In den Nachtstunden des 8. Juli beschloss der Bundestag einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den letzten anderthalb Jahren des Afghanistan-Einsatzes. Noch am gleichen Tag setzte er darüber hinaus eine Enquete-Kommission ein, die Lehren aus dem gesamten militärischen und zivilen Einsatz formulieren soll. Was können die beiden unterschiedlich ausgerichteten Gremien zur Aufarbeitung des internationalen Scheiterns in Afghanistan beitragen?
Die Wortbeiträge im Bundestag markierten gegensätzliche Erwartungen. So erklärte Michael Müller (SPD), der den Vorsitz der Enquete-Kommission übernimmt: „Wir hinterlassen ein bitterarmes, zerrissenes und dysfunktionales Land. […] Aus begangenen Fehlern, falsch gesetzten Prioritäten, aus unrealistisch gesetzten Zielen müssen wir lernen. In der Enquete-Kommission haben wir […] die Chance dazu“.1 Darauf erwiderte Sevim Dağdelen von der Linken im schrillen Ton: „Sie wollen […] die Öffentlichkeit weiter täuschen, um dann zu sagen: Wir machen weiter mit neuen Afghanistans“.2
Der Untersuchungsausschuss und die Enquete-Kommission des Bundestages ergänzen die Bilanzierung des Einsatzes, die verschiedene Bundesministerien bereits begonnen haben.3 Ein Untersuchungsausschuss kann Zeugen und Sachverständige vernehmen und sich Beweismittel vorlegen lassen.4 Parlamentarische Untersuchungsausschüsse gelten gemeinhin als Gremien, die skandalisieren, polarisieren und personalisieren.5 Hingegen sollen Enquete-Kommissionen „Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“ vorbereiten.6 In diesem Sinne arbeitet eine Enquete-Kommission zukunftsorientiert, während ein Untersuchungsausschuss auf vergangene Ereignisse fokussiert. Anders als dieser besteht eine Enquete-Kommission nicht nur aus Abgeordneten, sondern umfasst zudem eine gleiche Zahl von externen Sachverständigen.
Dieses Spotlight diskutiert, was die beiden parlamentarischen Gremien für die Aufarbeitung des Einsatzes in Afghanistan leisten können. Zunächst geht es um den Auftrag an den Untersuchungsausschuss, die Entwicklungen ab Ende Februar 2020 aufzuarbeiten.7 Damals war in Doha vereinbart worden, dass in naher Zukunft die USA und ihre Partner alle Streitkräfte aus Afghanistan abziehen.8 Ausführlicher als dem Untersuchungsausschuss widmet sich das Spotlight der Enquete-Kommission zu Afghanistan, die den gesamten Einsatz von 2001 bis 2021 auswerten soll. Es erörtert, was der Bundestag von diesem Gremium erwartet und wieweit es neues Wissen und Lehren aus dem Afghanistan-Engagement für andere potenzielle Einsätze verspricht.
Der Untersuchungsausschuss
Mit den Stimmen von SPD, Union, Grünen und FDP hat der Bundestag den parlamentarischen Untersuchungsausschuss auf den Weg gebracht. Die AfD lehnte den entsprechenden Antrag ab, während die Linke sich enthielt.10
Konkret beauftragt der Bundestag den Untersuchungsausschuss, 38 Fragen zu klären, darunter die Frage nach damals vorliegenden Informationen zur Stabilität der afghanischen Regierung und Sicherheitskräfte und deren Rückhalt in der Bevölkerung. Zudem fordert der Bundestag Lehren für die Fehlervermeidung in den beteiligten Ressorts, künftige Evakuierungseinsätze und den Schutz von Ortskräften.11
Angesichts der weitgehenden Befugnisse eines Untersuchungsausschusses kritisierten AfD und die Linke die Vorgabe, den auszuwertenden Zeitraum auf die letzten anderthalb Jahre des Einsatzes zu beschränken. Die AfD legte einen Antrag vor, der eine Untersuchung der gesamten Einsatzdauer verlangte.12 Auch die Linke forderte, die Gesamtdauer des Einsatzes zu untersuchen: Die Enquete-Kommission „könne diese Aufgabe nicht leisten, da […] ihr die Mittel der Strafprozessordnung nicht zur Verfügung stünden.“13
Dem Untersuchungsausschuss sitzt Ralf Stegner (SPD) vor. In der Plenardebatte am 23. Juni erklärte er, der Gesamtzeitraum des Afghanistan-Einsatzes sei zu lang für eine Aufarbeitung durch den Untersuchungsausschuss. Auch gehe es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um die Vermeidung künftiger Fehler. Ähnlich äußerten sich beim gleichen Anlass Johann David Wadephul von der CDU und Agnieszka Brugger von den Grünen.15
Der Untersuchungsausschuss zu Afghanistan wurde im Einvernehmen der Regierungsmehrheit mit der größten Oppositionsfraktion eingesetzt. Er beleuchtet die letzte Phase der Großen Koalition. „Das ist genau der Grund, warum dieses Gremium kein Kampfinstrument sein wird“, hofft Stegner.16 Hier mag es eine Rolle spielen, dass Angela Merkel, Heiko Maas, Annegret Kramp-Karrenbauer, Gerd Müller und Horst Seehofer nicht mehr im Amt sind. Der politischen Konkurrenz nutzt es weniger, wenn sie nur ehemaligen Regierungsmitgliedern, nicht aber gegenwärtig Verantwortlichen Versäumnisse vorhalten kann. Es bleibt abzuwarten, wie sehr Union und SPD einen Nichtangriffspakt schließen nach dem Schema „Schont Ihr Merkel, schonen wir Maas.“ Zeigen muss sich zudem, ob Grüne und FDP aus Rücksicht auf die SPD auch Nachsicht mit der Union demonstrieren werden. AfD und Linke hingegen, so legen die Auftritte in den Plenardebatten nahe, werden ihre Chance suchen, das Handeln der damaligen Regierung zu skandalisieren.
