Vom Abstieg der USA wird seit langem gesprochen. Aber dass er diese Form annehmen würde, hätte wohl kaum jemand gedacht. Wie kein anderes Ereignis macht die anstehende Präsidentschaftswahl deutlich, dass die Vereinigten Staaten längst den moral high ground, die moralische Überlegenheit, verloren haben, den sie als Führungsmacht des Westens lange beanspruchten.
Am Ende des Kalten Krieges schrieb Joseph Nye, berühmter Harvard-Professor und hohes Regierungsmitglied unter Präsident Clinton, dass die Vereinigten Staaten zum Führen bestimmt seien, bound to lead. Allerdings habe sich das Wesen politischer Macht gewandelt. Es käme nicht länger darauf an, andere Staaten und Gesellschaften zu dominieren und ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen, sondern mit weichen Formen der Macht, soft power, zu überzeugen und für liberale Werte einzutreten. Selbst wenn die USA an militärischer und wirtschaftlicher Stärke einbüßten, seien sie aufgrund ihrer moralischen Stärke die natürliche Führungsmacht der freien Welt.
Nye hätte nicht falscher liegen können. Innerhalb weniger Jahre sind die USA vom Champion der liberalen Weltordnung zu einer ihrer großen Bedrohungen geworden. Unter Präsident Trump haben sich die USA nicht nur aus zahlreichen Freihandelsverträgen zurückgezogen und Freund und Feind mit unilateralen Wirtschaftssanktionen überzogen. Sie haben auch das Eintreten für individuelle Freiheit und Menschenrechte weitgehend aufgegeben und die Demokratieförderung von der außenpolitischen Prioritätenliste gestrichen. Trump selber hat aus seiner Verachtung für multilaterale Institutionen nie einen Hehl gemacht und systematisch so wichtige Organisationen wie die NATO („obsolet“), die WTO („unfair“) oder die WHO („chinahörig“) geschwächt. Zwar besitzen die USA nach wie vor die besten Universitäten und die größte Kulturindustrie, aber die „Führung der freien Welt“ haben sie verloren. Was ihnen bleibt, ist die „harte Macht“ militärischer Zwangsgewalt.
Die gleiche Verachtung für liberale Werte zeigt Trump übrigens auch in der Innenpolitik. Die Verunglimpfung politischer Gegner und die Drohung sie einzusperren, kennt man aus Diktaturen. Die Weigerung, im Falle einer Wahlniederlage eine friedliche Machtübergabe zu garantieren, zeugt von einem unterentwickelten Demokratieverständnis. Und der Aufruf an die eigenen Unterstützer (nicht zuletzt in den zahlreichen rechten Milizen des Landes), sich im Falle eines knappen Wahlausgangs „bereit“ zu halten, muss bei jedem Bürgerkriegsforscher alle Alarmleuchten angehen lassen. Noch schlimmer als die Wiederwahl Trumps wäre ein knapper Ausgang der Wahl, ein langes Gezerre um den Sieg mit den Unwägbarkeiten gewaltsamer Unruhen in einigen Bundesstaaten.
Blogserie auf dem PRIF Blog: Die US-Wahlen 2020
Grund genug für ein Friedensforschungsinstitut, sich eingehender mit den anstehenden Wahlen zu beschäftigen. Das werden wir in dieser Blogserie in den nächsten Wochen tun und Schlaglichter sowohl auf die innenpolitischen Implikationen dieser Wahl, auf den Zusammenhalt der amerikanischen Bevölkerung, politische Radikalisierungsprozesse und die Verteidigung liberaler Freiheits- und Bürgerrechte werfen als auch auf die außenpolitischen Aspekte dieser Wahl und ihre Implikationen für die Weltordnung. Auch wenn die USA nicht so lange die Funktion einer liberalen Führungsmacht inne gehabt hatten, bleiben sie einer der potentesten Akteure in der Weltpolitik, deren Handeln oder eben auch Unterlassen nachhaltige Konsequenzen für die Ordnung in dieser Welt haben.
Ob in der Frage, ob multilaterale Rüstungskontrolle unter einer erneuten Trump-Administration noch eine Zukunft hat oder ob der Multilateralismus als Organisationsprinzip internationaler Politik überhaupt zukünftig unter Trump oder Biden überleben wird und in welcher Form, wird dabei ebenso diskutiert wie Fragen, wie sich das Verhältnis der USA zu China entwickelt und wie die USA in zentralen Menschheitsherausforderungen, von Klimawandel über Pandemien bis hin zu digitalen Bedrohungen, unter Biden oder Trump voraussichtlich agieren werden und welche Konsequenzen sich damit für eine deutsche und Europäische Politik verbinden.
Nicht zuletzt wollen wir auch fragen, wer sich als Nachfolger für eine Führungsmacht in der Weltordnung in Position bringt oder bringen kann, was das für Voraussetzungen hat und mit welchen Szenarien es für die Vision einer neuen Weltordnung einhergeht. Lange hieß es, ein so mächtiger Staat, wie die USA, könne sich nur selbst besiegen. Vielleicht werden wir gerade Zeugen genau dieser Entwicklung: des Abstiegs einer liberalen Führungsmacht. In den kommenden Wochen wird die Blogserie genau das kritisch beleuchten.