Bild zeigt ein Transportflugzeug mit der Aufschrift "International Cargo Transporter", in das im Zuge der Rückverlegung aus Afghanistan militärisches Material eingeladen wird
Soll die Nationale Sicherheitsstrategie der Orientierung, Kommunikation und Steuerung dienen, dann muss sie auf Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets eingehen. | Foto: ©Bundeswehr/André Klimke

Anzumeldende Nebentätigkeit: Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Nationalen Sicherheitsstrategie

Es liegt die Annahme nahe, mit dem Scheitern in Afghanistan und erst recht mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine habe sich das Thema Auslandseinsätze auf absehbare Zeit erledigt. Die Bundesregierung hält aber an solchen Einsätzen fest, selbst wenn sie die Priorität der Landes- und Bündnisverteidigung betont. Somit ist es wahrscheinlich, dass der Bundestag auch in Zukunft Auslandseinsätze beschließen wird. Daher sollte die angekündigte Nationale Sicherheitsstrategie die Frage erörtern, unter welchen Bedingungen die Bundeswehr an Einsätzen außerhalb des NATO-Gebiets teilnimmt.

Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Bundeswehr an mehr als 50 Einsätzen außerhalb von NATO-Staaten beteiligt, so man denn Nachfolgeeinsätze gesondert zählt. Diese Missionen jenseits des NATO-Gebiets lassen sich schwerfällig als „out of area-Einsätze“ bezeichnen. Daher dominiert der Begriff „Auslandseinsätze“, obwohl er eben nicht jegliche Mission außerhalb Deutschlands meint. Auslandseinsätze decken ein breites Spektrum von Aktivitäten ab, wie die Auswahl auf der Internetseite des Verteidigungsministeriums zeigt. Mal schickte der Bundestag medizinisches Personal der Streitkräfte; mal nahm die Bundeswehr an Beobachtungs- und friedenserhaltenden Missionen teil; in anderen Fällen beteiligte sie sich an Kampfeinsätzen.

Wie dieser Beitrag zeigen soll, hat den Auslandseinsätzen trotz der von Bundeskanzler Olaf Scholz beschriebenen Zeitenwende nicht die Stunde geschlagen. Das zeichnet sich in programmatischen Reden von Regierungsmitgliedern ab und auch in Beschlüssen des Bundestags, dank derer das Mandat mehrerer Auslandseinsätze weiterläuft – und das nachdem Russland am 24. Februar 2022 seinen großangelegten Versuch begonnen hatte, die Ukraine als souveränen Staat zu zerstören. Das weltweite Konfliktgeschehen schafft für die absehbare Zukunft eine Nachfrage nach Staaten, die an Friedens- oder Stabilisierungsmissionen teilnehmen, und diese Bitten können Deutschland und andere NATO-Mitglieder nicht dauerhaft zurückweisen. Zudem droht sich im Zuge der von Russland erklärten Konfrontation mit dem „kollektiven Westen“ die Lage in manchen Konfliktregionen so sehr zuzuspitzen, dass hier Auslandseinsätze fortgeführt oder sogar erst begonnen werden.

Kerngeschäft und Nebentätigkeit

„Es ist klar, dass die Einsätze unserer Soldatinnen und Soldaten nicht mehr automatisch tausende Kilometer entfernt von Flensburg oder Freiburg sein werden. Trotzdem bleiben auch diese Einsätze wichtig“, hat Außenministerin Annalena Baerbock für die Entwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie angekündigt. Vor kurzem sah Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in ihrer Grundsatzrede zur Sicherheitsstrategie eine nachgeordnete Rolle für Auslandseinsätze: „Mit Blick auf die Bundeswehr stehen Landes- und Bündnis-Verteidigung künftig an erster Stelle unserer Prioritätenliste. Kerngeschäft ist wieder Kerngeschäft!“ Wenige Tage später bekräftige Kanzler Scholz: „Unsere Nationale Sicherheitsstrategie wird die Lektionen der Zeitenwende berücksichtigen – Landes- und Bündnisverteidigung first“, fügte aber hinzu: „Und zugleich entsteht Sicherheit auch, indem wir von Krisen und Konflikten bedrohte Länder stabilisieren ‑ mit zivilen Mitteln und wenn nötig auch mit einem militärischen Beitrag.“ Auslandseinsätze mögen also zur Nebentätigkeit werden, doch Nebentätigkeiten sind anzumelden. Daher steht die Nationale Sicherheitsstrategie vor der Aufgabe, zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr Stellung zu beziehen.

