Begriffe wie Rassismus, Nationalismus, Ethnizität und Kulturalisierung haben in den Diskussionen der letzten fünf Jahrzehnte um die Migrationsthematik in der Einwanderungsgesellschaft immer wieder neue Konjunktur erfahren. Ob im wissenschaftlichen Kontext oder in der (politischen) Praxis, in den Medien oder im gesellschaftlichen Alltag, über diese Begriffe werden wichtige Debatten zur Einwanderungsgesellschaft geführt. Allerdings haben diese Diskussionen auch den Weg für kontroverse Auseinandersetzungen geebnet und damit auch ethnisch-nationalistische Einstellungen und Mobilisierungsformen gestärkt. Worin liegen die Motive und Faktoren für diese Entwicklung?
Im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext, aber auch innerhalb der politischen Bildung in Deutschland wurden die (rechts-)nationalistischen Einstellungen in der Migrationsbevölkerung lange ausgeblendet. Nun wird aber seit einigen Jahren sowohl in der politischen Bildungsarbeit als auch in der Migrationsforschung darüber diskutiert, ob es spezifische Formen von „Nationalismus“, „Rassismus“ und „Antisemitismus“ in der Migrationsgesellschaft gibt. Die Problematisierung eines migrantischen (Rechts-)Nationalismus und Rechtsextremismus im gesellschaftspolitischen Diskurs verlief über mehrere Jahre konträr zur rassismuskritischen Auseinandersetzung hierzulande, die Menschen mit Zuwanderungshintergrund in erster Linie als Objekte und nicht als Subjekte von Rassismus beschrieb. Jedoch zeigen die aktuellen Entwicklungen, dass rechtsextreme, rassistische und antisemitische Einstellungen mehr denn je ein internationales Phänomen widerspiegeln und auch in der deutschen Migrationsgesellschaft vorhanden sind.
Die ethnisch-nationalistische Mobilmachung von Türkeistämmigen in Deutschland, insbesondere nach der gescheiterten türkischen Militärintervention im Juli 2016, die Auseinandersetzungen im Zuge des türkisch-kurdischen Konflikts in der Türkei und in Syrien, die ethnisch-nationalistische Mobilmachung durch die Grauen Wölfe, die öffentliche Diffamierung und Bedrohung von deutschen Politikerinnen und Politikern im Zuge der Armenien-Resolution des Bundestages 2016 und, nicht zuletzt, die israelfeindlichen Demonstrationen und Aktionen von arabisch- und türkeistämmigen Jugendlichen im Dezember 2017 in Berlin sind nur einige Beispiele für diese aktuellen Entwicklungen. Diese Phänomene zeigen letztendlich, dass auch in der Einwanderungsgesellschaft eine neue Qualität von (rechts-)nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Einstellungen an Nährboden gewonnen hat.
Die Wechselbeziehung zwischen Nationalismus und Islam
In der differenzierten Analyse dieser Entwicklungen begegnen wir zunächst einem Dilemma. Es hat seine Ursache in dem Zusammentreffen und in der Darstellung der Phänomene Nationalismus und Islam. Hier geht es vor allem um die Wechselbeziehung und um die Verbindungslinien zwischen Islamismus und den Merkmalen von (Rechts-)Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus in den verschiedenen migrantischen Communities. So sind zwar nicht alle islamistischen Einstellungen unbedingt ethnisch-nationalistisch, aber dennoch gibt es beispielsweise bei den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ durch die türkisch-islamische Synthese eine enge Verflechtung zwischen Nationalismus und Islamismus. Als gemeinsamer Kern zeigt sich eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die verschiedene diskriminierungsbezogene Symptome oft gleichzeitig und in Wechselwirkung auftreten lässt.
