Barriere in Belfast, die katholische und protestantische Wohngebiete vor wechselseitigen Übergriffen schützen soll
Belfast West - Wall Murals | Foto: Dongyi Liu | CC BY-NC 2.0

„Die Elastizität des nordirischen Friedens wird gerade sehr gedehnt.“ Ein Interview mit Bernhard Moltmann

Seit Unterzeichnung des Belfast-Abkommens am 10. April 1998 wird der jahrhundertelange Streit um den nordöstlichen Teil der irischen Insel, das heutige Nordirland, nicht mehr kriegerisch ausgetragen. Die letzten 20 Jahre waren dabei zwar gewaltlos, aber nicht konfliktfrei. Nach wie vor wird der Frieden in Nordirland immer wieder auf die Probe gestellt: Die unionistisch-loyalistische Seite will die Bindungen an Großbritannien aufrechterhalten, die nationalistisch-republikanische die britische Dominanz beenden und perspektivisch die Insel vereinigen.

Herr Moltmann, wie stabil ist der Frieden in Nordirland im Moment?

Seit 20 Jahren gilt das Belfast-Abkommen, auch bekannt als das „Karfreitagsabkommen“. Auf dem Papier herrschen also seit zwei Jahrzehnten Frieden und Gewaltlosigkeit. Die Menschen können sich heute sicher in Nordirland bewegen. Ein Friedensabkommen ist aber immer nur so stabil, wie es sich in kritischen Momenten dehnen lässt, ohne zu zerbrechen. Aktuell wird in Nordirland die Elastizität des Karfreitagsabkommens auf die Probe gestellt.

Noch immer gibt es unter anderem in Belfast rechtsfreie Räume, in denen republikanische und unionistische Gruppen ihre eigenen Konflikte in Form von Banden- und Drogenkriegen austragen. Die Zahl und Höhe der Beton- und Stahlbarrieren, die katholische und protestantische Wohngebiete vor wechselseitigen Übergriffen schützen sollen (“peace walls“), sinken nicht. Außerdem stellt die politische Entwicklung in den letzten 14 Monaten die Elastizität des Friedensabkommens auf den Prüfstand: Seit Januar 2017 arbeitet keine der von beiden Lagern getragene Exekutive. Die Legislative ist seit den Neuwahlen im März 2017 inaktiv. Nordirland wird derzeit von Beamten unter Aufsicht einer britischen Ministerin verwaltet. Die im Belfast-Abkommen vorgezeichnete Strategie, durch Demokratisierung einen Frieden zu erreichen, zeigt nicht mehr die einst erhoffte integrierende Wirkung.

Frieden muss auch immer als ein Prozess betrachtet werden und jahrhundertelang währende Konflikte lassen sich nicht innerhalb von 20 Jahren aufarbeiten. Momentan beobachte ich, dass der Geist des Abkommens und die Aufarbeitung der Konflikte ins Stocken geraten sind. Die in Politik, Öffentlichkeit und Medien geführten Diskussionen sind beliebig geworden. Politiker, die vor zwanzig Jahren den Friedensprozess aktiv angestoßen und gestaltet haben, treten ab. Die Nachfolger erben zwar die Geschichte des Konflikts, aber nicht den Willen des Aufbruchs. Umso halsstarriger vertreten sie ihre Positionen. Kompromisse fallen ihnen schwer.

England will die EU verlassen. Welche Auswirkungen hat das für den Frieden in Nordirland?

Der aufgebrochene Streit zwischen Gegnern und Befürwortern der EU fördert die Polarisierung zwischen Unionisten und Nationalisten: Beide Seiten sind wieder lauter geworden. Zusätzlich wird das politische Klima dadurch vergiftet, dass die Partei, die im unionistischen Lager die Führung innehat, aber nicht den mehrheitlichen Willen der nordirischen Bevölkerung zugunsten eines EU-Verbleibs repräsentiert, jetzt der britischen Regierung und ihrer Politik zu einer Stimmenmehrheit im britischen Unterhaus verhilft. Das wichtigste Ziel der Partei ist, die Union zwischen Großbritannien und Nordirland zu erhalten. Dabei ist es unbedeutender, dass ein Brexit dem Wohlergehen der Menschen in Nordirland großen Schaden zufügen wird und die Friedensstrategie des Belfast-Abkommens unterminiert.