Teilt man das Anliegen des Lernens, scheint es vielversprechend, die Aufarbeitung nicht zu sehr auf die Verantwortung früherer Entscheiderinnen und Entscheider zu fokussieren. Geht aber das gegenseitige Schonen zu weit, dürfte das Einsichten in Interessenlagen, Arbeitsabläufe und Entscheidungswege verhindern, und solche Einsichten wären erforderlich, um ähnliche Fehler in der Zukunft zu vermeiden.
Auftrag der Enquete-Kommission
Zusammen mit der CDU/CSU haben die Fraktionen der Ampelregierung des Weiteren beschlossen, eine Enquete-Kommission zu Lehren aus Afghanistan einzusetzen. AfD und die Linke stimmten dagegen.17
Im Einzelnen fordert der Bundestag von der Enquete-Kommission eine Aufarbeitung von 26 Punkten zu den handlungsleitenden Strategien und Interessen, den gesetzten Zielen, den verwendeten Instrumenten und der Organisation des Einsatzes. Zudem wünscht er sich Lehren zu 40 Stichpunkten, darunter zur Zielsetzung, zum Aufbau von Institutionen oder zur Stärkung von Mädchen und Frauen. Im Fokus steht der Vernetzte Ansatz. „Dieser umfasst die Koordinierung und Abstimmung von militärischen, polizeilichen, diplomatischen, entwicklungspolitischen und humanitären Ressourcen, die gebündelt, zielgerichtet und somit optimiert eingesetzt werden sollen.“18 Ihre Ergebnisse soll die Enquete-Kommission spätestens nach der parlamentarischen Sommerpause 2024 vorlegen.19
Die Enquete-Kommission einzusetzen, markiert eine begrüßenswerte Abkehr von der einst im Parlament prominent vertretenen Position, jeder Fall sei anders, ein Unikat.20 Aus dieser Sicht gab es aus einem Fall für andere (potenzielle) Einsatzorte nicht viel zu lernen. Es erhöht die Erfolgschancen der Enquete-Kommission, dass sich der Untersuchungsausschuss den letzten Jahren und dem katastrophalen Ende des Afghanistan-Einsatzes widmet. Das kann die Enquete-Kommission von dem tagespolitisch brisantesten Punkt entlasten, der Fragen zum Gesamteinsatz womöglich überstrahlt hätte. Sinnvollerweise soll sich die Aufarbeitung nicht auf die deutschen Beiträge beschränken, sondern deren internationale Einbettung berücksichtigen. Gut ist auch, dass die die Enquete-Kommission „Standards und Systematiken zur laufenden und zukünftigen Evaluierung von Einsätzen“ erörtern wird.21
Zwischen Differenzierung und Relativierung
Dennoch gibt es Anlass zur Skepsis, ob die Enquete-Kommission den Afghanistan-Einsatz so kritisch aufarbeiten wird wie nötig. Bei aller gebotenen Differenzierung deutet sich eine Überbetonung vermeintlicher Erfolge an. Beispielsweise bilanzierte Alexander Müller (FDP): „Wir haben einer ganzen Generation von Afghaninnen und Afghanen ermöglicht, […] Demokratie und Freiheit zu erleben.“22 Die Daten von „Quality of Government“ vermitteln ein anderes Bild: Auf einer Demokratie-Skala von null bis zehn kam Afghanistan während des internationalen Einsatzes nicht über den bescheidenen Wert von 3,7 hinaus.23
Gerne werden auch die größeren Bildungschancen während des Einsatzes hervorgehoben, so von Außenministerin Annalena Baerbock: Dank der internationalen Präsenz hätten Generationen von Kindern zur Schule gehen können.24 Tatsächlich hat sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die eine weiterführende Schule besuchten, während des Einsatzes mehr als vervierfacht.25 Es fragt sich aber, ob die enormen Kosten in einem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag standen. Allein das deutsche Engagement kostete 17,3 Mrd. €.26 Hätten sich anderswo mit viel weniger Mitteln größere und nachhaltigere Erfolge in Sachen Bildung erreichen lassen?