Keine Zeitenwende bei laufenden Einsätzen

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Baerbock an dem Tag, als Russland den Überfall auf die Ukraine begann. In Sachen Auslandseinsätze der Bundeswehr bewegte sich danach die Welt allerdings weiterhin in bekannten Bahnen. Nach dem 24. Februar verlängerte der Bundestag die Mandate für die Einsätze im Südsudan und Mittelmeer (Sea Guardian und EUNAVFOR MED Irini), in Mali (MINUSMA und EUTM) sowie im Libanon und Kosovo. Zudem nahm die Bundeswehr wieder am Einsatz in Bosnien und Herzegowina teil. Im September 2022 wirkten mehr als 2.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an zehn Auslandseinsätzen mit. In den laufenden Einsätzen diente insgesamt deutlich weniger Personal als früher. Allein in Afghanistan waren bis zu 5.350 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr stationiert. Doch zu einem Ende deutscher Auslandseinsätze kam es weder nach dem Scheitern dort noch nach Russlands Überfall auf die Ukraine.

Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gab es seither einige Gelegenheiten, Friedensmissionen ein weiteres Mandat zu verweigern. Gereicht hätte dafür das Veto eines der fünf ständigen Mitglieder, darunter Russland, die USA, Frankreich und das Vereinigte Königreich. Obwohl sich Russland in einer Konfrontation mit dem „kollektiven Westen“ sieht, verlängerte der Sicherheitsrat die Mandate für die Missionen im Südsudan (UNMISS), an der Grenze zwischen Sudan und Südsudan (UNISFA), auf den Golanhöhen (UNDOF), in Mali (MINUSMA) und Zypern (UNFICYP) sowie im Libanon (UNIFIL). Angesichts dieser Beschlüsse zeichnet sich für die absehbare Zukunft kein Ende aller UN-Einsätze ab.

Einsätze in Reaktion auf das Konfliktgeschehen weltweit

Ein Großteil der multilateralen Militäreinsätze findet in laufenden bewaffneten Konflikten statt oder nach deren Beendigung. Interventionen erfolgen bei weitem nicht überall, sondern nur in einem Teil der bewaffneten Konflikte. Unter anderem beeinflussen Dauer, Intensität, Komplexität und geographische Lage eines Konflikts sowie die Interessen und militärischen Fähigkeiten potentieller Intervenierender, ob es zu einem Eingreifen kommt.

Für das Jahr 1991 ermittelte das Uppsala Conflict Data Program (UCDP) mit 53 Fällen einen vorläufigen Höchststand bewaffneter Konflikte, an denen auf mindestens einer Seite die Regierung eines Staates beteiligt war. Für 2019 und 2020 erfasste UCDP jeweils 56 solcher Konflikte, für 2021 noch 54. Seit 2015 gab es kein Jahr mit weniger als 50 Konflikten mit staatlicher Beteiligung. Blickt man auf die Zahl der Opfer von Kämpfen und Angriffen auf Zivilpersonen in diesen Konflikten, zeigen sich die letzten zehn Jahre als viel blutiger als die Dekade davor. Selbst wenn viele der laufenden bewaffneten Konflikte bald enden sollten, wird es eine große Nachfrage nach Teilnahme an Friedensmissionen geben, und seien es friedenserhaltende Einsätze. Neben den Vereinten Nationen können die Regierungen der Zielländer selbst andere Staaten um die Stationierung von Truppen bitten. Deutschland und seine Verbündeten können sich kaum derart gegen solche Anfragen sperren, dass es keine Auslandseinsätze mehr geben wird. Die Verbündeten kommen hier ins Spiel, da die Bundesrepublik etwa ihr Engagement in Mali nicht zuletzt mit Solidarität mit Alliierten begründete. Ähnliche Konstellationen lassen sich für die Zukunft erwarten.

