Immer häufiger ist bei ExtremistInnen die Rede von einer „Online-Radikalisierung“: Das Internet wird immer wieder als wichtiger Faktor in Radikalisierungsprozessen genannt. Dennoch ist über die Interaktion zwischen virtueller und realer Welt und die Wirkung von Online-Kommunikation in Radikalisierungsprozessen wenig bekannt. Dieser Beitrag beleuchtet kurz wesentliche Erkenntnisse hierzu und stellt auf Basis erster Erkenntnisse aus unserer Forschung drei Thesen zum Stellenwert von Online- und Offline-Faktoren in Radikalisierungsprozessen auf.
Längst sind die virtuelle Welt und mit ihr soziale Medien, Netzwerke und Videoportale zu einem festen Bestandteil unserer heutigen Lebenswelt geworden. Sie ermöglichen uns eine schnelle Informationsbeschaffung und dienen zur unmittelbaren Kommunikation. Doch dies hat auch seine Schattenseite. Viele terroristische Gruppierungen nutzen den digitalen Raum zur Vermittlung ihrer Botschaften. Sie mobilisieren – insbesondere junge – Menschen gezielt über soziale Medien, Websites, Foren und Online-Zeitschriften. Dass die Möglichkeiten des Internets eine Rolle in Radikalisierungsprozessen spielen, ist weitgehend unumstritten. Die Details sind jedoch unklar.
Was wissen wir über die Verschränkung der Online- und Offline-Welt?
Unstrittig ist, dass Radikalisierung ein Prozess ist, der durch viele Faktoren bestimmt wird. Insbesondere das soziale Umfeld und soziale Kontakte werden oft zu den wichtigsten Einflussfaktoren im Radikalisierungsprozess gezählt. Sie werden längst offline und online gepflegt. Gerade Jugendliche, die aufgrund ihrer lebensphasenspezifischen Charakteristika besonders anfällig für die Hinwendung zu radikalen Diskursen sind, bewegen sich mit absoluter Selbstverständlichkeit im digitalen Raum. Umso mehr verwundert es, dass es an empirisch fundiertem Wissen zum Zusammenhang von online und offline in Radikalisierungsprozessen weiterhin mangelt. Es existieren zwar viele theoretische Abhandlungen, diese sind jedoch nicht systematisch überprüft. Dieser Mangel kann unter anderem auf die Schwierigkeiten im Forschungszugang sowie auf datenschutzrechtliche Hürden zurückgeführt werden.
Über Angebotsstrukturen im Internet und über die Art, wie extremistische Organisationen diese für ihre Zwecke nutzen, ist bereits recht viel Wissen vorhanden. Webseiten, Foren, Videoplattformen und insbesondere soziale Netzwerke werden zur Gewinnung/Rekrutierung neuer Mitglieder genutzt. Welchen Einfluss dies jedoch auf die Radikalisierungsprozesse der KonsumentInnen ausübt, ist weniger untersucht.
Zudem sind einige eher konzeptionelle Studien vorzufinden, die jede Stufe eines Radikalisierungsprozesses als Ausdruck bestimmter Bedürfnisse, die durch ein bestimmtes Online-Verhalten und bestimmte Online-Inhalte befriedigt werden können, darstellen. In einer frühen Phase der Radikalisierung werden beispielsweise aus Neugier oder aufgrund bestimmter Fragen extremistische Webseiten besucht.
Nur wenige Studien beziehen sich explizit auf die Frage, inwiefern Online-Aktivitäten in Radikalisierungsprozessen unterstützend wirken. Hier wird gezeigt, dass die unterstützende Wirkung vor allem bei der ersten Kontaktaufnahme bei Rekrutierungsprozessen und bei der Informationsbeschaffung im Vorfeld von Straftaten eine Rolle spielt. Dies gilt insbesondere bei der ersten Kontaktaufnahme. Generell wird die Bedeutung des Internets insbesondere zu Beginn von Radikalisierungsprozessen hoch eingeschätzt und es wird vermutet, dass diese im weiteren Verlauf jedoch abnimmt.
Ausgehend von den bisherigen Kenntnissen lässt sich festhalten, dass beide Lebensbereiche sich gegenseitig bedingen und bereits seit Längerem nicht mehr als getrennte Sphären gedacht werden können. Doch weitere Forschung ist dringend notwendig, um die genauen Mechanismen, durch die das Internet auf Radikalisierungsprozesse einwirken, besser zu verstehen.