Baerbock erklärte zudem, die Aufarbeitung könne das Credo bekräftigen, der Afghanistan-Einsatz sei nicht vergebens gewesen.27 Die erwähnten Plenardebatten machten deutlich, dass sie damit nicht alleine stand. Hier klingt das Motiv der nachträglichen Legitimation an. Die Aufarbeitung sollte differenzieren, sich jedoch davor hüten, das Scheitern in Afghanistan zu relativieren.
Lernen für künftige Entscheidungen
Der Auftrag an die Enquete-Kommissionen fordert wiederholt, das Gremium solle Lehren ziehen, damit es künftige Einsätze besser machen können. Stets geht es dabei um das Wie künftiger Einsätze, nicht um das Ob. Es fehlt der ausdrückliche Auftrag, auf Basis der Erfahrungen in Afghanistan auch zu erörtern, welche Arten von Einsätzen unter welchen Bedingungen gar nicht erst begonnen werden sollten.28
Einige Lehren für künftige Einsätze werden Entscheidungsprozesse in Bundestag und Bundesregierung betreffen. Für diese spielt es eine eher untergeordnete Rolle, in welcher Hinsicht sich Afghanistan von anderen Fällen abhebt oder diesen ähnelt. Die vergleichende Einordnung von Afghanistan ist aber umso wichtiger, wenn es um Schlussfolgerungen für Ziele, Instrumente und erwartete Wirkungen in anderen potenziellen Einsatzorten geht. Dazu nur zwei Andeutungen: Zum einen sah sich der Einsatz in Afghanistan mit einem anhaltenden Aufstand konfrontiert, und das in einem Land von nahezu der doppelten Fläche Deutschlands. Aus dem Scheitern in Afghanistan folgt nicht, dass friedenserhaltende Einsätze nach beendeten Kriegen in deutlich kleineren Staaten fehlschlagen müssen. In diesem Sinne ist Afghanistan nicht überall. Zum anderen treten aus Afghanistan bekannte Probleme auch in anderen Fällen auf. Was bleibt von erzielten Fortschritten, wenn der Einsatz beendet ist? Wie viel können Abgeordnete, Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Kräfte über das Zielland wissen, etwa über Präferenzen und Loyalitäten wichtiger Akteure? In diesem Sinne ist Afghanistan kein Ausnahmefall, aus dem es nichts zu lernen gibt.
Die Enquete-Kommission als Team Wissenschaft?
In der Plenardebatte verwies die Sozialdemokratin Derya Türk-Nachbaur auf die Mitarbeit „von politisch neutralen Sachverständigen“ und erklärte: „Die Enquete-Kommission ist das Team, das Wissen schafft, es ist das Team Wissenschaft.“29 Hier sei vor falschen Erwartungen gewarnt. Das Einbeziehen externer Fachleute macht aus einer Enquete-Kommission keine Forschungseinrichtung.30 Die Sachverständigen werden von den Fraktionen benannt, und die prüfen neben der fachlichen Eignung auch, ob die zu nominierenden Expertinnen und Experten mit der eigenen Position zum Thema kompatibel sind. Entsprechend nehmen die anderen Kommissionsmitglieder die Sachverständigen als einer Fraktion nahe stehend wahr. Auch Fachleute, die zu Anhörungen oder schriftlichen Stellungnahmen eingeladen werden, durchlaufen eine Auswahl unter politischen Vorzeichen. Gleichwohl können die Ausgewählten wichtige Fertigkeiten, Erfahrungen und Wissensbestände einbringen.
Im Lichte früherer Enquete-Kommissionen lässt sich Folgendes erwarten.31 Wenn es gut läuft, werden die Abgeordneten mit dem Stand der Forschung zu Afghanistan und zu verschiedenen Instrumenten von Auslandseinsätzen konfrontiert. Die Kommission wird aber kaum neues Wissen schaffen, von Einblicken in Arbeits- und Entscheidungsabläufe der Bundesregierung und anderer Beteiligter abgesehen. Je mehr die Abgeordneten ein offenes Ohr auch für die von anderen Fraktionen benannten Expertinnen und Experten haben, desto besser können sie Orientierungswissen für künftige Entscheidungen über Auslandseinsätze gewinnen. Dennoch werden die im Bericht festgehaltenen Empfehlungen nicht unbedingt die Mehrheit in der wissenschaftlichen Debatte spiegeln, sondern die politische Mehrheit in der Kommission. Abweichende Ansichten werden als Sondervoten in den Bericht einfließen.
Das alles ist nicht als Geringschätzung der Enquete-Kommission zu verstehen. Sie verbessert dennoch die Chancen darauf, dass die deutsche Politik Lehren aus dem Einsatz in Afghanistan zieht.
Download (pdf): Gromes, Thorsten: Lehren aus Afghanistan – Der Untersuchungsausschuss und die Enquete-Kommission des Bundestages, PRIF Spotlight 7/2022, Frankfurt/M.
DOI: 10.48809/prifspot2207.