Re-Ethnisierung und Radikalisierung durch den Import von Konflikten
Gerade im Zuge der Globalisierungs- und Pluralisierungsprozesse haben Re-Ethnisierungstendenzen ein Revival erfahren und auch der Islam hat mit Blick auf religiös begründete Radikalisierungen insbesondere nach dem 11. September 2001 an Bedeutung gewonnen. So gewinnen einerseits Muslimenfeindlichkeit und andererseits islamistische sowie extrem nationalistische Einstellungen in der Einwanderungsgesellschaft immer mehr an Nährboden. Daher rückt im gesellschaftspolitischen Diskurs verstärkt die Diskussion um kulturell-religiöse und nationale Identitäten in das Blickfeld der sozialpolitischen Auseinandersetzungen. Hier geht es vor allem um eine neue Form von „ethnischem Nationalismus“ als eine der zutreffenden Beschreibungen für die (rechts-)nationalistischen und rassistischen Einstellungen der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Gerade am Beispiel von (rechts-)nationalistischen Vereinigungen (z.B. Graue Wölfe, Osman Germania, MC Turkos, Turan) von türkeistämmigen Menschen erkennen wir, dass es ein Rückzug auf die Konstruktion von Ethnizität gibt. Verbunden mit diversen Mythen wird die eigene Nation hochgeschätzt, während anderen ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen mit Geringschätzung und Verachtung begegnet wird. Es sind diese rechtsextremen und antisemitischen Einstellungen in Teilen der in Deutschland lebenden Migrationsbevölkerung, die einen Mobilisierungsraum für Radikalisierung schaffen.
Dass eine Radikalisierung durch den Import von innenpolitischen Konflikten der migrationsspezifischen Herkunftsgesellschaften zu Zerklüftungen und Konflikten führt, zeigt sich gegenwärtig insbesondere in der Auseinandersetzung um Türkeithemen, die Palästina-Frage sowie die Kurdenpolitik und die Armenier-Frage. Je mehr sich die Konfliktlinien in den sogenannten Herkunftsgesellschaften zuspitzen, desto eher bilden sich auch innerhalb der migrantischen Communities in Deutschland Verwerfungen und Spaltungslinien, die zum Teil gewalttätig eskalieren. Die Bedrohung von Abgeordneten im Zuge der Armenien-Resolution des Bundestags 2016, die Eskalationen im Kontext des türkisch-kurdischen Konflikts und des Syrien-Einmarsches der Türkei oder auch die Spannungen um den Wahlkampfauftritt von türkischen Politikerinnen und Politikern sind hier beispielhaft zu nennen. Diese politischen Konflikte bewegen viele Menschen und nehmen bisweilen extrem radikalisierte Formen an. Zugleich zeigen gerade diese Auseinandersetzungen in welchem Maße gesellschaftliche und nationale Probleme hierzulande ethnisiert werden.
Die Entwicklung lässt sich als Selbstethnisierung und Selbstabschottung beschreiben. Sie hat ihre Ursachen einerseits in der Aufnahmegesellschaft, die durch eine gescheiterte Integrationspolitik die gesellschaftliche Spaltungslinie zwischen dem „wir“ und „sie“ weiter vertieft hat, gepaart mit einem rechtspopulistischen und muslimenfeindlichen Klima. Andererseits werden Konflikte importiert und entlang der jeweiligen Konfliktlininen entstehen „politische Lager“. Gerade durch den Import der politischen Auseinandersetzungen in der Türkei erhalten nationalistische Strömungen wie beispielsweise die Grauen Wölfe oder auch Ablegerorganisationen der Regierungspartei AKP neuen Aufwind. Mit dem Sammelbegriff „Europäisches Türkentum“ versuchen diese Akteure die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland für eine türkisch-nationalistische Identität zu mobilisieren. Im Resultat verursachen die Spannungen im Herkunftsland eine ähnlich gewaltförmige Vitalisierung von Re-Ethnisierungsprozessen im Aufnahmeland.
Die Bundesrepublik ist von diesem Prozess in doppelter Hinsicht betroffen: einerseits haben sich nahezu alle Konflikte der Türkei nach Deutschland verlagert und andererseits ist ein Mobilisierungspotenzial entstanden, das die soziale und politische Situation in der Türkei widerspiegelt. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der Türkei beeinflussen die politische Orientierung der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland also stark und führen zu Radikalisierungserscheinungen. Zwei wesentliche Formen hiervon sind der „ethnische“ Rechtextremismus und der Islamismus/Salafismus.
