Worauf beruht die Chance, dass globale Normen und Regelwerke von Staaten und Sicherheitsorganisationen auf regionaler Ebene befolgt werden? Diese Frage steht im Zentrum der Diskussion um globales Regieren. Sie stellt sich jüngst drängender, weil neuere Entwicklungen den Eindruck nahelegen, zentrale Staaten in der nicht-westlichen Welt seien im Begriff, sich von den liberalen Institutionen des globalen Regierens zu verabschieden. Empirische Forschung zum Verhalten Südafrikas und der Afrikanischen Union zeigt, dass sich diese Skepsis in der Wahrnehmung mangelhafter prozeduraler Gerechtigkeit begründet. Für erfolgreiches globales Regieren muss zunächst diese Voraussetzung eingelöst werden.
Dieser Blogpost beruht auf Matthias Dembinski (2016) Procedural justice and global order: Explaining African reaction to the application of global protection norms, in: European Journal of International Relations | open access bis 20.11.2017.
Kritik afrikanischer Staaten an globalen Normen
In den letzten Jahren erregte insbesondere die Kritik afrikanischer Staaten und Organisationen an der Norm der Schutzverantwortung – Responsibility-to-Protect – nach ihrer Anwendung in Libyen große Aufmerksamkeit. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt die ähnlich gelagerte Kritik an der Norm der internationalen Strafgerichtsbarkeit, die sich nach dem Vorgehen des Internationalen Strafgerichtshofes gegen den sudanesischen Präsidenten al Bashir Bahn brach. Diese Kritik wiegt umso schwerer, als sich die Hoffnung, liberale Grundnormen des globalen Regierens würden auch jenseits der westlichen Welt Wurzeln schlagen, auf die ursprüngliche Zustimmung der Afrikanischen Union zur Schutzverantwortung und Strafgerichtsbarkeit stützte. In beiden Fällen begründeten afrikanische Staaten ihre Abkehr von diesen Normen mit dem Vorwurf der Selektivität und doppelter Standards bei ihrer Anwendung.
Dem Vorwurf, beim globalen Regieren ginge es ungerecht zu, steht die westliche Politik und die Wissenschaft bisher ratlos oder skeptisch gegenüber. Die Politik interpretiert diese Kritik als rhetorische Nebelkerzen, mit denen afrikanische Potentaten von ihrer Verantwortung ablenken wollen. Die bisherigen wissenschaftlichen Antworten auf die Frage, warum sich afrikanische Staaten nach ersten Anwendungsfällen gegen die von ihnen zuvor unterstützten globalen Normen wenden, kreisen um die Passgenauigkeit zwischen entstehenden globalen Normen und bestehenden regionalen Interessen und Praktiken. Danach bringen Konflikte über die Anwendung globaler Regeln bis dahin verborgene Differenzen über ihre substantielle Bedeutung an den Tag.
In einem Artikel für das European Journal of International Relations entwickle ich eine vollständigere Antwort auf diese Frage. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Rätsel unterschiedlicher afrikanischer Reaktionen auf sehr ähnliche Fälle der Anwendung globaler Schutznormen in Afrika. Während nämlich der 2011 im Namen der Responsiblity-to-Protect betriebene Sturz Gaddafis eine wütende afrikanische Kritik und den Vorwurf des Neo-Kolonialismus hervorrief, wurde der fast zeitgleiche Sturz des Präsidenten der Elfenbeinküste, Laurent Gbagbo, in Namen einer verwandten Schutznorm – der Verantwortung zum Schutz von Zivilisten bei Friedenseinsätzen – in afrikanischen Hauptstädten zustimmend oder zumindest stillschweigend zur Kenntnis genommen. In beiden Fällen hatte der Sicherheitsrat mit Zustimmung auch der afrikanischen Mitglieder als Reaktion auf die innergesellschaftlichen Konflikte die Staatengemeinschaft autorisiert, zum Schutz von Zivilisten militärisch einzugreifen. In beiden Fällen gingen die intervenierenden Parteien weit über das Mandat hinaus und betrieben den Sturz des amtierenden Regimes.
Prozedurale Gerechtigkeit als Voraussetzung für globales Regieren
Um diese unterschiedlichen Reaktionen zu erklären, macht der Beitrag Erkenntnisse der empirischen Gerechtigkeitsforschung in benachbarten Disziplinen wie der Sozialpsychologie fruchtbar. Sie zeigen, dass Akteure auf gerechte Behandlung mit pro-sozialem, auf ungerechte Behandlung aber mit destruktivem Verhalten reagieren. Wichtig ist weiterhin der Zusammenhang zwischen Verteilungsgerechtigkeit und prozeduraler Gerechtigkeit. Wenn Betroffene Einfluss auf die Verfahren haben, die zu Entscheidungen über die Verteilung von Gütern führen und sicher sein können, dass diese Verfahren fair sind und sie nicht übervorteilt werden, sind sie eher bereit, Verteilungsentscheidungen auch dann zu akzeptieren, wenn sie nicht ihren ursprünglichen Erwartungen entsprechen.
Diese prozedurale Gerechtigkeitsdimension erklärt die unterschiedlichen afrikanischen Reaktionen auf beide Fälle des erzwungenen Regimewechsels. Im Fall Libyen stimmten alle afrikanischen Vertreter im Sicherheitsrat der die Gewaltanwendung autorisierenden Resolution 1973 zu. Bei der Umsetzung dieser Resolution wurde dann aber die Afrikanische Union von der westlichen Koalition ausgebootet und daran gehindert, ihre Vorstellungen einer friedlichen Kompromisslösung auszuprobieren. Im Fall der Elfenbeinküste war die Afrikanische Union hingegen voll in die Umsetzung einer entsprechenden Resolution einbezogen. Als Vertreter der AU feststellen mussten, dass ihre Suche nach einer friedlichen Lösung des Konfliktes an der intransigenten Haltung von Präsident Gbagbo scheitert und es lediglich die Alternative zwischen seinem gewaltsamen Sturz oder einem Bürgerkrieg gibt, gaben sie den französischen und UN-Truppen grünes Licht für den Sturz Gbagbos.
Der Vergleich zeigt, dass die Anfechtung der Normumsetzung in Libyen wesentlich durch eine als unfair wahrgenommene Marginalisierung afrikanischer Bemühungen durch die NATO und ihre Verbündeten motiviert war. Damit weist dieser Beitrag auf die Bedeutung von Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen hin. Gleichzeitig identifiziert er mit der prozeduralen Gerechtigkeit eine von der Forschung bisher übersehene Legitimationsressource, die darüber entscheidet, ob regionale Akteure globalen Normen und Regeln Folge leisten.
Weitere Informationen zum HSFK-Forschungsprogramm „Just Peace Governance“ finden sich hier.