Eine der geläufigsten Definitionen von Krise bezeichnet diese als Wendepunkt, als „turning point for better or worse“ (aus dem Merriam-Webster Wörterbuch). In Krisen kann also Schlimmeres noch verhindert werden. Hierfür ist allerdings schnelles Handeln unter fundamentaler Unsicherheit notwendig. Erschwerend kommt hinzu, dass Krisen, wie die Corona-Pandemie, komplexe und multilokale Geschehen sind, die sich nicht an einer Stelle ‚lösen‘ lassen. Um diese Krise zu bewältigen, werden derzeit auf verschiedenen Ebenen Krisenbewältigungs-Strukturen aktiviert. Expert*innen sind hierbei – im wahrsten Sinne des Wortes – ‚gefragt‘, da sie wichtiges Fachwissen zur Entscheidungsfindung einbringen. Krisen stellen dabei einen komplett anderen Rahmen für Beratung dar als andere Beratungskontexte.
Bei der Corona-Krise sprechen wir von einer sog. „transboundary crisis“. Dies ist ein etablierter Begriff aus der Krisenforschung, der unter anderem in Publikationen von Arjen Boin geprägt wurde. Es handelt sich um ein eskalierendes Geschehen, das sich weder räumlich noch sachlich begrenzen lässt. In diesen Wochen haben wir gelernt, dass genau die Unmöglichkeit der räumlichen Begrenzung des Ausbruchs von COVID-19 eine „Pandemie“ ausmacht. Das bedeutet auch, dass territorial gebundene Handlungsmöglichkeiten (etwa die Ausrufung des Katastrophenfalls) in ihrer Gesamtwirkung begrenzt sind, wenn die Krise sich nicht auf ein Territorium beschränken lässt.
Zum anderen sind „transboundary crises“ dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht auf ein Handlungsfeld beschränken. Die Corona-Krise wird zunächst dem Gesundheitssektor zugeordnet. Ein weitgehend unbekanntes Virus droht durch seine Ausbreitung die Kapazitäten des Gesundheitssystems zu überlasten. Doch zeigen sich dieser Tage ganz deutlich die Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Gesellschaft. Neben unterschiedlichen territorialen Zuständigkeiten, müssen in der Krise also auch unterschiedliche Sachfelder berücksichtigt, Bedürfnisse abgewogen, Expertisen eingeholt und Verantwortliche zusammengebracht werden.
Ergänzend zum Konzept der „transboundary crisis“, wird derzeit auch diskutiert, ob die Corona-Pandemie als eine „creeping crisis“ eingeordnet werden kann, also als ein schleichendes Geschehen, dessen Krisenpotenzial zunächst nicht erkannt wurde und das sich dann plötzlich entfacht. Hier muss allerdings auch berücksichtig werden, dass es typisch ist, dass im Nachgang von Krisen (in der Aufarbeitung) Warnsignale identifiziert werden, wonach man diese womöglich hätte kommen sehen können.
Krisen als Handlungskontext
Was bedeuten Krisen für die Personen, die in ihnen Entscheidungen treffen müssen? Zunächst setzen sich Krisen unmittelbar auf die Prioritätenliste von Entscheidungsträger*innen. Eine Krise lässt sich nicht aussitzen oder aufschieben. Sie lässt sich auch nicht ignorieren, wie es Donald Trump in den letzten Wochen schmerzhaft erfahren musste. Sie zwingt vielmehr zum sofortigen Handeln, oder besser gesagt, sie bestraft jede Form des Nicht-Handelns schnell und in voller Härte. Das Handeln und Entscheiden allerdings – ein weiteres Charakteristikum – geschieht unter fundamentaler Unsicherheit. In Krisen ist das Wissen begrenzt. Bewältigungsstrategien und Lösungsvorschläge sind immer experimentell und zu einem gewissen Grad improvisiert. Das unterscheidet sie von anderen dramatischen Situationen, wie sie sich etwa in Notaufnahmen oder bei Verkehrsunfällen jeden Tag ereignen. Dies wiederum bringt ganz besondere Herausforderungen für diejenigen Menschen mit sich, die aufgrund ihrer formalen Position als Verantwortungsträger*innen oder aufgrund ihres spezifischen Wissens über die Krise in eine exponierte Position geraten.