Mit dem Brexit wird es voraussichtlich wieder eine „harte“ Grenze auf der irischen Insel geben: zwischen einem EU-Mitglied, der Republik Irland, und einem „Drittstaat“, Großbritannien und seinem Landesteil Nordirland. Jede Grenze mit Kontrollen, Posten und Polizei ist ein potenzielles Angriffsziel für politisch motivierte Gewalttäter. Mit dem Vollzug des Brexit und auf dem Weg dorthin sind weitere Konflikte vorprogrammiert.

Was ist Ihr Wunsch an die englische oder nordirische Politik, um den Frieden in Nordirland nicht zu gefährden?

Ich habe drei Wünsche. Als Erstes wünsche ich mir, dass die nordirischen Parteien ihre starren Positionen aufbrechen und ihre sogenannten „tribal silos“ verlassen. Das beginnt schon bei den Strukturen der Parteien: Ich wünsche mir, dass Frauen in nordirischen Parteien nicht nur im Vordergrund stehen, sondern tatsächlich mehr zu sagen haben. Die Parteien sollen sich außerdem um die gesellschaftliche Mitte bemühen, also um diejenigen mit einer moderaten politischen Meinung, die weder ausgeprägt unionistisch oder nationalistisch orientiert sind. Aktuell bedienen die Parteien mit ihren Botschaften und ihrem Handeln nur ihr angestammtes Klientel.

Mein zweiter Wunsch richtet sich an die englischen und nordirischen Brexit-Befürworter, dass sie ihre exkludierende und damit verengte Perspektive auf die nationalstaatliche Souveränität aufgeben. Das Eindrucksvolle am Karfreitagsabkommen war auf der einen Seite, den wechselseitigen Respekt vor unterschiedlichen Positionen zur Grundlage der praktischen Kooperation zu machen. Auf der anderen Seite hat das Abkommen die Frage der Staatsbürgerschaft von der Territorialität gelöst: Den Nordiren steht frei, ob sie britische, irische oder gar beide Pässe besitzen. Schließlich hatte der nordirische Friedensprozess zu einem entspannten anglo-irischen Verhältnis geführt und so eine historische Erblast zwischen Irland und Großbritannien abgetragen. Das Belfast-Abkommen stellte die britische Hoheit über Nordirland nicht in Frage, räumte aber der irischen Seite eine Mitwirkung bei Angelegenheiten ein, die die irische Insel als Ganze betreffen. Diese Leichtigkeit ist nun verloren gegangen.

Und dann wünsche ich mir drittens, dass bei den englischen Brexit-Befürwortern ein Sinn für die Realität einkehrt. Sie sollten nach Nordirland reisen, so wie es etwa Politikerinnen und Politiker aus dem EU-Kontext getan haben. Sie sollten sich die Wirklichkeit vor Ort selbst anschauen, um über Nordirland nicht nur aus der Ferne zu sprechen, sondern die Situation auch angemessen einschätzen zu können.


Das Interview führte Vera Klopprogge.

 

Ausgewählte Publikationen von Bernhard Moltmann

Moltmann, Bernhard (2017): Nordirland: Das Ende vom Lied? Der Friedensprozess und der Brexit, HSFK-Report Nr. 4/2017, Frankfurt/M.

Moltmann, Bernhard (2017): Nordirland (Neubearbeitung), Dossier Innerstaatliche Konflikte, Bundeszentrale für politische Bildung, 15.11.2017.

Moltmann, Bernhard (2017): Nordirland: Konflikte, kollektive Identitäten und die Suche nach Authentizität, in: Christophe, Barbara/Kohl, Christoph/Liebau, Heike (eds), Geschichte als Ressource. Politische Dimensionen historischer Authentizität, Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 275–313.

Bernhard Moltmann
Bernhard Moltmann ist assozierter Forscher im Programmbereich "Innerstaatliche Konflikte" mit den Arbeitsschwerpunkten Nachbürgerkriegsgesellschaften (Fall: Nordirland), deutsche Rüstungsexportpolitik und Friedensethik.

Bernhard Moltmann

Bernhard Moltmann ist assozierter Forscher im Programmbereich "Innerstaatliche Konflikte" mit den Arbeitsschwerpunkten Nachbürgerkriegsgesellschaften (Fall: Nordirland), deutsche Rüstungsexportpolitik und Friedensethik.

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