„Ethnischer“ Rechtsextremismus: In den letzten Jahren ist stärker zu beobachten, dass beispielsweise (rechts-)nationalistische türkische Organisationen wie die Grauen Wölfe bundesweit an Zuwachs gewinnen. Vor allem haben sich diese Organisationen überall zu Selbsthilfeorganisationen entwickelt, die Einfluss auf Kultur- und Elternvereine, Moscheen und das soziale Leben der türkeistämmigen Zuwanderer und Zuwanderinnen ausüben und auch eine wichtige Basis bei den männlichen Jugendlichen gewinnen konnten. Diese Organisationen propagieren hier vor allem die bereits erwähnte Mobilisierung des „europäischen Türkentums“ als ideologische Repräsentanz für die türkisch-islamische Identität in Deutschland. Ebenso werden nationalistische Ideologien konfliktartig gegen ethnische Minoritäten (wie beispielsweise gegen Armenier, Kurden, Aleviten, Eziden u.ä.) verbreitet. Entstanden ist eine neue „ethnische“ Form von Rechtsextremismus.
Islamismus/Salafismus: Im Kontext der Radikalisierung von Jugendgruppen in der Migrationsgesellschaft hat sich hierzulande auch der gewaltbereite „Islamismus“ und „Salafismus“ etabliert. Für große Aufmerksamkeit sorgen insbesondere seit 2005 die zunehmenden Aktivitäten von verschiedenen salafistischen und islamistischen Gruppen in Deutschland. Durch missionierende „Da’wa“-Arbeit, mediale Präsenz, Social Web, Koran-Verteilungsaktionen (Aktion „LIES!“), Gewaltbereitschaft, Protest und Provozierung von Konflikten (z.B. Scharia-Polizei) fordern die verschiedenen islamistischen und salafistischen Bewegungen die gesamte Gesellschaft heraus. Vor allem da sie eine religiöse Legitimation für eine insbesondere in den letzten Jahren stärker verhärtete ideologische Auseinandersetzung im globalen Kontext entwickeln.
Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft
Der Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft zeigt sich gerade in diesem Diskurs als „flexibler Code“, der eine Schnittstelle zwischen dem „ethnischen Rechtsnationalismus“, „Islamismus/Salafismus“ und dem Rechtsextremismus bildet. Seit längeren Jahren wird in Deutschland kontrovers über die Auswirkungen des Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft diskutiert. Studien belegen, dass gerade antisemitische Einstellungen unter arabisch- und türkeistämmigen Jugendlichen höher liegen. Ein möglicher Faktor hierfür ist die politische und radikale Auslegung des Islams. So propagieren islamistische Bewegungen antisemitische Verschwörungstheorien und rufen zum „Kampf gegen die Juden“, auch unter Berufung auf religiöse Schriften auf. Dabei bildet die Aufladung des Nahostkonflikts, insbesondere der Palästina-Frage einen Dreh- und Angelpunkt. Gerade die aktuellen Entwicklungen zeigen, welche Form von Radikalität – auch geprägt durch Fernsehen, Medien und Online-Angebote – der Nahost-Konflikt evozieren und provozieren kann. Hinzu kommt, dass in der Wahrnehmung zahlreicher muslimischer Jugendlicher hierzulande der jüdischen Bevölkerung als einziger Gruppe ein Opferstatus zuerkannt wird, während ihre eigenen Rassismuserfahrungen ignoriert und ausgeblendet werden.
Die Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen und der politischen Bildung muss darin bestehen, Ursachen und Motive für die Entstehung und Verbreitung von rechtsextremen und antisemitischen Einstellungen unter Teilen der Migrationsbevölkerung kritisch zu analysieren, gelingende Konzepte zu entwickeln und zu transferieren. Gerade durch eine Politik der Anerkennung muss ein gemeinsames „Wir“ entwickelt werden und der Selbstethnisierung und -abschottung entgegengetreten werden. Es gilt eine Balance zwischen Anerkennen und Abgrenzen herzustellen, da es hier einerseits um Respekt gegenüber Herkunft sowie Identität geht und andererseits um die Abgrenzung gegenüber allen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – wie bspw. „ethnischer“ Rechtsextremismus. Dieser gesellschaftspolitische Balanceakt erfordert angesichts der Zunahme existierender Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozesse ein hohes Maß an Sensibilität, Offenheit und gesellschaftlicher Verantwortung.