Mit jedem neuen terroristischen Anschlag stellt sich der Öffentlichkeit aufs Neue die Frage nach den sichtbaren Erfolgen der Extremismusprävention. Kritische Beobachter sehen in der weiterhin hohen Anzahl von Salafisten und islamistischen Gefährdern (mittlerweile auch Gefährderinnen) jetzt schon ein Anzeichen für das Scheitern von Prävention und Integration. Es besteht die Gefahr, dass sich dieser Eindruck noch verstärkt, wenn die wissenschaftliche Begleitung von Programmen der Extremismusprävention Fragen nach deren Wirksamkeit weiterhin vermeidet. Das Ergebnis wäre eine ideologisch aufgeladene öffentliche Diskussion über den Sinn und Zweck der staatlich geförderten Prävention von Radikalisierung und Extremismus. Wenn in einem solchen Meinungsklima Fachleuten aufgrund mangelnder Forschungserkenntnisse die passenden Argumente fehlen, werden sich in Zukunft populistische Vorstellungen über den Umgang mit Extremisten leichter durchsetzen können.
Gesellschaftliche Verantwortung
Die Prävention gewaltbereiter Radikalisierung ist eine Frage der inneren Sicherheit sowie des gesellschaftlichen Friedens und damit auch eine Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. Damit unsere Gesellschaft in Zukunft von den Erfolgen der heutigen Programme profitieren kann, müssen wir besser verstehen, wie die Prävention von Radikalisierung das Leben einzelner Personen, Familien, Gruppen und Gemeinden in ihren jeweiligen sozialräumlichen Zusammenhängen verändert. Diese langfristige und gesamtgesellschaftliche Perspektive ist es, die die staatliche Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure in diesem Bereich legitimiert.
Auch die Wissenschaft trägt dabei eine Verantwortung. Sie kann bei einer entsprechenden Ausrichtung ihrer Forschungsprogramme Ursachen für die Entstehung politischer Gewalt erforschen. Unter welchen politischen, ökonomischen, psychologischen und sozialräumlichen Umständen entwickeln Menschen immer konkreter werdende Absichten für den Einsatz von Gewalt zu religiösen oder politischen Zwecken? Unter welchen Bedingungen entscheiden sich Personen für konforme Ausdrucksformen des politischen Protests und eigener persönlicher Krisen? Extremismusprävention versucht die individuellen und strukturellen Bedingungen für die Hinwendung zu und Abwendung von militanter Gewalt gezielt zu beeinflussen. Dahinter stehen die kühne Auffassung moderner Staaten, dass die Geschicke der Gesellschaft sozialplanerisch lenkbar seien, sowie die Erwartung dass sich der Staat effektiv gegen die Bedrohung durch den Terrorismus schützen kann.
Bisher verstehen wir die Funktionsweise sozialplanerischer Programme in diesem Bereich nicht ausreichend. Das gilt insbesondere für die Prävention von dschihadistischer Radikalisierung. Für die Allgemeinheit ist dieser Präventionsbereich besonders undurchsichtig und Zweifel an seiner Wirkung können aufgrund mangelnder Forschungsdaten bisher nicht ausgeräumt werden. Das birgt eine Gefahr für die Programme selbst, denn in Fragen der inneren Sicherheit genießen repressive Maßnahmen in weiten Teilen der Öffentlichkeit einen Vertrauensvorschuss gegenüber weicheren Präventionsansätzen, wie z.B. Ansätze zur Stärkung der Ambiguitätstoleranz. Das Verhältnis von Gefahrenabwehr, Repression und Prävention kann sich verschieben, wenn die Politik unter öffentlichem Druck kurzfristig auf entsprechende Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung reagieren muss.