Empirische Erkenntnisse zum Zusammenspiel online und offline
Online- und Offline-Welt wirken wechselseitig und in beide Richtungen: Aus der virtuellen Welt heraus ergeben sich realweltliche Beziehungen und genauso werden realweltliche Begegnungen durch die Nutzung sozialer Medien fortgeführt und/oder aufrechterhalten. In welchem Raum (online/offline) die Beziehung zwischen Gruppen oder Individuen letztendlich hergestellt wird und in welchem Raum sie ihren hauptsächlichen Verlauf einnimmt, kann variieren. Obwohl sich somit keine Formel ableiten lässt, wie sich die analoge und digitale Welt gegenseitig bedingen, können durchaus Thesen aufgestellt werden, die über die Nutzungsform beider Welten in bestimmten Phasen einer möglichen Radikalisierung Aufschluss geben:
- Online und offline bedingen sich immer: Aufgrund der Digitalisierung des Alltags und der engen Verbindung von virtuellem und realweltlichem Handeln, vollziehen sich Radikalisierungsprozesse immer in beiden Räumen. Dies bestätigen sowohl Gerichtsakten und Online-Profile von gewaltvoll Radikalisierten als auch Beobachtungen von salafistischen Akteuren. Realweltweltliche Akteure in Form von Individuen, Gruppen, Vereinen etc. nutzen soziale Medien, um beispielsweise für ihre Veranstaltungen, Seminare oder Events zu werben. Umgekehrt zeigen Facebook-Profile, wie politische oder gesellschaftliche Ereignisse in sozialen Medien Diskurse erzeugen und somit Radikalisierung vorantreiben. In diesem Sinne kann nicht von einer „Online-“ oder „Offline-“ Radikalisierung gesprochen werden.
- Soziale Medien sind für den realweltlichen Erstkontakt von hoher Relevanz: Die virtuelle Welt wird zur Aufsuchung von Kontaktpersonen und Gleichgesinnten genutzt. Hieraus können realweltliche Beziehungen resultieren. Zur Verabredung bedienen sich UserInnen nicht nur der Nachrichten-, sondern auch der Kommentarfunktion. Teilweise lässt das Geschriebene vermuten, dass sich die Personen in der Realwelt bisher noch nicht begegnet sind. Eine ähnliche Gesinnung, die in der virtuellen Welt anhand von Posts, Kommentaren und Like-Angaben Ausdruck findet, empfinden die UserInnen als ausreichend, um sich zu einem Treffen zu verabreden. Den Interessierten werden zur Kontaktaufnahme mehrere soziale Medien wie einen YouTube-Kanal, eine Facebook-Seite, einen Twitter-Kanal oder einen Telegram-Kanal von islamistischen Akteuren zur Verfügung gestellt. Diese sozialen Netzwerkkanäle werden einerseits genutzt, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen, aber auch um gleichzeitig von SympathisantInnen erreicht zu werden. Für eine direkte Kontaktaufnahme wird oft auf Facebook oder auf WhatsApp verwiesen. Die Multifunktionalität von sozialen Netzwerken sowie die niedrige Hemmschwelle bei der Kontaktaufnahme ermöglichen es somit erst, relevante Beziehungen für den weiteren Radikalisierungsverlauf herzustellen.
- Je radikaler, desto verschlüsselter und geschlossener die Kommunikation: Im Laufe von Radikalisierungsprozessen wandelt sich die Nutzungsform sozialer Medien. Während zu Beginn von Radikalisierungsprozessen oft die Kommentarfunktion in Facebook genutzt wird, um die eigene Meinung zu vertreten oder Fragen an andere UserInnen zu stellen, verlagert sich die Kommunikation mit zunehmender Radikalisierung in geschlossene oder geheime Gruppen, auf die nur ein ausgewählter Personenkreis Zugriff hat. Auffallend ist auch, dass über Facebook Kontakt zu Gleichgesinnten geknüpft wird und dieser anschließend über andere soziale Medien zu intensiveren Kommunikationszwecken genutzt wird. So lassen sich auf Facebook-Profilen beispielsweise oftmals Verlinkungen zu Telegram-Kanälen finden. Instant Messenger wie WhatsApp, Telegram, Threema und Signal, die eine verschlüsselte Kommunikation ermöglichen, werden vermehrt zur Aufrechterhaltung und Intensivierung des Kontakts – und somit im weiteren Verlauf des Radikalisierungsprozesses – genutzt. Die Nutzungsart sozialer Medien wird zudem auch durch konkrete Aufforderungen von Schlüsselpersonen beeinflusst. Von dschihadistischen Gruppen gibt es Aufforderungen an ihre AnhängerInnen, wie sich diese online verhalten sollen, um sich „unter dem Radar“ zu bewegen.
Radikalisierung ist vielschichtig
Weder gibt es online ohne offline noch offline ohne online: Radikalisierung ist ein vielschichtiger Prozess und alle Personen – somit auch Radikalisierte – besitzen ein soziales Umfeld in der Realwelt und agieren in beiden Sphären. Online-Aktivitäten spielen insbesondere beim Erstkontakt, der Mobilisierung und der Kommunikation eine wichtige Rolle. Soziale Kontakte in der Realwelt hingegen sind vor allem für die Verfestigung der Ideologie von Relevanz. Virtuelle Aktivitäten und realweltliche Bedingungen wirken in Radikalisierungsprozessen zusammen. Der Einfluss beider sozialer Räume kann je nach persönlicher Biografie der Person variieren.
Um präventive Maßnahmen bzw. alternative Narrative zu entwickeln oder anzupassen, muss ein fundiertes Wissen über die Nutzung sozialer Medien in Radikalisierungsprozessen generiert werden. Zu diesem Zweck bedarf es weiterer empirischer Analysen und systematisch erzielter Erkenntnisse im islamistischen Referenzmilieu und in weiteren Feldern der Radikalisierung. Nur so kann die Radikalisierung weiterer Personen verhindert werden.