge“ aufgrund mangelnder Integrationskapazitäten und beklagte Überforderung durch zu viele Geflüchtete. Die Landesverwaltung brachte den Beschluss aufgrund fehlender kommunaler Kompetenzen in dieser Frage zum Scheitern. Die extreme Rechte freute sich trotzdem: über das Signal aus dem Stadtrat sowie den formalen Streit mit dem Land – ein Konfliktmuster, das auch heute verfängt, wie der Umgang mit den Corona-Regelungen zeigt.
Heute bietet der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine erneut Anlass, die Gräben in der Gesellschaft zu vertiefen. Martin Kohlmann, Chef der „Freien Sachsen“, hat sich dem Thema bereits angenommen. Seit dem Rückgang der Schutzmaßnahmen wird die Regierung von den „Freien Sachsen“ als Kriegstreiber gegen Russland dargestellt und in sozialen Medien wie „Telegram“ eine Fortsetzung der Proteste unter Flagge der Russischen Föderation und gegen „den Westen“ sowie die NATO geworben12. Auf den Straßen haben die Proteste unterdessen merklich nachgelassen.
Entschieden für mehr lokale Demokratie?!
In diesem Gefüge war die Sorge groß, dass sich Kandidierende der extremen Rechten bei den Landrät:innen- und Bürgermeister:innenwahlen in Sachsen durchsetzen könnten. Dies hat sich jedoch nicht bestätigt. Dabei hatte die AfD im Landkreis Mittelsachsen, mit der Kreishauptstadt Freiberg, mit einem 33,4% Wahlerfolg zur Bundestagswahl 2021 und einem aussichtsreichen Landratskandidaten gute Voraussetzungen. Zugleich stellten die „Freien Sachsen“ im Lichte anhaltender Proteste Landratskandidat:innen und Bürgermeisterkandidat:innen auf. Doch die AfD konnte in ganz Sachsen keine Mehrheit für ihre Kandidierenden erreichen und wird so auf absehbare Zeit auf allen parlamentarischen Ebenen weiterhin nur (radikale) Opposition bleiben. In Freiberg kamen die drei Kandidierenden fürs Stadtoberhaupt aus dem Spektrum der Corona-Proteste insgesamt nur auf 17,7% der Wähler:innenstimmen, sodass der bisherige OB Krüger mit 74,1% eine weitere Amtszeit antritt. Womöglich konnte der amtierende OB mit seinem Schwenk gegen die Aufmärsche der „Freien Sachsen“ an Glaubwürdigkeit gewinnen. Vielleicht entfachte auch das Thema Corona-Politik auf lokaler Ebene real- und kommunalpolitisch schlicht zu wenig Zugkraft.
Auch wenn das Lager der extremen Rechten in der Region Freiberg nicht die erwarteten Wahlerfolge feiern kann, hinterlassen anhaltende Proteste wie die Spaziergänge der „Freien Sachsen“ Spuren im Lokalen und sind Teil einer Strategie rechter Raumnahme13, die über die themenbezogenen Mobilisierungen hinauswirkt. Vertreter:innen des „Kulturbüro Sachsen“ weisen darauf hin, dass die extreme Rechte dabei gezielt Bündnisse mit demokratischen Parteien sucht, um Zivilgesellschaft und lokale Demokratie auszuhöhlen. Sie kommen zu dem Schluss, dass es „um nicht weniger als die Durchsetzung einer völkischen Deutungshoheit zu gesellschaftspolitischen Themen“14 geht. Die Situation ist entschärft, bleibt aber gefährlich. Entscheidend wird sein, wie sich lokale politische Verantwortliche, insbesondere Bürgermeister:innen und Landrät:innen, zu kommenden Themen und Protesten der Rechten positionieren. Teil der Strategie der extrem Rechten ist der Versuch, das Lokale gegen die demokratische Institutionen im Land und im Bund in Stellung zu bringen und föderale Konflikte zwischen diesen Ebenen in ihrem Sinne zu politisieren. Immerhin klingen beim Freiberger OB mittlerweile kritische Töne an, wenn er nun betont, „dass die Coronaregeln von einem demokratisch gewählten Parlament und einer demokratisch gebildeten Regierung erlassen und nicht diktatorisch umgesetzt wurden“. Und es gibt weitere Lichtblicke: Im Kreis Mittelsachsen eröffnete die Wahl spannende Konstellationen. Hier gewann mit Dirk Neubauer ein unabhängiger Kandidat mit Unterstützung von SPD, Linken und Grünen die Wahl zum Landrat. Durch Veröffentlichungen und seinen Einsatz für mehr lokale Demokratie als Bürgermeister Augustusburgs hatte dieser sich zuvor einen Namen gemacht. Der frische Wind im Landratsamt könnte helfen, lokalen Demokratieverdruss konzertiert in Angriff zu nehmen und extrem rechter Instrumentalisierung zu begegnen, – was in einer Region, die bundesweit als Hochburg der extremen Rechten gilt, neue Perspektiven jenseits dieser eröffnet.