Im Mai 2022 stellten die NATO-Mitglieder knapp sieben Prozent der Truppen in friedenserhaltenden Einsätzen der Vereinten Nationen. Dieser Anteil ergibt aus den Angaben auf der Website zum UN peacekeeping. Demgegenüber steht, dass nach Informationen der Military Expenditure Database des Stockholm International Peace Research Institute 2021 rund 56% der weltweiten Rüstungsausgaben in den NATO-Staaten anfielen. Zwar beteiligen sich NATO-Mitglieder auch an Friedensmissionen, die über ein UN-Mandat verfügen, nicht aber von den Vereinten Nationen durchgeführt werden, etwa in Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo. Dennoch bleibt eine Diskrepanz zwischen den Militärausgaben der NATO-Staaten und ihrer Teilnahme an vom Sicherheitsrat autorisierten Einsätzen. Diese Lücke dürfte mit den angekündigten Mehrausgaben fürs Militär bestehen bleiben, wenn nicht wachsen. Das wird zu Appellen unter anderem des UN-Generalsekretärs führen, weiterhin zu internationalen Friedenseinsätzen beizutragen, und das finanziell wie auch mit Personal. Diese Appelle kann die Bundesregierung nicht konsequent ignorieren, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie, wie zu erwarten, weiterhin die wichtige Rolle der Vereinten Nationen hervorhebt.

Mit Auslandseinsätzen Russlands Einfluss eindämmen

Der Überfall auf die Ukraine stärkt auch auf direktem Weg das Interesse, an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Offenkundig versucht Russland, mit der Einschränkung oder dem vollständigen Stopp des Exports von Gas und Öl dem Westen so hohe Kosten aufzuerlegen, dass er der Ukraine weniger oder gar keine Waffen und andere Hilfe mehr liefert und diese dazu drängt, sich mit dem Verlust von Gebieten abzufinden. Wie zu befürchten steht, zielt Russland zudem darauf ab, den prekären Frieden in einigen Konfliktregionen zu destabilisieren und so dem Westen zusätzliche Kosten zu verursachen, etwa durch Fluchtbewegungen. Dabei ist vor allem an Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina zu denken. Pläne der Destabilisierung funktionieren nur, wenn die von Russland unterstützten Kräfte dies zulassen, und das ist keineswegs ausgemacht. Dennoch sieht der Bundestag hier einen Grund für den Wiedereinstieg in den friedenserhaltenden Einsatz in Bosnien und Herzegowina. Der angenommene Antrag der Bundesregierung spricht von der „Gefahr, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine […] als Katalysator für eine weitere Destabilisierung Bosnien und Herzegowinas genutzt werden könnte.“ Da die befürchtete Destabilisierung die Solidarität mit der Ukraine schwächen kann, dient die Teilnahme am Einsatz in Bosnien und Herzegowina auch dazu, der Ukraine am Balkan beizustehen.

Ziele und Bedingungen von Auslandseinsätzen in der Sicherheitsstrategie

Soll die Nationale Sicherheitsstrategie, wie Lambrecht erklärte, der Orientierung, Kommunikation und Steuerung dienen, dann muss sie auf Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets eingehen. Nimmt man die genannten drei Funktionen ernst, darf man erwarten, dass die Sicherheitsstrategie darlegt, welche Ziele welche Arten von Auslandseinsätze verfolgen, unter welchen Bedingungen sie begonnen oder nicht begonnen, fortgeführt oder beendet werden und welche spezifischen Beiträge Deutschland leisten kann oder möchte. Dabei sollte die Sicherheitsstrategie über den Koalitionsvertrag hinausgehen, der stichpunkmäßig eine politische Einbettung und ein multilaterales und völkerrechtskonformes Vorgehen nennt, noch vor dem Einsatz eine kritische Auseinandersetzung über diesen und die Vorlage möglicher Exit-Strategien verlangt sowie für die Zeit des Einsatzes begleitende Evaluierung verspricht. Kaum weiterhelfen können Aussagen, die ohne Konkretisierung Leerformeln bleiben, so wie der Ruf nach „realistischen Zielen.“ Warnen möchte ich zudem vor der verbreiteten Vorstellung, Erfolg oder Scheitern eines Einsatzes resultiere vor allem oder ausschließlich aus den Mitteln, der Entschlossenheit und dem Vorgehen der Intervenierenden. Nach dem Scheitern in Afghanistan warf der Bundestag die Frage auf, wo die „Grenzen des Machbaren“ in Auslandseinsätzen liegen. Das Parlament hat erst damit begonnen, Lehren aus Afghanistan zu ziehen, und dieser Prozess wird bei Präsentation der Nationalen Sicherheitsstrategie noch andauern. Gleichwohl wäre es erfreulich, wenn dieses Papier ein Nachdenken über die Grenzen des Machbaren erkennen ließe.

Thorsten Gromes
Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

Thorsten Gromes

Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

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