Praxisorientierte Präventionsforschung
Im „Nationalen Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus“ ist die Idee der Wissens- und Evidenzbasierung fest verankert mit dem Ziel die „Wirksamkeit der Extremismusprävention zu erhöhen“. Deutschland verfügt über leistungsstarke Forschungsstrukturen und damit über eine wesentliche Voraussetzung, um soziale Probleme wissens- und evidenzbasiert zu adressieren. Einrichtungen der Spitzenforschung sollten sich zu diesem Zweck stärker als bisher an Studien beteiligen, die empirisch untersuchen, wie staatliche Programme gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen, unter anderem auch in Hinblick auf die Innere Sicherheit und sozialen Zusammenhalt.
Es versteht sich von selbst, dass der Zusammenhang zwischen komplexen Praxisfeldern (Prävention) und abstrakten politischen Vorstellungen (Innere Sicherheit) vielschichtig ist, graduell verläuft und sich erst über längere Beobachtungszeiträume äußert. Dies ist jedoch keine Ausrede, um Fragen nach der Wirksamkeit von Präventionsprogrammen auszuweichen. Gleichzeitig müssen sich Programmverantwortliche von der Vorstellung verabschieden, dass man eine solide wissenschaftliche Begleitung zur Erforschung dieser Zusammenhänge beiläufig, kurzfristig und ohne entsprechend spezialisiertes wissenschaftliches Personal leisten kann. Wirkungsevaluationen zählen zu Recht zu den anspruchsvollsten Varianten von Evaluation.
Für die wissenschaftliche Begleitung gilt dabei das Gleiche wie für die Programme selbst: Mehr Geld alleine führt nicht automatisch zu besserer Forschung. Evaluation ist für Spitzenforscher/innen aus vielen Gründen häufig nicht besonders attraktiv. Die Verfügbarkeit von Daten, der Zugang zum Feld, Ergebnisoffenheit der Studie und die Möglichkeit, deren Ergebnisse hochklassig zu publizieren, beeinflussen die Bereitschaft von führenden Forschungseinrichtungen, sich im Bereich Evaluation zu betätigen. Von ihnen hängt es aber maßgeblich ab, ob wir neue und wegweisende Erkenntnisse über die Funktionsweise und Wirksamkeit von Maßnahmen der Extremismusprävention gewinnen können.
Der Hype um Wirkung und Evidenz
Die Frage nach der Wirkung von Prävention ist unbequem. Sie stellt Programmverantwortliche, Fachkräfte und evaluierende Forscher/innen vor neue Herausforderungen. Ungeachtet der teilweise ablehnenden Haltung gegenüber „Evidenzbasierung“ hat sich diese Forderung in den letzten Jahren in vielen Politik- und Praxisfeldern trotzdem weiter durchgesetzt. Ob es uns gefällt oder nicht: Die Frage nach den sichtbaren Erfolgen der Extremismusprävention steht nach wie vor unbeantwortet im Raum. Oppositionsfraktionen und Kritiker/innen staatlicher Förderprogramme stellen sie heute fast schon reflexartig, um politischen Druck aufzubauen. Dass sich die Antwort nicht von heute auf morgen finden lässt, ist Teil ihres Kalküls.
In dieser teilweise angespannten öffentlichen Debatte nützt es wenig, die Idee der Evidenzbasierung grundsätzlich abzulehnen und gegen sie zu argumentieren. Es ist umsichtiger, sie im Rahmen realistischer Möglichkeiten anzuwenden, um mehr Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie großangelegte Förderprogramme im Bereich Extremismus und Radikalisierung Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die innere Sicherheit nehmen.
Liefert die Wissenschaft keine Antwort auf die Fragen nach der Wirksamkeit, tun es andere. Losungen wie „Wegsperren für immer“, „Ende der Verständnispädagogik“ oder Forderungen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe sind typische Reaktionen von weiten Teilen der Öffentlichkeit auf sogenannte „signal crimes“ (bspw. Sexualstraftaten), zu denen auch der islamistische Terrorismus zählt. Wenn Fachleuten in einem solchen Meinungsklima aufgrund mangelnder Forschungserkenntnisse die passenden Argumente ausgehen, dann wird es schwer, dem Wähler den Nutzen nachhaltiger Präventionskonzepte zu verdeutlichen.