Beratungs- und Entscheidungs-Rollen
Wie werden Entscheidungen in Krisen getroffen? Eine globalisierte und komplexer werdende Welt führt dazu, dass Entscheidungsträger*innen spezialisiertes Wissen nicht allein vorhalten können, sondern – gerade in transboundary crises – in ihrer Entscheidungsfindung auf Beratung angewiesen sind. Äußerst präsent in der Corona-Krise sind die Epidemiolog*innen und Virolog*innen. In unserer Forschung nennen wir diese Akteure, die krisenrelevantes Spezialwissen verkörpern „Expert*innen in Krisen“. Diese werden häufig überraschend zu zentralen Akteuren der Krisenbewältigung, sind aber bis dato nicht unbedingt mit Krisensituationen konfrontiert gewesen. Neben dem emotionalen Stress, der Krisen hervorruft, müssen Wissenschaftler*innen, die es gewohnt sind, Empfehlungen anhand von empirischer Evidenz auszusprechen, in Krisen auf Basis einer unklaren, dynamischen Datenlage Bewertungen vornehmen. In einer Krise geht es weniger darum, allgemeine Orientierung für Entscheidungsfindung zu bekommen, sondern Antworten auf konkrete, sich praktisch stellende Fragen zu geben: etwa Ausgangssperre oder Kontaktverbot; Schulschließung oder Unterricht? Die Herausforderungen für Expert*innen sind ein kommunikatives Paradoxon, denn es gilt, einerseits klare Antworten zu geben, und andererseits in verständlicher Form auf die zugrundliegenden Erkenntnis-Unsicherheiten hinzuweisen.
Der zentrale Unterschied zwischen Entscheidungsträger*innen und Expert*innen ist, dass letztere nicht legitimiert sind, eine Entscheidung zu treffen. Das ist ein entscheidender Punkt, denn mit Entscheidungen sind auch Fragen der Verantwortung und Haftung verbunden. Wenn ein/e Expert*in um Rat gefragt wird, dann geschieht dies im Bewusstsein, nicht für die Entscheidung verantwortlich zu sein und damit auch keine persönlichen Konsequenzen fürchten zu müssen. In der akuten Krise verwischt diese wichtige Unterscheidung hingegen. Kaum denkbar, dass im Rahmen einer Pandemie ein/e politische/r Entscheidungsträger*in anders entscheidet als Virolog*innen es empfehlen. Dies rückt aber beratende Akteure in eine Rolle als quasi-Entscheider*innen. Rhetorisch wird in Krisen von Seiten der Expert*innen die Abgrenzung der eigenen, beratenden Rolle im Unterschied zu Entscheidungsfunktionen besonders hervorgehoben – aber wohl vor allem als Reaktion darauf, dass ihr wachsender Einfluss auf politische Entscheidungen verstärkt kritisch gesehen wird.
Als „transboundary crisis“ hat die Corona-Krise auf sehr vielen Handlungsfeldern Entscheidungsdruck erzeugt und die wichtige Rolle von Expert*innen-Einschätzungen ist zutage getreten, etwa als der IOC-Präsident Thomas Bach auf die Mitte März noch offene Frage einer möglichen Absage der Olympischen Spiele 2020 öffentlich kundtat: „Wir werden dem Rat der WHO folgen“.
Ob sich die Corona-Krise auch als Wendepunkt zum Guten oder zum Schlechten erweisen wird, wird die Zukunft zeigen. Auch hier werden Expert*innen eine wichtige Rolle spielen – wenn auch in einem komplett anderen Handlungskontext: der Aufarbeitung der Krise. Aus Sicht der Expert*innen ist es dabei entscheidend, sich an die im Vergleich zur akuten Krise abermals veränderten Rahmenbedingungen für Beratung anzupassen. Zum Beispiel sollten sie wieder stärker die Vorzüge der Unabhängigkeit von Entscheidungen nutzen und Erkenntnisunsicherheiten, die in der akuten Krise nicht berücksichtigt werden konnten, wieder in die Beratung einzuführen.